Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

GESUNDHEIT


Das vergessene Organ


Sehr viele Menschen leiden unter Nierenproblemen. Aber es gibt kaum Forschung zu diesen Erkrankungen.


Ein Medizinerpaar will das jetzt ändern VON HARRO ALBRECHT


Nur ein handtellergroßes weißes Pflaster auf dem
linken Oberarm verrät etwas, ansonsten wirkt die junge
Frau kerngesund. Es ist Sommer, die 26-Jährige trägt
ein ärmelloses Hemd. Ihr Teint ist leicht gebräunt, sie
lacht. Doch Janina Tesch ist chronisch krank, hat be-
reits eine Spenderniere. Gerade kommt sie von ihrem
regelmäßigen Blutfiltertermin.
Janina Tesch ist an diesem Tag zu Gast im altehr-
würdigen Gebäude der Anatomie der Universität
Greifswald. Dort will das Mediziner-Ehepaar Nicole
und Karlhans Endlich die Grundlagenforschung auf
dem Gebiet der Nierenerkrankungen voranbringen.
Die Nieren haben in den Universitäten keine starke
Lobby und sind bei einem Großteil der Bevölkerung
das vergessene Organ. Dabei leben nach Angaben der
Deutschen Gesellschaft für Nephrologie in Deutsch-
land rund neun Millionen Menschen mit Nieren-
schäden. Schätzungsweise zwei Millionen von ihnen
bräuchten eine Behandlung, aber weil Nieren nicht
schmerzen, ahnen die meisten nichts von ihrem Pro-
blem. Auch das wollen die Endlichs ändern.
20 Jahre lang hat das Ehepaar an Nieren geforscht,
sie haben ihre wissenschaftlichen Leben an das Organ
geknüpft. Doch für die Patienten, sagen sie, hat sich
trotz vieler Erkenntnisse noch viel zu wenig verbessert.
Dafür bräuchte es einen breiteren Ansatz. Jetzt setzt
das Paar alles daran, dass dieses vergessene Organ end-
lich zu seinem Recht kommt. Die beiden Anatomen
wollen herausfinden, warum in Mecklenburg-Vor-
pommern fast doppelt so viele Menschen mit Nieren-
schäden leben wie im deutschen Durchschnitt, und
sie wollen verstehen, wie man geschädigten Nieren
besser helfen kann. Für dieses Projekt spendet Janina
Tesch Blut, es könnte Antworten auf drängende
Fragen geben.

Quellen


Zur Gesundheit in Vorpommern:
»Study of Health in Pomerania«,
Bundesgesundheitsblatt, 2012

Zum zufällig entdeckten Medikament:
»Canagliflozin and Renal Outcomes in Type 2
Diabetes and Nephropathy«, NEJM, 6/2019

Zur Häufigkeit von Nierenschäden:
»Prävalenz der eingeschränkten Nierenfunktion«,
Deutsches Ärzteblatt, 2016

Links zu diesen und weiteren Quellen
auf ZEIT ONLINE unter
zeit.de/wq/2019-41

Die Krankheitsgeschichte der jungen Frau be-
gann, als sie 18 Jahre alt war. »Ich wachte eines
Morgens auf und hatte ganz dicke Füße«, erinnert
sie sich. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie gesund ge-
wesen. Wenn sich die Haut eindrücken lasse, sagte
ihr die Hausärztin, dann sei es wohl eingelagertes
Wasser. Also bekam Tesch entwässernde Tabletten,
doch diese halfen nicht. Nieren filtern nicht nur
Abbauprodukte des Stoffwechsels aus dem Blut,
zum Beispiel von Eiweißen, sie sind auch zentral für
die Regulation des Wasserhaushaltes. Wasser in den
Füßen schon am frühen Morgen kann auf Störungen
hinweisen. Irgendwann ließ sich Tesch ins Greifs-
walder Krankenhaus einweisen, wo die Ärzte eine
Gewebeprobe aus der Niere entnahmen. Aus dem
Verdacht wurde eine Diagnose mit einem kom-
plizierten Namen: fokal-segmental sklerosierende
Glomerulonephritis, kurz FSSGN. »Damit wusste
ich nichts anzufangen«, sagt Janina Tesch.

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rst nach und nach begriff die Patientin,
dass die zentralen Filtereinheiten ihrer
Nieren, die Nierenkörperchen, aus un-
bekannter Ursache dauerhaft entzün-
det waren und die Organe vernarbten.
Das bedeutete vor allem eines: Ihr Leben würde
sich dramatisch ändern. Teschs spezielle Erkran-
kung ist selten, aber Nierenleiden insgesamt sind
weitverbreitet. Nach Schätzungen der Internatio-
nalen Gesellschaft für Nephrologie gibt es weltweit
etwa doppelt so viele Nierenkranke wie Diabetiker
und zwanzigmal so viele wie Krebskranke.
Wenn die Nieren nach Jahren oder Jahrzehnten
endgültig ihre Arbeit einstellen, hilft nur noch eine
Transplantation – oder eine Dialyse. In Deutschland

muss nicht sein.« Und drittens: Körpergewicht nied-
rig halten. Seit ein paar Jahren ist klar, dass zu viele
Pfunde den Nieren schaden. »Es ist nicht unbedingt
notwendig, dreimal am Tag zu essen«, sagt Möller.
Wer diese drei Ratschläge beherzige, habe gute Chan-
cen. »Ich sehe hier in der Ambulanz nieren kranke
Patienten, die das so machen und ihre gesunden
Partner überleben.« Das gelte auch für Patienten
mit sehr seltenen Nierenerkrankungen. »Hinter dieser
Lebensweise steckt auch das Geheimnis eines langen
Lebens, die Patienten profitieren also gleich doppelt!«

T


rotzdem sind bessere Medikamente
dringend nötig, um die Patienten vor
dem Schicksal einer dauerhaften Dia-
lyse zu bewahren. Möglich wäre das,
wie eine Studie in diesem Jahr zeigte.
Der Wirkstoff, ein sogenannter SGLT-2-Inhibi-
tor, konnte den Niedergang von geschädigten
Nierenkörperchen so gut verzögern, dass eine
Studie vorzeitig abgebrochen wurde, weil man
nicht verantworten konnte, einen Teil der Proban-
den nicht mit dem Medikament zu behandeln.
Das Mittel war ein Zufallsfund, eigentlich ging es
in der Studie um Diabetes.
Systematischer suchen die Wissenschaftler hinter
den Mauern der Greifswalder Anatomie nach hilf-
reichen Substanzen. Der Weg zu den Forschern führt
durch ein Foyer mit Schachbrettmuster-Boden, es
sieht aus wie in einem Historienfilm über Medizin im


  1. Jahrhundert. In den oberen Stockwerken der Ana-
    tomie ist eine umfangreiche Sammlung von Skeletten
    untergebracht. Die Insignien des neuen Medizinzeit-
    alters stehen in den Stockwerken darunter: modernste
    Apparaturen wie ein Superresolution-Mikroskop für
    die Untersuchung des feinen Röhren- und Filterwerks
    der Niere und im Keller Dutzende Aquarien, in denen
    winzige, fast durchsichtige Zebrafische schwimmen.
    Die Nierenkörperchen der kleinen Süßwasserfische
    ähneln denen der Menschen, und an gentechnisch
    veränderten Larven, die nur ein einziges Nieren-
    körperchen besitzen, lässt sich die Wirkung von gif-
    tigen und schützenden Substanzen gut studieren. Eine
    interessante hat die Medizinerin Nicole Endlich bereits
    identifiziert: »Aber das ist noch geheim.«


Viele Fragen zum vergessenen Organ Niere
sind noch ungeklärt. Offen ist zum Beispiel, wa-
rum besonders in Vorpommern so viele Menschen
geschädigte Nieren haben. Liegt es daran, dass die
Bevölkerung dort häufiger übergewichtig ist, mehr
Alkohol konsumiert und der Altersdurchschnitt
hoch ist? Oder sind bestimmte genetische Beson-
derheiten im Nordosten verbreitet? Für weitere
Erkenntnisse sind Kooperationen mit anderen
Universitäten unverzichtbar.
Die Greifswalder wollen jetzt ein nationales
Netzwerk Niere voranbringen – Kosten rund
zwölf Millionen Euro. Jan Galle, Pressesprecher
der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie, plä-
diert ebenfalls für ein »Leuchtturmprojekt der
Nephrologie«. Bundeskanzlerin Angela Merkel
persönlich sprach sich für das Projekt aus, und ihr
Büro leitete den Antrag an das Bundesministerium
für Bildung und Forschung (BMBF) weiter. »Dort
ging der Antrag verloren«, sagt Nicole Endlich.
Als die Anatomin das Papier noch einmal direkt
beim BMBF einreichte, hieß es lapidar, nun sei die
Antragsfrist verstrichen. Auf ihre Nachfrage erhielten
die Endlichs eine knappe Mitteilung der Bundes-
forschungsministerin Anja Karliczek: »Ich habe die
Fördermöglichkeiten in meinem Haus überprüfen
lassen und muss leider mitteilen, dass keine För-
derung des Gesamtkonzepts erfolgen kann.«
Die Forscherin Nicole Endlich sagt: Jetzt sei
die Niere nicht nur das vergessene, sondern auch
noch das ignorierte Organ. Und Patienten wie
Janina Tesch müssen noch länger auf bessere The-
rapien warten.

A http://www.zeit.de/audio


müssen etwa 90.000 Menschen zu dieser Blutwäsche,
bei der dreimal pro Woche über vier bis acht Stunden
das Blut über künstliche Membranen außerhalb des
Körpers geschickt wird, um Schadstoffe daraus zu
entfernen. Für die Betroffenen ein extrem anstren-
gendes Verfahren. »Manche, die labil sind, zieht das
ganz schön runter«, sagt Tesch, »wenn die Depres-
sionen kriegen, kann ich das voll verstehen.«
Die Patienten bemerken ihre Erkrankung oft erst,
wenn ihre Nieren bereits schwer geschädigt sind, und
Dialysen finden meist außerhalb der Universitäten
statt: Es sind zwei Gründe, warum dieses wichtige
Organ nicht im Blickfeld der Forschung liegt. Es
gibt deutsche Zentren der Gesundheitsforschung
für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, für Diabetes,
für neurodegenerative Erkrankungen, für Lungen-
erkrankungen und für Infektionen und Krebs. Aber
es existiert kein deutsches Zentrum für Nieren-
erkrankungen. 37 medizinische Fakultäten haben
Lehrstühle für Kardiologie, aber nur 17 Fakultäten
Lehrstühle für Nephrologie. Die Forschung für
Nierenmedikamente stagniert, und Patienten warten
vergeblich auf gezielte Therapien.
Die wären bitter nötig, denn viele Faktoren
ziehen die Nieren in Mitleidenschaft: dauerhaft
erhöhter Blutdruck, Diabetes, Autoimmunkrank-
heiten, starkes Übergewicht und ganz allgemein
das Altern. Eine Abwärtsspirale kommt in Gang.
Die zentralen Zellen für das Filtersystem, die Podo-
zyten, werden geschädigt. Im intakten Zustand
bilden sie verzahnte Schlitze, mit denen sehr kleine
Moleküle aus dem Blut gefiltert werden. Werden
sie beeinträchtigt, weichen sie auseinander oder
gehen zugrunde. Dann gelangen immer größere
Blutbestandteile wie Eiweiße in den Harn (und
sind dort nachweisbar). Die Nieren arbeiten auf
Hochtouren dagegen an – was weitere Podozyten
in den Tod treibt. Die filtrierte Blutmenge sinkt
weiter, wertvolle Substanzen im Blut gehen verlo-
ren, die das Gleichgewicht der Flüssigkeiten im
Körper aufrechterhalten. Bald strömt Wasser aus
den Blutbahnen in das Gewebe, und Schadstoffe
überschwemmen den Körper. Ist die Niere erst
einmal schwer getroffen, steigt das Risiko eines
vorzeitigen Todes ganz erheblich.
Wer diese Entwicklung möglichst früh erkennt,
kann dagegen ansteuern. Weil keine Nierenmedika-
mente existieren, behelfen sich die Ärzte damit, den
Blutdruck mit Tabletten unter Kontrolle zu bringen
oder den Zuckerspiegel einzustellen. Bei einer andau-
ernden Entzündung wie bei Janina Tesch versucht
man, das Immunsystem mit Kortison und sogar mit
Zellgiften in Schach zu halten. Doch diese grobe
Behandlung kann den Verlauf nur hinauszögern. Bei
der Hälfte der Patienten versagen die Nieren inner-
halb von zehn Jahren. »Ab 2016 musste ich an die
Dialyse«, sagt Tesch. »Meine Ausbildung zur Einzel-
handelskauffrau musste ich leider abbrechen.« Zwar
erhielt sie schon nach zwei Jahren eine Spenderniere,
damit aber war das Problem keineswegs beseitigt.
Weil ihr Körper offenbar weiter aggressive Substanzen
gegen Nieren produziert, müssen Teile ihres Blut
regelmäßig ausgetauscht werden. Unter dem Pflaster
an ihrem Oberarm befindet sich der dauerhafte
Zugang für diese sogenannte Plasmapherese.
Janina Tesch wirkt gut gelaunt, aber ihre Lage ist
schwierig. Weil man sie wegen ihrer Nierenerkran-
kung dazu gedrängt hat, hat sie sehr früh ein Kind
bekommen. Es war stark behindert, ein zweites, ge-
sundes folgte. Inzwischen hält sich Tesch mit einem
450-Euro-Job über Wasser, auch weil sie nicht mehr
arbeiten kann. Wie lange ihre Spenderniere funk-
tionieren wird, ist ungewiss. Sie hofft auf ein neues
Medikament. »Das wäre klasse. Hauptsache, da
kommt mal jemand voran.«
Das kann noch dauern. Auch deshalb sollte man
möglichst früh auf Veränderungen reagieren. Der
wichtigste Hinweis: Eiweiß im Urin. Ein einfacher
Teststreifen, in den Harn getunkt, reicht aus. Doch
leider tun das nur die wenigsten Ärzte. Gerade erst
wurde eine Kostenübernahme der Krankenkassen für
die Check-up-35-Untersuchungen abgelehnt. Die
Nierenforscher Nicole und Karlhans Endlich plä-
dieren deshalb dafür, solche Teststreifen an die
Patienten direkt auszugeben. Sollte eine einge-
schränkte Nierenfunktion festgestellt werden, lässt
sich auch ohne Medikamente gegensteuern.
Der erste Rat des Nephrologen: Salzkonsum dras-
tisch reduzieren. »Man sagt, dass dies nur bei einem
Drittel aller Menschen positiv wirkt, aber bei Men-
schen mit Nierenerkrankungen sind es 100 Prozent«,
sagt Marcus Möller von der Klinik für Nieren- und
Hochdruckkrankheiten, rheumatologische und im-
munologische Erkrankungen an der RWTH Aachen.
Sein zweiter Tipp: Eiweißkonsum auf ein normales
Maß beschränken. »Man muss nicht unbedingt
Vegetarier werden, aber jeden Tag tierisches Eiweiß

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Millionen Deutsche


leben mit


N Nierenschäden


Nieren filtern bis
zu 300-mal am
Tag die gesamte
Blutmenge eines
Menschen

Abb.: Alfred Pasieka/Science Photo Library


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