S
eit mehr als vier Jahrzehnten reißen
ihn dieselben Albträume aus dem
Schlaf: eine Bühne, davor eine wü
tende, johlende Menge. Großvater
kniet auf Glasscherben, auf dem
Kopf trägt er eine spitze Schand
haube mit der Aufschrift »Nieder
mit dem Konterrevolutionär Peng Fangcong!«.
Er wurde denunziert und geschlagen, mehr
mals entkam er knapp dem Hungertod. Mao stahl
ihm 20 Jahre seines Lebens – so lange leistete mein
Großvater Zwangsarbeit.
Heute, im Alter von 85 Jahren, ist er wieder
Fan der Partei. Patriot durch und durch.
»Schau, was unser Land geleistet hat«, sagt er, als
ich ihn in unserer Heimatstadt besuche. Es ist
Mondfest, Mitte September. Die Frau meines On
kels hat Melonen und Kuchen geschnitten. Wie
immer läuft der Fernseher: neuer Flachbildschirm,
55 Zoll, der Staatssender CCTV präsentiert mit
schmetterndem Pathos die abgeschlossenen Bau
arbeiten am neuen MegaFlughafen in Peking. Fa
brikneue Panzer und Kampfflugzeuge werden ge
zeigt – Manöverübungen für die große Parade zum
- Geburtstag der Volksrepublik China am 1. Ok
tober. Mein Großvater strahlt.
Bei fast jedem Thema, das von China handelt,
kriegen wir uns in die Haare. Die Proteste in Hong
kong: »Angestiftet vom amerikanischen Geheim
dienst«, sagt mein Großvater. Präsident Xi Jinping:
»Bodenständig, handfest, leistet mehr als seine Vor
gänger.« Die Wachstumsflaute: »Eine kleine Delle,
sonst nichts.« Der Handelskrieg mit den USA: »Sie
wollen unseren Aufstieg verhindern.« Als ich ein
wende, dass China Fehler begangen habe, lenkt er
ein wenig ein. »Das können einfache Leute wie ich
kaum beurteilen. Wir kennen die Details nicht.«
Ich habe lange gebraucht zu verstehen, wie das
sein kann. Wie ist es möglich, dass ein Mann wie
mein Großvater heute wieder der Propaganda eines
Systems glaubt, das ihn einst verfolgt, gedemütigt
und körperlich geschunden hat? Einer Propaganda
zumal, deren Lügen er einst selbst entlarvte?
Mein Großvater hat alles erlebt, was in 70 Jahre
China passt: Als Mao Zedong 1949 vom Balkon
am Tor des Himmlischen Friedens die kommunis
tische Volksrepublik ausrief, war er 15 Jahre alt und
hatte sich gerade begeistert den Rekruten der Mi
litärschule der Zweiten Feldarmee angeschlossen.
Ein abgemagerter Bauernjunge, dem die Armee
jacke bis zu den Knien hing. Als Kind, das mitten
in den Bürgerkrieg hineingeboren wurde, hatte er
sich von Baumrinde und rohen Schnecken ernährt.
Er wurde glühender Kommunist. Dann kritisierte
er als Redakteur der lokalen Propagandazeitung
unserer Heimatstadt Maos Politik des Großen
Sprungs, die China mit aller Gewalt industrialisie
ren sollte. Die Partei erklärte ihn zum »Rechtsab
weichler«. Mein Großvater wurde ein Geächteter.
Ein »bourgeoiser Revisionist« und »stinkender In
tellektueller«. So steht es in seiner Parteiakte.
Vor einigen Jahren begann ich nach seiner Ver
gangenheit zu suchen, und damit auch nach meiner.
Meine Eltern waren Ende der Achtziger nach Süd
deutschland ausgewandert. Sie gehörten der ersten
Akademikergeneration an, die Maos Nachfolger
Deng Xiaoping nach der Öffnung Chinas ins Aus
land schickte. Bis 1992, als meine Mutter mich im
Alter von vier Jahren nachholte, lebte ich bei meinen
Großeltern in Pingxiang. Pingxiang ist eine Stadt
mit knapp einer Million Einwohner in der immer
noch armen zentralchinesischen Provinz Jiangxi, die
Anfang des vergangenen Jahrhunderts Berühmtheit
erlangt hatte: Mao zettelte hier seine ersten Arbeiter
aufstände an, in den Zwanzigern wurde Pingxiang
»Chinas kleines Moskau« genannt. Unsere Heimat
stadt, kann man sagen, war die Wiege der kom
munistischen Revolution.
Als Kind wusste ich von alldem nichts. Wenn
meine Mutter und ich unsere Verwandten besuchten,
stand da eine Sprachlosigkeit zwischen uns, die auch
den 8000 Kilometern Entfernung geschuldet war.
Später erstaunte mich, dass China rasend schnell
wohlhabend wurde, die Menschen aber so gut wie
nie über früher sprachen – als fehlte die Zeit, um
die Umwälzungen, das tägliche Durchgeschüttelt
Werden in dieser Gesellschaft, in Worte zu fassen.
Nur mein Großvater erzählte ab und an seine
Geschichte. Wenn auch in seiner ganz eigenen
Version. In dieser spielt bis heute ein gewisser Herr
Sommerbambus die Hauptrolle, ein begnadeter
Sänger und Komponist, der in der schwersten
Hungersnot unter Mao mit dem Musizieren be
gann – und nun im Alter endlich vor dem großen
Durchbruch steht. »Solange die Welt meine Lieder
nicht kennt, werde ich mich nicht unter die Erde
legen«, solche und ähnliche Sätze fielen auf jedem
Familienfest. Bis heute brütet Herr Sommerbam
bus täglich stundenlang über einem Haufen Zettel
mit Melodien und Zeilen. Die Geschichte vom
Alter Ego meines Großvaters, das sich von Musen
umgeben sieht, ist natürlich lustig. Aber sie machte
mich auch traurig. Immer wenn ich ihn sah, sprach
Herr Sommerbambus davon, einen Liederband zu
veröffentlichen. Nie machte mein Großvater ernst
damit. Ich ahnte, welch große Lücke die MaoZeit
bei ihm hinterlassen hatte.
Großvater war im Winter 1949 mit der Volks
befreiungsarmee zu Fuß 1000 Kilometer gen Süd
westen marschiert, um die letzten Nationalisten zu
vertreiben. Er wurde Parteimitglied, bis 1955 be
suchte er eine Militärkaderschule. Dann urteilte
die Partei in einer von Maos ersten Massenkam
pagnen gegen »versteckte Konterrevolutionäre«,
mein Großvater sei »ideologisch rückständig«. Er
kehrte zurück in unsere Heimatstadt.
Dort heiratete er eine junge Lehramtsstudentin:
meine Großmutter. Die Hochzeitsgesellschaft fei erte
mit 50 Kilo Mandarinen, Zuckerbonbons und Hirse
Schnaps. Mein Großvater wurde Redakteur bei der
regionalen Tageszeitung. Ein unverhoffter Traumjob.
Doch der neue Chef war ein feister Kader, frisch ver
setzt von der Agrarbehörde, um unliebsame Stimmen
mundtot zu machen. Großvater bekam den Auftrag,
über Erfolge des Großen Sprungs zu berichten. In
seiner Parteiakte heißt es 1958 dazu:
»Peng Fangcong schimpfte, eines der größten
Kohlekraftwerke der Stadt habe lediglich 33,
Prozent des Planziels erreicht. Diese Zahl hat er
ohne Genehmigung in die Zeitung gesetzt.«
»Genosse Peng hat eine kapitalistisch gefärbte
Idee von Journalismus. Ermutigende und mitrei
ßende Berichte hält er bewusst zurück. Er sagt:
Die Ergebnisse des Großen Sprungs sind geschönt,
die Parolen sind zu laut.«
»Seinen Vorgesetzten bezeichnete er unter Kol
legen als ›halben Analphabeten‹. Er forderte, Ge
nosse Huang solle zurück in die Agrarbehörde ver
setzt werden: Von Schweinen verstehe dieser mehr
als von Worten.«
Ich habe die Akte 2013 im Archiv seiner frühe
ren Arbeitseinheit in Pingxiang gefunden. Hun
derte Dokumente, handgeschrieben auf dünnem
Papier: Behördeninterna, Verhörprotokolle und
Selbstbezichtigungen, mithilfe derer Delinquenten
wie mein Großvater ihr »kleinbürgerliches Ich«
überwinden sollten. Im Januar 1960 schickte die
Partei Großvater als »Rechtsabweichler« zur »Um
erziehung durch Arbeit« in ein Bergexil. Der Ort,
50 Kilometer Fußmarsch von unserer Heimat
stadt entfernt, war kein Gulag mit Stacheldraht
zaun und Wachleuten. Unliebsame Parteikader
wie meinen Großvater ließ Mao in eine Art Frei
gängerhaft in die Ödnis versetzen. Sein Kalkül:
Not, Isolation und Zwangsarbeit würden sie wie
der gefügig machen. Mein Großvater hackte Holz
und schleppte Schweinedung den Berg hinauf.
Als die Hungersnot infolge des Großen Sprungs
Abermillionen Chinesen dahinraffte, fing er Spat
zen und Ratten, um meinen damals neugebore
nen ältesten Onkel über die Runden zu bringen.
Meine Großmutter war ihm aus eigenen Stücken
auf den Berg gefolgt, um ihren Mann nicht im
Stich zu lassen. An einem Augusttag Anfang der
Sechzigerjahre, als Hitze und Hunger ihn fast
ohnmächtig werden ließen, wurde der talentierte
Herr Sommerbambus geboren.
1967 schrieb er in einer Selbstbezichtigung:
»Mein erstes Lied hieß Der Bauer mit Brille, ein
Spitzname, den mir die Einheimischen gegeben
haben. Beim Musikmachen vergeht die Zeit wie
im Flug. An vielen Tagen schreibe ich bis Mitter
nacht. Meine Frau schimpft, mein Spiel auf der
Erhu (ein chinesisches Saiteninstrument) gleiche
dem Krächzen eines heiseren Hahns. Mein Traum
war, Musik für die Ewigkeit zu schaffen. Die gif
tige Pflanze der Dekadenz wucherte in mir.«
Ein Dokument namens »Das Volk gegen Peng
Fangcong« bescheinigte ihm während der Kul
turrevolution »schwerwiegende individualistische
Tendenzen« und »mangelnde Liebe für die Volks
massen«. Zwischen 1966 und 1968 wurde er nahe
zu täglich auf »Kampfversammlungen« an den
Pranger gestellt. Während die Meute ihn mit Stei
nen und Nägeln bewarf, stand meine Großmutter
im Publikum und reckte die Faust gegen ihn. Ge
rade pflichtschuldig genug, dass niemand auf die
Idee kommen konnte, sie empfinde für ihren Mann
mehr Loyalität als für den Großen Vorsitzenden.
Nur ihr und Herr Sommerbambus sei es zu verdan
ken, dass er die MaoZeit überlebt hat, sagt er heute.
1979, drei Jahre nach Maos Tod, durfte er nach
Hause zurückkehren und wurde rehabilitiert. In
den vergangenen Jahren bin ich immer wieder mit
ihm an den Ort seines damaligen Zwangsexils ge
fahren: Die Abgelegenheit auf 1600 Höhenmetern
war früher eine Strafe. Heute ist das ehemalige
OpenAirGefängnis ein beliebter WellnessKurort.
Aus dem jugendlichen MaoVerehrer Peng Fang
cong war ein MaoHasser geworden. Die Achtziger
jahre unter Deng Xiaoping waren eine Befreiung.
Großvater bekam eine neue Stelle bei der »Abteilung
Einheitsfront beim Zentralkomitee«. Die Abteilung
Einheitsfront ist heute der mächtige globale Arm
der KP, zuständig für Pekings Einflussoperationen
im Ausland. In den frühen Jahren Deng Xiaopings
war sie eine relativ aufgeschlossene Behörde, die im
Austausch mit Intellektuellen und nichtkommunis
tischen Eliten stand. Großvater kümmerte sich um
den Kontakt zur chinesischen Diaspora. Mit einem
Arzt in Taipeh, der vor der Machtübernahme der
Kommunisten aus Pingxiang geflohen war, unter
hielt er sogar eine jahrelange Brieffreundschaft: Der
Arzt erzählte ihm von der aufkeimenden Demokra
tisierung in Taiwan und schickte ihm Zeitungsarti
kel mit Überschriften wie »Warum sollen wir unse
re Herrscher nicht austauschen dürfen?«. Großvater
las die Texte sehr aufmerksam. Wenn seine Kinder
in den Semesterferien nach Hause kamen, gab es
hitzige Diskussionen über den Umbruch, der nun
allerorten zu spüren war: Meine Mutter, meine
Tante und meine beiden Onkel gehörten zur Gene
ration Tiananmen, sie alle gingen 1989 gegen die
Regierung auf die Straße. Mein Großvater war ge
spalten: Er feuerte bittere Tiraden gegen Maos Ein
MannTotalitarismus. Aber er glaubte an die Selbst
reinigungskräfte der Partei, selbst nachdem Deng
1989 die Studenten niederschießen ließ. Für meine
Mutter war Tiananmen ein Beweggrund dafür,
später in Deutschland zu bleiben. Meine Tante, in
ihrer Studienzeit eine gefeierte Jungautorin, die
Kant und Goethe gelesen hatte, machte in den
Neunzigern eine Wendung: Sie arrangierte sich und
heiratete einen Parteifunktionär. Veränderung
sucht sie seither im Kleinen, als Erziehungsratgebe
rin mit eigener Radiosendung, die Eltern die Ent
wicklungstheorien von Sigmund Freud und Carl
Gustav Jung erklärt.
Das Nebeneinander von freigeistigem Denken
und Loyalität zum Staat in meiner Familie war
dank einer Toleranz am heimischen Esstisch mög
lich, die es so draußen, im offiziellen China, nicht
gibt. Dennoch haben die vielen Diskussionen mit
meinen Verwandten mich gelehrt, dass die Gren
zen zwischen Zustimmung und Ablehnung des
Systems in China fließend sein können. Manch
mal verlaufen sie nicht nur innerhalb einer Familie,
sondern auch in Schlangenlinien durch eine Bio
grafie. Einige wie meinen Großvater oder meine
Tante hat der Wohlstand pragmatisch gemacht;
andere haben vom System wenig profitiert und se
hen seine Schattenseiten.
Chinas Aufstieg hat auch das Verhältnis der
Ausgewanderten zu den Daheimgebliebenen ver
ändert: In meiner Kindheit waren meine Mutter
und ich diejenigen, die es »geschafft« hatten, nur
weil wir im reichen Westen wohnten. Bewunde
rung und Neid schlugen irgendwann in Genugtu
ung um. »Wir haben euch als drittgrößte Wirt
schaftsmacht überholt«, jubelte mein Großvater
- Mit »wir« meinte er die Chinesen. Mit
»euch« meinte er: euch Deutsche.
Nun schlägt das Pendel wieder zurück. An mei
nen Verwandten ist nicht spurlos vorbeigegangen,
dass die hart erarbeiteten Freiräume unter Xi Jinping
wieder schrumpfen, dass es wieder Arbeitslager gibt,
in denen über eine Million Menschen gefangen ge
halten werden, dass die bedrückende Enge der Ju
gend meines Großvaters wiederkehrt. Aber mein
Eindruck ist, dass er sein Bild von China auf dem
Stand der Reformära eingefroren hat, die 2012 mit
dem Abtritt von Präsident Hu Jintao endete. Aus
der Partei, die unter Mao von einem Diktator regiert
wurde, war in seiner zweiten Lebenshälfte eine
Partei mit vielen Diktatoren geworden. Aus dem
Armenhaus der Welt war ein Land geworden, das
den mächtigen Nationen auf Augenhöhe begegnet
und Astronauten ins Weltall schießt. Für meinen
Großvater, der noch weiß, wie Baumrinde
schmeckt, ist all dies mehr, als er sich hätte je er
träumen können.
»Weißt du, die Partei hat mir 20 Jahre meines
Lebens gestohlen«, sagte er mir einmal. »Aber sie
hat mir auch die letzten 40 Jahre geschenkt. Und
die waren die besten meines Lebens.«
Vor einigen Tagen klingelte eine Mitarbeiterin
der Stadtregierung an seiner Tür und übergab ihm
feierlich eine Kupfermedaille: fünf vergoldete Sterne
auf rotem Brokat, das chinesische National emblem,
umrandet von Wolken und einer großen 70. Nur
alte Armeeveteranen wie er und besondere Ehren
träger haben die Medaille zum 1. Oktober bekom
men, im ganzen Land vielleicht nicht mehr als einige
Zehntausend. Sie ist wie ein Siegel unter seinen
letzten 70 Jahren, die offizielle Bestätigung, dass
seine Geschichte ein Happy End hat.
Peng Fangcong, der Großvater unserer Autorin, in seinem Haus im zentralchinesischen Pingxiang
Großvaters Heft mit
einem Gedicht von Mao
Peng Fangcong als junger Soldat
der Volksbefreiungsarmee
Herr Sommerbambus und die Partei
Mein Großvater wurde unter Mao verfolgt. Heute feiert er das Regime. Wie kann das sein? Eine Familiengeschichte zum 70. Geburtstag der VR China VON XIFAN YANG
Fotos: Yan Cong für DIE ZEIT, Xifan Yang für DIE ZEIT (o. r.)
4 POLITIK 2. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
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