Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

Kinder haben eine natürliche Präferenz für Süßes,


schon Muttermilch schmeckt so. »Zucker ist eine


angenehme Nahrung, er gibt schnelle Energie, für


den Menschen war Süße einst überlebenswichtig,


süße Pflanzen sind nicht giftig«, sagt Hans Hauner


von der Technischen Universität München. Doch er


sagt auch: Für die körperliche Gesundheit der Kinder


sei es gut, dass Eltern heute bewusster mit Zucker


umgingen. Säuglings-Tees und Breie sind nicht mehr


gesüßt; vor zwanzig Jahren hat sich darüber kaum


jemand Gedanken gemacht.


Grundsätzlich essen die Deutschen immer noch


zu viel Zucker, im Durchschnitt 100 Gramm am Tag,


die WHO empfiehlt 25 bis maximal 50, für Kinder


noch weniger. Typ-2-Diabetes-Erkrankungen und


verfettete Blutgefäße, die auch auf Zuckerkonsum


zurückzuführen sind, haben bei Kindern jahrelang


zugenommen. Derzeit steigt die Zahl laut KiGGS-


Studie des Robert Koch-Instituts aber nicht weiter.


Zucker könne krank machen, sagt Hans Hauner.


Aber er erzeuge, anders als Alkohol, keine Sucht.


»Eltern, die ihren Kindern deshalb keinen Zucker
geben, schießen maßlos über das Ziel hinaus.«
Seit meine Kinder in der Kita sind, hat das Nach-
denken über Zucker zugenommen. Ich muss mir
anhören, dass man Kuchen auch mit Bananen süßen
kann. Auf einem Elternabend fragt eine Mutter, wie
sich die Erzieherinnen verhalten, wenn alle Kinder
einen Schokoladen-Nikolaus bekommen, ihr Kind
aber keinen essen darf. Andere Eltern verdrehen die
Augen. Das Thema ist längst nicht für alle so wichtig.
Mein Kinderarzt – Einzugsgebiet Hamburg-Eims-
büttel – sagt, dass nur ein Drittel der Eltern, die zu
ihm kämen, über Ernährung nachdächten.
Doch die Vertreter des radikalen Zuckerverzichts
haben Erfolge, ihr rigider Kurs verunsichert nicht
nur Mütter und Väter. Ein Freund erzählt, dass
seine Eltern ganz verärgert seien, weil sie nicht ver-
stehen, warum die Schwiegertochter ihnen verbietet,
den Enkeln Eis und Apfelsaft zu geben. Er traue sich
kaum noch, die Kinder bei den Großeltern abzu-
liefern. Und der Schneider, zu dem meine Kinder nur
der Gummibärchen wegen mitgehen, fragt mich
neuerdings: »Dürfen sie welche?«

Lebensmittel seien keine guten Erziehungsmittel
und auch kein Trostpflaster, heißt es auf der Website
Kindergesundheit der Bundeszentrale für gesundheit-
liche Aufklärung. »Süßigkeiten werden im Alltag
häufig dazu benutzt, um das Verhalten von Kindern
zu steuern. Sie sollen damit motiviert, beruhigt, be-
lohnt, abgelenkt oder auch bestraft werden.«
Die Kita Villa Vivendi in Hamburg macht es
anders, sie wirbt damit, »zuckerfrei« zu sein. Es gibt
keine Säfte, keinen Nachtisch. »Wir wollen den
Kindern zeigen, dass es eine gesunde Lebensweise
gibt«, sagt Katja Garcia Anccas, die die Kita leitet und
selbst keinen Zucker isst. Vor sechs Jahren wurde die
Einrichtung gegründet – von einer Mutter, die ihr
eigenes Kind ohne Zucker großziehen wollte und
dafür keine passende Kita fand.
Die Kita orientiert sich an den Fit-Kid-Regeln der
Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), wie
viele andere Kitas auch. Das bedeutet: Vollwertessen,
Nudeln, Kartoffeln, mageres Fleisch, viel Rohkost,
zum Trinken nur Tee und Wasser. Über einen gene-
rellen Zuckerverzicht schreibt die DGE nichts, die
Regel hat sich die Kita Villa Vivendi selbst gegeben.

Ein eigener Koch backt zweimal in der Woche Brot
und auch den Kuchen für die Geburtstagskinder,
damit sich die Eltern nicht mit Rezepten herum-
schlagen müssen, die ohne Zucker auskommen. Sie
sei froh, dass die Kita das so durchziehe, sagt eine
Mutter auf dem Flur. Zu Hause kriege sie das nicht
hin. »Wir bringen den Kindern bei, dass Süßigkeiten
nicht zur Ernährung dazugehören«, sagt die Leiterin.
Die meisten Gesundheitsexperten lehnen ein
striktes Zuckerverbot ab. Die DGE, die in engem
Austausch mit Ernährungswissenschaftlern steht,
schreibt: »Prinzipiell ist gegen Naschen nichts ein-
zuwenden – solange es ab und zu und in Maßen er-
folgt. Kinder sollten einen bewussten und genuss-
vollen Umgang mit Süßigkeiten lernen.«
In jenem Nein-Seminar, das ich vor ein paar
Jahren besuchte, fragte der Seminarleiter: »Essen Sie
selbst gern Süßes?« Er hat uns dann erklärt, dass es
zwei Arten von Nein gebe. Das Nein, von dem wir
wirklich überzeugt seien. Und das Nein, von dem wir
»meinen«, dass es das Beste für unser Kind sei. »Kinder
checken, was Ihnen wirklich wichtig ist. Wenn Sie
selbst hadern, können Sie es auch gleich lassen mit

dem Neinsagen.« Stattdessen könnte man mit dem
Kind gemeinsam eine Wochenration zusammen-
stellen und Sohn oder Tochter bestimmen lassen,
welche Süßigkeiten sie für den Tag haben wollen.
»Wir hören den Kindern beim Thema Zucker zu
wenig zu«, sagt Gunther Hirschfelder. Er ist dagegen,
ein Lebensmittel zu dämonisieren, denn dadurch
würden die Kinder nur verunsichert. »Vor allem aber«,
sagt Hirschfelder, »lernen Kinder, sich durch Ernäh-
rung von anderen abzuheben.« – »Ich bin, was ich
esse«, sei nämlich, was Eltern ihren Kindern durch das
permanente Reden darüber beibrächten. »Ernährung
ist heute eine Form der sozialen Distinktion. Wer sagt,
dass er keinen Zucker isst, zeichnet mit wenigen
Strichen ein Bild von sich: Sie sind dann die tolle
Mutter, die sich kümmert. Sie gehören zur Hand-
lungselite.« Kinder verstehen diese Strategie. Sie
lernen, welche Familien vermeintlich etwas Besseres
sind, wer besonders gebildet ist, bewusst lebt. Die
Geburtstagstorte mit Schokoglasur und Zuckerperlen
verbindet Kinder dann nicht mehr, sie trennt sie.

A http://www.zeit.de/audio


Die große Zuckerpanik Fortsetzung von S. 43


Tiger


Die chinesisch-amerikanische Juristin
Amy Chua sorgte im Jahr 2011 als
»Tigermutter« für Furore. In ihrem
Buch »Battle Hymn of the Tiger
Mother« beschrieb sie, wie sie ihre
Kinder mit Disziplin und Kontrolle zu
Höchstleistungen trieb. »Besonders
pushy sind echte Tigermütter aber nicht«,
sagt Judith Burkart, Tierforscherin und
Anthropologin an der Universität
Zürich, »ihre Jungen sind am Anfang
auch völlig hilflos. Später bringen die
Mütter ihnen zunehmend größere Beute-
tiere mit, irgendwann auch lebende, zum
Jagdtraining. Dabei fordern sie durch-
aus immer etwas mehr von ihren
Kindern, als die gerade können.«

FAMILIE


Muttertiere


In Tiermetaphern verpackt die Gesellschaft ihre widersprüchlichen Erwartungen an Eltern.


Nur nicht darauf hören, rät die Soziologin Désirée Waterstradt


Quellen


KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts
Hamburg zur Gesundheit von Kindern und
Jugendlichen in Deutschland

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung,
insbesondere das Portal
http://www.kindergesundheit-info.de

Eltern- und Ernährungsblogs wie
https://meine-zuckerfreiheit.blog oder
http://www.nosugarmommies.com

Links und weitere Quellen
auf ZEIT ONLINE unter
zeit.de/wq/2019-41

DIE ZEIT: Frau Waterstradt, in den USA gibt es
einen neuen tierischen Erziehungstrend, das panda
parenting. Ersonnen hat ihn die Mutter und ehe-
malige Lehrerin Esther Wojcicki, ihr Ratgeber-
buch Panda Mama ist gerade auf Deutsch erschie-
nen. Würden Sie jungen Müttern raten, das Buch
zu lesen?
Désirée Waterstradt: Nein, ein ganz klares Nein!
Frau Wojcicki ist Jahrgang 1940, sie hat ihre Kin-
der in einer völlig anderen Zeit und Kultur groß-
gezogen. Außerdem führen Tiermetaphern auf
den Holzweg. Das war schon beim Schlachtruf
der »Tigermutter« Amy Chua so, auf den Wojcicki
ja antwortet.
ZEIT: Was meinen Sie mit Holzweg?
Waterstradt: Diese Ratgeber suggerieren, dass Er-
ziehung instinktiv funktioniert, tatsächlich geht es
um gesellschaftliche Standards des Verhaltens und
Empfindens. Die werden immer anspruchsvoller
und widersprüchlicher. Mütter etwa sollen Kar-
riere machen, sexy sein, perfekt für die Kinder, den
Partner, die Eltern da sein, für die Kita Kuchen
backen, in den Elternbeirat gehen. Wenn man
unbedingt eine Tiermetapher benutzen möchte,
würde ich sagen: Eltern sind Packesel – jeder darf
noch was draufpacken.
ZEIT: Darum suchen sie ja Rat!
Waterstradt: Das Problem ist, dass Ratgeber Miss-
stände individualisieren. Als könnten einzelne
Eltern das alles hinkriegen in einer Gesellschaft,
die strukturell elternfeindlich ist. Es werden Re-
zepte versprochen, um rücksichtslosen Strukturen
und überzogenen Ansprüchen gerecht zu werden.
Das ist zynisch.
ZEIT: Betrifft das Mütter und Väter gleichermaßen?
Werden Vätern auch Rollenmodelle aus dem Tier-
reich präsentiert?
Waterstradt: Wenig. Mütter werden bis heute als
Hüterin der Familie angesprochen, Väter gelten
eher als Helden, Abenteurer, große Kinder.
ZEIT: Wollen Sie sagen, es hätte sich so wenig
verändert? Das Elterngeld hat vielleicht keine
Wunder bewirkt, aber es gehen doch immer mehr
Väter in Elternzeit und kümmern sich auch darüber
hinaus um die Kinder.
Waterstradt: Doch, es hat sich viel verändert. Väter
sind empathischer als ihre Väter und versuchen
ihren Anteil an der Kindererziehung zu leisten.
Und mittlerweile kann ein Mann im Business-
Meeting darüber reden, dass er eine durchwachte

Nacht hatte. Das wäre vor drei Jahrzehnten un-
möglich gewesen. Väter können aber am Tag
nach der Geburt ohne schlechtes Gewissen wie-
der arbeiten gehen.
ZEIT: Sie werden also weniger stark bewertet?
Waterstradt: Väter ereilt momentan eher die ange-
nehme Seite des Sexismus. Sie werden gefeiert,
wenn sie das Baby wickeln oder mit dem Kind auf
den Spielplatz gehen – das nervt etliche Väter
auch. Mütter können es dagegen kaum richtig
machen. Der Grat zwischen Rabenmutter und
Glucke ist sehr schmal.
ZEIT: Wieso sind diese Klischees über Eltern so
hartnäckig?
Waterstradt: Interessant ist, was diese Sprachbilder,
die Glucken, Helikopter- und Rabeneltern, eint:
Sie gestehen Eltern nur eine dienende Funktion
zu – entweder kümmern sie sich zu viel um die
Kinder oder zu wenig. Im Zentrum steht immer
das Kindeswohl. Das sieht man auch an all den
Organisationen und Verbänden rund ums Kind.
ZEIT: Moment, Kinder müssen doch zurzeit irre
gut funktionieren. Viele verbringen ganze Arbeits-
tage in Kindergärten und Kitas, in denen sie von
zu wenig Erzieherinnen betreut werden. Das soll
zu ihrem Wohl sein?
Waterstradt: Nein. Das zeigt nur, wie sehr alle
Familienmitglieder gezwungen werden, sich der
neoliberalen ökonomischen Welt anzupassen.
ZEIT: Was ist zu tun?
Waterstradt: Statt Eltern zu beschämen und in
Schubladen zu stecken, sollte man schauen, wie es
ihnen wirklich geht. Denn Kindeswohl gibt es
selten ohne Elternwohl. Aber vor lauter Kind-
zentrierung wird das bislang kaum bemerkt. Es ist
dringend Zeit, auf eine Balance von Kindes- und
Elternwohl zu bestehen.
ZEIT: Es lauert da also noch eine weitere Aufgabe
für Mütter und Väter?
Waterstradt: Nein, Ombudsstellen für Eltern oder
auch Großeltern könnten zum Beispiel dafür ein-
treten, dass Elternschaft lebbar bleibt. Das wäre
auf jeden Fall besser, als immer weitere Ansprüche
draufzulegen.

Die Fragen stellte Johanna Schoener


Désirée Waterstradt ist Soziologin und forscht
an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe
zum Thema Elternschaft

Pandas


Als gelassener Gegenentwurf zur tiger
mom gelten derzeit in den USA die
Pandamütter. Sie sollen ihre Kinder
durch warm herzige Ermutigungen zu
Bestleistungen bringen. »Man hält
Pandamütter einfach deshalb für
entspannt, weil sie so gemütlich
aussehen«, sagt Burkart dazu. »Sie
müssen sehr gut auf ihre winzigen
Babys aufpassen, diese wärmen, stillen,
ablecken. Da Pandas kaum Raubfeinde
haben, können sie aber schon gelassener
sein als viele andere Tiermütter.«

Raben


Den Vorwurf, eine Rabenmutter zu
sein, bekommen berufstätige Mütter
auch heute noch zu hören, wenn sie sich
angeblich zu wenig um ihre Kinder
kümmern. Der Begriff der Rabeneltern
hat eine lange Geschichte, manche lesen
ihn sogar bereits aus einer Bibelstelle
heraus. »Tatsache ist, dass Rabenküken
sehr früh das Nest verlassen und deshalb
schnell vernachlässigt wirken«, sagt
Judith Burkart. »Ihre Eltern schmeißen
sie aber nicht raus und füttern sie auch
weiterhin. Allerdings sind Rabeneltern
tatsächlich sehr mit der Futtersuche
beschäftigt – und können nicht dauernd
mit ihren Kindern kuscheln.«

Weißbüschelaffen


Gibt es denn Tiereltern, die wirklich als
gutes Vorbild für die Menschen taugen
würden, für Mütter wie Väter? »Die
Weißbüschelaffen!«, schlägt die
Tierforscherin Burkart vor. »Bei denen
kümmern sich alle um den Nachwuchs,
auch die Väter und die ganze Gruppe.
Die Mütter können sich darauf verlassen,
dass ihre Kinder beschützt werden.
Deshalb lassen sie den Nachwuchs
schon früh seine eigenen Wege gehen.«

Illustrationen: Neele Jacobi für DIE ZEIT Te x t e :^ Stefanie Kara



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