Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

Auf dem Mifa-Rad zum Ostseestrand


Wie erzählt man in Kinder- und Jugendbüchern von der DDR? Die Schriftstellerin SUSAN KRELLER, selbst 1977 in Sachsen geboren, hat es in ihren Romanen


immer vermieden. Bis jetzt. Hier erzählt sie, warum – und blickt auf die besten Neuerscheinungen zum Thema von Kolleginnen und Kollegen


A


m Anfang war es einfach ein
Meer. Ich wollte ein neues
Jugendbuch schreiben, eines, in
dem eine Familie eher widerwil-
lig von Irland nach Deutschland
zieht. Zum Trost, als kleine,
wässrige Entschädigung sollte
diese Familie wenigstens ein neues Stück Ozean
bekommen. Sie bekam – die Auswahl war nicht be-
sonders groß – die Ostsee in Mecklenburg-Vorpom-
mern. Und zwar vor allem deshalb, weil ich dort jede
Qualle persönlich kenne. Die Ostsee hat dann auf
seltsame Weise ein Eigenleben entwickelt, hat im-
mer mehr Relikte der DDR-Geschichte ins Buch
geschwappt, nach und nach, wie Strandgut: hier ei-
nen Broiler, dort ein Mifa-Fahrrad, sogar eine Thäl-
mannstraße mit Schlaglöchern und Pappelsaum.
Und irgendwann war ein ganzes Dorf mit DDR-
Vergangenheit angespült, und mein Buch hatte eine
völlig neue Ebene.
Sollte der Roman anfangs von Heimweh, Hei-
matlosigkeit und den vielen Arten des Fremdseins
erzählen, eine Geschichte über einen Umzug von
Irland nach Deutschland sein, so wurde er immer
mehr die Geschichte eines Umzugs von Irland
nach Ostdeutschland. Das Thema Heimatlosigkeit
geriet dadurch sogar komplexer, und es kamen
noch ein paar Sorten Fremdsein hinzu.
Ich bin der Ostsee sehr dankbar für diesen
Wink mit dem Buhnenpfahl und habe mich ge-
fragt, warum ich in meinen ersten Büchern eigent-
lich immer an Ostdeutschland vorbeigeschrieben
habe, obwohl ich in der DDR geboren und aufge-
wachsen bin. Der Osten kam in meinen Texten
einfach nicht vor, auch die DDR-Geschichte nicht,
schon gar nicht die Wende oder die verwirrende
Zeit danach. Vielleicht lag es ja an jener sonder-
baren Mischung: dass meine eigene DDR-Kind-
heit noch zu nah war, gleichzeitig aber zu weit weg
und gewissermaßen doppelt vorbei, weil mein
Kindheitsland nicht mehr existierte. Vielleicht
habe ich einfach geahnt, dass solche sonderbaren
Mischungen beim Schreiben wehtun können.
Erzählstoff hätte es wahrlich genug gegeben.
Ich komme aus Plauen, einer mittelgroßen Stadt
im sächsischen Vogtland, mein Kindergarten hieß
»Sozialismus siegt«. Manche sagen, in Plauen habe

die Wende begonnen. Fünfzehntausend Menschen
sind damals, am 7. Oktober 1989, auf die Straße
gegangen, es war die erste richtige Großdemons-
tration gegen das DDR-Regime. Kann sein, dass
ich danach nie wieder so viel Mut auf einmal ge-
sehen habe.
Aber wie könnte ich in einem Buch von sol-
chen Dingen erzählen, noch dazu für ein junges
Lesepublikum? Und überhaupt: Wie lässt sich die
DDR in Sprache übersetzen? Wie erzählt man von
einem Land, das es nicht mehr gibt und das in so
vielen Menschen trotzdem weiterhämmert, wei-
teratmet, weiterweint? Wie schreibt man das
Schweigen in die Geschichten und wie die Würde?
Wie fügt man all dem Farblosen, Dunklen und
Trennenden, das so oft mit der DDR verbunden
wird, etwas Buntes, Helles, Verbindendes hinzu?
Wie schickt man die Klischees aus den Geschich-
ten und lässt den Schmerz darin? Wie erzählt man
von Einschränkung, perfider Überwachung und
Diktatur, aber ebenso von Freundschaft, Gemein-
schaft und Wärme? Wie zeigt man die Unterschie-
de zwischen DDR und Bundesrepublik auf, aber
auch die vielen Gemeinsamkeiten?

E


s kann gelingen, das weiß ich. Unter-
schiedliche Antworten auf solche Fra-
gen habe ich in den vergangenen Jahren
in einigen Kinder- und Jugendbüchern
mit DDR- oder Wende-Thematik ge-
funden – darunter so großartige und nuancierte
Werke wie Anne C. Voorhoeves Lilly unter den
Linden, Dorit Linkes Fluchtgeschichte Jenseits der
blauen Grenze oder Manja Präkels’ Roman Als ich
mit Hitler Schnapskirschen aß. Interessanterweise
sind es sämtlich Geschichten, in denen menschli-
che Beziehungen vor dem Hintergrund von DDR-
Politik oder Nachwende-Wirren eine große Rolle
spielen, Freundschaften vor allem und familiäre
Bindungen. Dieses Motiv überwiegt auch in den
Kinder- und Jugendbüchern mit DDR-Sujets, die
in diesem Herbst, 30 Jahre nach dem Mauerfall, in
großer Zahl erscheinen. Vier davon haben mich
besonders beeindruckt.
Eines ist das künstlerisch gestaltete Buch Nie-
mandsland. Erinnerungen an eine Kindheit (Kunst-
anstifter Verlag; ab 14 Jahren) von Matthias Fried-

rich Muecke, in dem episodenhaft eine Ostberliner
Kindheit und Jugend in den Sechziger- und Siebzi-
gerjahren erzählt wird; mit Worten, aber auch mit
originellen Grafiken, die nahezu die Hälfte des
Buches ausmachen. Zwei Freunde, einer davon ist
der Ich-Erzähler, stolpern von einem staatsfeindli-
chen Abenteuer ins nächste, klammern die Politik
schulterzuckend aus und werden doch stets von ihr
umklammert. So nehmen sie zum Beispiel in
Frauen klei dern an einer todernsten Feierlichkeit
zum Republikgeburtstag teil oder versuchen in eine
Zigarettenfabrik einzubrechen. Immer wieder
kommen sie raus aus diesen Geschichten und Wag-
halsigkeiten. Eines Tages nicht mehr.
Sehr langsam erzählt Muecke auf dieses Ende hin,
in einer präzisen, lakonischen Sprache und in realis-
tischen Bleistiftzeichnungen, die durch bizarre Figu-
ren wunderbar gebrochen werden und voller kühn
kombinierter Motive sind: Da bewegt sich die Birke
hinterm Stacheldraht, da flattert die Unterwäsche
neben der DDR-Fahne. Nichts wird hier beschönigt


  • und nichts Schönes ausgespart.
    Genau dies hat mich auch an Dirk Kummers
    Kinderroman Alles nur aus Zuckersand (Carlsen Ver-
    lag; ab 10 Jahren) so bewegt. Das Buch basiert auf
    dem preisgekrönten Film Zuckersand von 2017, für
    mich eine der eindrucksvollsten Produktionen über
    das Leben in der DDR. Kummer führte Regie und
    schrieb am Drehbuch mit, nun bearbeitete er den
    Stoff neu als Roman. Er erzählt von der innigen Jun-
    genfreundschaft zwischen Fred und Jonas; wie in
    Niemandsland ist diese Freundschaft in Gefahr. Denn
    die Mutter von Jonas hat einen Ausreiseantrag ge-
    stellt. Zum Glück erklärt Freds alter Nachbar, dass
    man, wenn man nur lange genug im feinen Branden-
    burger Sand grabe, irgendwann auf der anderen Sei-
    te der Erdkugel rauskomme, in Australien. Also
    fangen die Kinder an zu buddeln, damit sie sich eines
    Tages in jenem fernen Land wiedertreffen können.
    Es ist eine verschmitzt poetische und warmher-
    zige, ja zärtliche Kinder perspektive, aus der Kum-
    mer seinen Fred von Freundschaft und Verlust-
    angst, Sehnsucht und Grabungsarbeiten berichten
    lässt. Und irgendwann auch vom schmerzlichen
    Abschied. Die seriös gekleidete Skrupellosigkeit
    des DDR-Regimes wird nur am Rande erwähnt,
    sie wirkt aber angesichts des Guten, das sie gefähr-


det und zerstört, umso monströser. Trotzdem ist
die Geschichte hier weitaus weniger tragisch als im
Film, denn in seinem Kinderbuch gestaltet der
Autor ein hoffnungsvolleres Ende, das mich aber
nicht minder berührt hat.

A


uch der wesentlich rasanter und ex-
plizit politischer erzählte, an jugend-
liche Leser gerichtete Briefroman
Mauerpost (cbt; ab 13 Jahren) von
Maike Dugaro und Anne-Ev Ustorf
hat mir gezeigt, wie differenziert und spannend die
DDR-Geschichte literarisiert werden kann – und
dass man, um darüber zu schreiben, nicht not-
wendig im Osten sozialisiert worden sein muss.
Die Geschichte setzt diesmal mit einer Trennung
ein, erst danach beginnt eine Freundschaft zu
wachsen: Julia aus Ost-Berlin und Ines aus West-
Berlin werden dank einer gewieften Vermittlungs-
aktion von Ines’ Großmutter im Jahr 1988 gehei-
me Brieffreundinnen. Zunächst zaghaft, dann im-
mer bereitwilliger erzählen sie ein an der von ihren
Leben, die, das wird allmählich klar, auf merkwür-
dige Weise mit ein an der verwoben sind.
Mauerpost ist eine geschickt strukturierte und
spannende Geschichte, die in die Pubertät zweier
Mädchen die dunkelsten Kapitel der DDR-Ge-
schichte hineinflicht: politische Haft und Zwangs-
adoptionen. Was mich aber am meisten fasziniert,
ist die literarische Gegenüberstellung von Ost-
und West-Berlin, durch die den beiden Autorin-
nen eine jeweils genaue Zeichnung des Lebens in
der DDR und in der Bundesrepublik gelungen ist
und durch die junge Leser heute einige Unter-
schiede, aber auch erstaunlich viele Gemeinsam-
keiten entdecken können.
Obwohl Trennendes und Verbindendes auch in
Franziska Gehms Kinderroman Pullerpause in der
Zukunft (Klett Kinderbuch; ab 9 Jahren) eine wich-
tige Rolle spielen, ist er doch mit keinem der drei
anderen Bücher vergleichbar. Einfach weil er so
brüllend komisch ist. Trotzdem hatte ich beim Lesen
nie das Gefühl, dass die DDR-Geschichte, die ja auch
voller Tragik ist, hier pauschal verlacht wird. Und das
allein ist schon ein kleines Kunststück.
In Gehms klugem, vergnüglichem Buch pral-
len nicht einfach nur Osten und Westen auf ein an-

der, sondern die DDR des Jahres 1987 und das
veränderte Ostdeutschland der Gegenwart. Wie
schon im ersten Band, Pullerpause im Tal der
Ahnungslosen, reist der Junge Jobst mithilfe eines
Zeitreisekoffers ins Jahr 1987, diesmal aber, um
seine DDR-Freunde Jule und Letscho abzuholen
und mit in seine Gegenwart zu nehmen. Eine Ge-
genwart, die für die beiden im doppelten Sinne die
Zukunft ist. In dieser gilt es, die Welt zu retten,
jedenfalls ein kleines Stück davon: das Theater von
Jules Vater, dem die Schließung droht.
Die Geschichte ist voll von Sprach- und Si tua-
tions ko mik und dadurch überaus unterhaltsam –
zum Beispiel, wenn Letscho zum ersten Mal sei-
nem älteren Ich gegenübersteht, das ein zutiefst
kapitalistisches ist und seinen Sohn nach Bud
Spencer benannt hat. Vor allem aber zeigt der Ro-
man durch die heiter-komplexe Konfrontation
von Ost und West sowie von Vergangenheit und
Gegenwart, wie temporeich und teilweise absurd
die Entwicklung der letzten 30 Jahre war. Die
DDR ist dadurch umso klarer zu sehen, ich selbst
konnte sie allerdings zuweilen nur durch Lachträ-
nen hindurch erspähen, etwa wenn es um die
Schwierigkeit geht, als zeitreisender DDR-Bürger
fehlerfrei eine Kiwi zu verspeisen.
Es sind nicht nur diese wenigen Bücher, die mir
in den vergangenen Jahren und in jüngster Zeit
gezeigt haben, dass die DDR-Geschichte in Kin-
der- und Jugendbüchern erzählbar ist, literarisch
erinnerbar, in vielen Facetten, und dass einige die-
ser Bücher diese Geschichte wirklich ans Licht zu
holen vermögen, aus der historischen Abstraktheit
heraus, in die sie von der Zeit gerückt wurde. Mir
kommt es sogar vor, als ließe die Kinder- und Ju-
gendliteratur der letzten Jahre mit Blick auf die
DDR- und Wende-Thematik noch viel mehr Am-
bivalenzen zu und rüttele stärker an allzu festge-
fahrenen Ost-West-Bildern. Es wäre schön, wenn
das so weiterginge. Denn ich weiß ja, es gäbe noch
eine Menge zu erzählen.

Manchmal stimmt einfach alles an einem Roman,
in Die beste Bahn meines Lebens ist das so. Schon das
Cover macht neugierig, wenngleich es etwas rätsel-
haft ist, mit diesem Jungen im Wasser, über dem
ein Huhn treibt. Das Motiv erklärt sich aber ganz
fabelhaft, wenn man die Geschichte liest.
Der Roman ist aus der Sicht des elfjährigen Jan
erzählt, der sehr gut schwimmen
kann und für Wettkämpfe trai-
niert. Im Wasser ist er in seinem
Element, an Land aber nicht. Er ist
mit seinen Eltern in eine neue
Stadt gezogen, wo ihm zunächst
nichts gefällt. Der einzige Licht-
blick wird für Jan seine neue Nach-
barin Flo samt ihren Hühnern. Als
eins abhaut, ist Jan zur Stelle und
fängt es mit einem Hechtsprung.
Das findet Flo natürlich gut. Ein
großes Problem muss Jan aber
noch lösen: Er verheimlicht seine
Lese-Rechtschreib-Schwäche vor
der neuen Klasse.
Mir fehlt es oft an guter Litera-
tur für 11- bis 13-Jährige, da ist
dieses Buch eine wunderbare Ausnahme. Neben
der warmherzigen Geschichte überzeugen auch
einige erzählerische Einfälle, zum Beispiel dass Flo
nie direkt zu Wort kommt. Alles, was man über sie
erfährt, kommt aus Infografiken, die sie gemalt hat.
Anne Becker schreibt sehr nah an der Lebens- und
Gefühlswelt der Jugendlichen und mit großer
Leichtigkeit – passend zu der, die Jan im Schwimm-
becken spürt.

Um Wasser geht es auch in dem Sachbuch Ozeane,
genauer um das Meer und seine Bewohner. Ich war
immer schon fasziniert vom Meer, und das blaue
Cover mit knallrotem Oktopus hat mich neugierig
auf den Inhalt gemacht.
Tintenfische habe ich früher gerne gegessen,
seitdem ich dieses Buch gelesen habe, kann ich das
aber nicht mehr. Denn es erklärt
großartig, wie schlau und empa-
thisch diese Tiere sind. Es geht
aber auch darum, wie zum Beispiel
eine Welle entsteht oder warum
man die Ozeane Lunge unseres
Planeten nennt.
Alle Texte sind leicht verständ-
lich, Kapitel für Kapitel taucht
man immer weiter ab – bis in die
Tiefsee. Der besondere Clou: Auch
auf den einzelnen Doppelseiten
gibt es Abtauchmöglichkeiten
zwischen Bild und Text, weil sich
einzelne Elemente durch eine be-
sondere Scherenschnitt-Technik
aufklappen lassen. Ein großer
Spaß, nichts ist interessanter, als zu
schauen, was hinter dem nächsten Klappbild steckt!
Der Verlag empfiehlt das Buch Lesern ab acht
Jahren, ich gebe meine Begeisterung dafür bei uns
in der Buchhandlung vor allem an die Eltern weiter.
Für mich ein perfektes Buch, das Große und Klei-
ne gemeinsam lesen können.

Birgit Schollmeyer, 65, Mitinhaberin des Kinder-
und Jugendbuchladens Bücherwurm in Braunschweig

Zum Abtauchen


WAS KÖNNEN SIE EMPFEHLEN?


H. Druvert/
E. Grund-
mann:
Ozeane
Gerstenberg
2019; 40 S.,
26,– €;
ab 8 Jahren

Anne Becker:
Die beste
Bahn meines
Lebens
Beltz &
Gelberg 2019;
176 S., 12,95 €;
ab 11 Jahren

FAMILIE:


Susan Kreller schreibt Romane für
junge und erwachsene Leser. Ihr
neues Jugendbuch »Elektrische
Fische« erscheint Ende Oktober im

Illustration: Elsa Klever für DIE ZEIT; kleines Foto: Ellen Runa Kara Carlsen Verlag


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