Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

kauft und bin wiederum angestellter Scriblifax (...).


Man kann nun ’mal als anständiger Mensch nicht


durchkommen.«


Immerhin wird ihn seine neue Stelle als Korres-


pondent nach London führen, ins Land der Magna


Charta, der Industrialisierung und des scharfzüngigen


Parlamentarismus. Das sollte ihn, der sich für Preu-


ßen eine pragmatische Tory-Partei wünschte, prägen.


Tempora mutantur, nos et mutamur in illis, die Zeiten


ändern sich, und wir ändern uns in ihnen. Das gilt


auch für Fontane. 1861 wechselt er zur konservativen


Preußischen Kreuzzeitung, die als Stimme der Gegen-


revolution gegründet worden war, für Thron und


Altar, das Blatt des preußischen Landadels. Ein biss-


chen graust es ihn bei der Vorstellung, aber letztlich


ist er mit der Entscheidung zufrieden, denn die


Zeitungsarbeit beansprucht ihn nicht sehr, statt-


dessen kommt er mit den Wanderungen durch die


Mark Brandenburg gut voran und beginnt endlich,


Spätentwickler, der er ist, mit seinem ersten Roman,


Vor dem Sturm, der aber erst 1878 fertig sein wird.


Ein bisschen ist Fontane auch die frühe Verkörperung


einer Bastelbiografie. Wäre er 20 Jahre früher ge-


storben, wir würden seiner heute nicht gedenken.


Wie sehr musste er sich wohl verbiegen, um für


die Preußische Kreuzzeitung zu schreiben? Erst 100


Jahre später, in den Achtzigerjahren des 20. Jahr-


hunderts, entdeckt die Wissenschaft einen Wahl-


zettel aus dem Jahr 1862, auf dem ein Theodor
Fontane für den Preußischen Landtag kandidiert,
und zwar auf der Liste der Konservativen: »Für König
und Vaterland«. Fontane wurde zwar nicht gewählt,
aber das dürfte nicht der einzige Grund gewesen sein,
warum er auf diese Episode nie auch nur mit einem
Wort eingegangen ist.
Für die Preußische Kreuzzeitung wird er dann als
Korrespondent an die Fronten der drei Einigungs-
kriege reisen, jener Kriege, die Bismarck erst gegen
Dänemark, dann gegen die Habsburger und schließ-
lich gegen Frankreich vom Zaun brach, um unter
preußischer Hegemonie die deutsche Einigung
herbeizuführen, für die die Nationalliberalen so
lange gekämpft hatten. Bismarcks Erfolg war dabei
so ungeheuerlich, dass es den meisten Liberalen
kleinlich erschien, nun über die mangelnde demo-
kratische Freiheit zu mäkeln. Hatte Bismarck nicht
recht behalten mit seiner höhnischen Einschätzung,
die Einheit werde »durch Blut und Eisen« herbei-
gezwungen, nicht durch parlamentarische Reden
herbeigeschwätzt? Auch Fontane kann sich dem Sog
Bismarcks nicht entziehen. Nach dem Sieg über die
Dänen 1864 dichtet er: »Die Preußen sind die alten
noch / Der Tag von Düppel lebe hoch!«
Dass in Wahrheit das alte Preußen im neuen
deutschen Reich unterging, wie es einst der junge
Fontane gefordert hatte, das sollte dem alten Fontane
mit Wehmut vor Augen treten. Was die Gründerzeit
dann an neuen Menschen nach oben spülte, war je-

denfalls nicht immer von dem Format der Gestalten,
die Fontane in seinen Wanderungen eingefangen
hatte. Sein Herz schlug für den märkischen Adel, für
die Quitzows, die Marwitzens und die Schulenburgs,
für die Zietens und Kattes. Man kann aber nicht
sagen, dass der Adel Fontanes Liebe erwidert hätte.
Er ließ ihn vor auf seine Schlösser zu Stippvisiten,
damit er sich für die Wanderungen mit seinem Stoff
vertraut machen konnte, teilhaben ließ er ihn nicht.
Den Standesdünkel spürte Fontane ein Leben lang
auf demütigende Art und Weise.
Wer ihn hingegen unterstützte, bewunderte, för-
derte, das waren die Juden. In einem Gedicht, das er
sich ironisch selbst zu seinem 75. Geburtstag schreibt,
wundert er sich, warum von denen, über die er ein
Leben lang geschrieben hatte, den Junkern, keine
Glückwunschadressen eingingen, Gratulationen hin-
gegen kämen von ganz anderer Seite:

»Aber die zum Jubeltag da kamen,
Das waren doch sehr, sehr andre Namen, (...)
Abram, Isack, Israel,
Alle Patriarchen sind zur Stell’.«

Zu den Ambivalenzen, die der Fontane-Leser er-
tragen muss, gehört ein Alters-Antisemitismus, der
es zwar kaum in die Romane schafft, als wehrten
sie sich gegen jede Form des Stereotyps, der aber in
seinen Briefen immer wieder aufblitzt. Dieser
Anti semi tis mus überrascht, weil er so gar nicht zu

Fontanes liberalem Antidoktrinismus zu passen
scheint. Sein Antisemitismus hat auch nichts mit
konkreten Personen zu tun, sondern mit der Schi-
märe eines Judentums, das er, man muss es so sa-
gen, für ein Unglück hält.
In den Fünfzigerjahren hatte Fontane in einer
Literaturkritik Gustav Freytags rassistischen Roman
Soll und Haben, eine Verklärung des Bürgertums, für
dessen negative Stereotypien über Juden kritisiert.
Aber damit man ihn nicht missverstehe, fügte er
hinzu: »Der Verfasser mag uns glauben, wir zählen
nicht zu den Judenfreunden, aber trotz alledem
würden wir Abstand nehmen, in dieser Einseitigkeit
unsere Abneigung zu bestätigen.«
Dieses Ressentiment scheint ihm eine solche
Selbstverständlichkeit zu sein, dass man es nicht
weiter begründen muss. Über Georg Friedlaen-
der, einen jüdischen Amtsrichter, mit dem ihn
eine jahrelange, herzliche Brieffreundschaft ver-
band, schreibt er, dieser sei einfach ein »Stock-
jude, so sehr, dass seine feine und liebenswürdige
Frau blutige Tränen weint, bloß weil ihr Mann
die jüdische Gesinnung nicht los werden kann«.
Worin diese »jüdische Gesinnung« besteht, wird
nicht gesagt, nur dass sie so stark sei, dass alle
Versuche der Assimilation vergeblich seien.
Dann fügt er wieder einen Satz zum Haare raufen
hinzu: »Und das alles sage ich (muss es sagen),
der ich persönlich von den Juden bis diesen Tag
nur Gutes erfahren habe.«

Noch kurz vor seinem Tod schreibt Fontane,
in Berlin wimmele es vor Juden. Die Vorstellung
scheint ihn regelrecht körperlich zu bedrohen,
aber dann reißt er sich gewissermaßen am Riemen
und fährt fort, dass man aber auch kein Anti semit
sein dürfe, »weil das wieder zu dumm und zu roh
sein würde«.
In seinen Romanen, die mit den Borniertheiten
und Vorurteilen der preußischen Gesellschaft scharf
ins Gericht gingen, war für diese Dummheit kein
Platz. Aber es bleibt festzuhalten: Fontane verkör-
perte das 19. Jahrhundert wie kein Zweiter, seine
politischen Hoffnungen, seine Illusionen und seine
Sentimentalitäten – und auch jenen Antisemitismus,
der dreieinhalb Jahrzehnte nach Fontanes Tod zur
Staatsreligion erhoben wurde.

Drei neue Biografien zu Theodor Fontane liegen
diesem Text zugrunde: Am detailliertesten, bisweilen
etwas zu langatmig erzählt Regina Dieterle Fontanes
Leben (»Theodor Fontane. Biographie«, Hanser Verlag,
832 S., 34 Euro). Hans Dieter Zimmermann verbindet
in seiner Biografie »Theodor Fontane. Der Romancier
Preußens« souverän Werkdeutung und Zeitgeschichte
(C. H. Beck Verlag, 458 S., 28 Euro).
Iwan-Michelangelo D’Aprile setzt in »Fontane.
Ein Jahrhundert in Bewegung« (Rowohlt, 568 S.,
28 Euro) den Akzent auf die beginnende Moderne

A http://www.zeit.de/audio


THEODOR FONTANE


Hanna Schygulla als Effi Briest (links) in Rainer Werner Fassbinders Romanverfilmung, 1974


Foto (Ausschnitt): United Archives/Roba Archiv/Süddeutsche Zeitung Photo; Ornamente: ZEIT-Grafik

Fontane ist besser


Gustave Flauberts »Madame Bovary« gilt als der große kritische Eheroman des 19. Jahrhunderts. Unser Autor hat gute Gründe zu behaupten:


Fontanes »Effi Briest« ist das noch größere, weil humanere Kunstwerk VON JENS NORDALM


E


s war ein glücklicher Zufall: die
Wiederlektüre von Effi Briest und
Ma dame Bovary, in dieser Reihen-
folge. Wieder die unendliche Sym-
pathie für einen der menschen-
freundlichsten Schriftsteller über-
haupt. Effi Briest und Der Stechlin,

ewige Lieblinge. Dann Flaubert. Und die Empö-


rung wuchs über die vierhundert Seiten. Als Stu-


dent nimmt man offenbar alles hin. Die Grausam-


keit dieses Autors gegen seine Figuren ist grenzen-


los – was übrigens schon die ersten französischen


Rezensenten 1857 mit Befremden empfanden.


Natürlich, vorweg: Das ist Flauberts »Modernität«.


Das ist seine Stellung in der Geschichte der Literatur


als Erfinder des sogenannten »unpersönlichen Ro-


manstils«. Kalt. Nüchtern. »Wissenschaftlich«. Hart.


Geschrieben mit einer »Feder aus Stein« – so ein


Kritiker damals. Also geschenkt: »Modern« ist es. Aber


muss man es deshalb mögen? Gern lesen? Im Lesen


unerfüllt die Konsequenz bewundern, mit der Flau-


bert Liebe verweigert?


Effi und Emma: zweimal Ehebruch und Tod. Aber


die erzählerischen Haltungen sind derart verschieden


und zugleich die Parallelen, die bei der Nach ein an der-


lek tü re ins Auge springen, derart zahlreich – des Ro-


manpersonals, der Motive, einzelner Szenen gar –, dass


man schnell einen elektrisierenden Verdacht hat. Der


Literaturwissenschaftler Wolfgang Matz hat ihn 2014


über viele Indizien bestätigt: Effi Briest ist eine Ant-


wort auf Emma Bovary! »E. B.« ist nur der bündigste


Hinweis. Auch Fontane muss über Flauberts Buch


empört gewesen sein. Und machte sich an die Arbeit,


es besser, jedenfalls ganz anders zu machen. Allerdings


war auch Wolfgang Matz, wie viele vor ihm, der Mei-


nung, Fontane habe es vor allem schlechter gemacht.


Matz bemängelte unter anderem, zu vieles bleibe


bei Fontane undeutlich. Was denn da eigentlich genau


war zwischen Effi und Major Crampas – und warum,


und wann, und wo. Oder warum Effi die verräteri-


schen Briefe nicht verbrannt hat. Das fand Matz auch


erzählerisch plump und unbefriedigend. Aber es gibt
auf diese Fragen durchaus Antworten. So sagt Effi
einmal, sie glaube nicht an die befreiende Wirkung
des Verbrennens von Papier. Und was mit Crampas
war, spiegelt sich in ihrer Befangenheit. Manche
Frage verdampft auch in der Nähe und Atmosphäre
dieser Figuren, die uns einsichtig und lesbar werden,
auch ins Nichtausgeführte hinein.
Nun denn – wie heikel es auch sein mag, eta blier-
te Ranglisten der Weltliteratur zu bezweifeln: Für ein
eindeutiges Lesegefühl zugunsten Fontanes müssen
sich Gründe nennen lassen. Alles läuft auf die Frage
hinaus: Warum sollten wir erzählerische Gnadenlosig-
keit besser finden müssen als Milde und Dis kre tion?
Warum Gehässigkeit besser als Güte? Warum
Flauberts antiromantische Programmkunst besser als
Fontanes humane Tragik? »Realistisch«, wie oft ge-
meint, ist Flauberts lieblose Farce jedenfalls nicht:
Ausnahmslose Beschränktheit und Lächerlichkeit sind
nicht realistisch.
Madame Bovary ist aus Tausenden Seiten Manu-
skript herausgeschält, aber das Buch wirkt immer noch
zu lang: dafür, dass man schnell die Unerträglichkeit
begriffen hat, die es bedeutet, mit Charles Bovary ver-
heiratet zu sein. Und dafür, dass man genauso schnell
den Überblick über die wiederkehrenden Stadien von
Emma Bovarys Verachtung, Langeweile und Unaus-
gefülltheit verliert. Wenn wenigstens diese Unaus-
gefülltheit ihre Größe hätte! Aber sie ist so niedrig wie
alles andere. Auch bei Fontane bekommt man früh
Hinweise, dass das keine Komödie wird. Aber wie die
fatalen Entwicklungen sich in Konstellationen guten
Willens motivieren und ereignen, wie die Menschen
sich um ihr Glück bringen, das will man lesen. Bei
Flaubert bringen sie sich um nichts, was der Rede wert
wäre. Überall mechanisch-uhrwerksmäßige Offen-
sichtlichkeit im gleichbleibend Unerfreulichen. Man
weiß, wie skrupulös Flaubert mit den Sätzen war – mit
den Menschen macht er sich’s leicht. Es ist am Ende
eine auch moralische Frage ans Künstlertum: Wie
hältst du es mit den Menschen?

Was ist nachdenkenswerter: die Sehnsucht nach
etwas anderem angesichts eines in ausnahmslos jeder
Situation unangenehmen Ehemannes – peinlich, lä-
cherlich, dumm, sentimental; ob sprechend, schlafend
oder wachend? Oder jene gleiche Sehnsucht angesichts
eines respektablen, ernsten, schönen Mannes von
erheblicher Sensibilität?
Fontanes Menschen bemühen sich, die Dinge
richtig zu machen, sie legen Rechenschaft ab, sie ver-
suchen ihre Gefühle zu ergründen – und dennoch
sind am Ende alle versehrt. Bei Flaubert wundert
einen gar nichts – üble Erfahrungen für üble Men-
schen. Bei Fontane ist über keinen der Stab gebrochen,
bei Flaubert über alle (bis auf Justin, um genau zu sein,
den Emma anbetenden Dienstjungen). Bei Fontane
liebt man die Protagonisten, und sie mögen und lieben
sich auch gegenseitig, man möchte mit ihnen Umgang
haben und wünscht ihnen Glück; bei Flaubert schämt
man sich für sie. Genaue Beobachtungen zu schlech-
tem Gewissen und Unehrlichkeit – die Schatten, die
sie blitzschnell auf die Seele werfen – kann nur Fon-
tane anstellen; für derlei moralische Feinheiten besteht
bei Flauberts Personal kein Bedarf. Bei Fontane er-
schüttert die Fallhöhe zwischen der Liebens- und Res-
pektwürdigkeit der Menschen und ihrem fürchter-
lichen Schicksal; bei Flaubert zuckt man die Achseln
über das Los dieser Bagage.

D


azu die Erzählweise selbst. Bei Fon-
tane die behutsame Annäherung an
die Figuren vorwiegend über das,
was sie im Dialog sagen; bei Flau-
bert die geradezu brutale Überdeut-
lichkeit des auktorialen Erzählers. Die unfassbar
schönen und intelligenten Dialoge Fontanes sind
als »Plaudern« mehr verharmlost als gewürdigt wor-
den. Sie sind viel mehr. Man lernt aus ihnen alles:
was der Sprechende mit seinem je eigenen Ton für
ein Mensch ist, wie die Sprechenden zu ein an der
stehen und nebenbei, was das für eine Zeit ist, das
frühe Kaiserreich in Berlin, Brandenburg und Pom-

mern.Bei Flaubert ist alles Reden Gerede – Lug und
Trug und Phrase, eine schale Komödie auf Kosten
der vorgeführten Menschen. Die Dialoge dienen
dazu, die Figuren bloßzustellen. Man will sie gar
nicht reden hören. Es tut sich eine Enge kund, die
einfach nicht stimmen kann. Nicht stimmen kann
vielleicht auch die ruhige, heitere, ernste und ernst
zu nehmende Menschlichkeit, die sich in den Dia-
logen Fontanes entfaltet. Aber welches Nicht-stim-
men-Können ist einem lieber?
Kaum vorstellbar, dass jemand nicht Fontanes
Menschen denen Flauberts vorzieht. Man kann sie ja
wunderbar vergleichen. Die beiden Apotheker: Fon-
tanes Gieshübler wird man nicht vergessen, den no-
blen, hingebungsvollen Mann. Die Pfarrer: Fontanes
Niemeyer möchte man predigen hören und um sich
haben (wie den Pastor Lorenzen im Stechlin), während
der fettbesudelte und ordinäre Bournisien sich präch-
tig einreiht in Flauberts Karikaturen. Die Ehemänner:
Innstetten verliert in keinem Moment unseren Res-
pekt, zumal am trostlosen Ende, zweifelnd und ein-
sam. Die Liebhaber: Crampas ist ein beeindruckender
Mann, der die Konsequenzen seines Handelns mit
kraftvoller Melancholie annimmt; während die Lieb-
haber Emmas jämmerliche Gestalten sind und blei-
ben. Die Ehefrauen: Effi liebt und versteht man;
während man vergeblich in sich nach Mitgefühl für
Emma sucht. Schließlich die Eltern: Die Bovarys
zeichnen sich durch ungemischte Bösartigkeit und
Eigensüchtigkeit aus; während das Ehepaar Briest sich
als Paar-Modell einbrennt: ihr milder Spott mit ein-
an der, voller Zuneigung und Selbstverständlichkeit,
die heiter-distanzierten gegenseitigen Pointen, die
plausible Mischung aus Emotionsunterdrückung und
rückhaltloser Elternliebe. Sie können am Ende die
Entwicklung der Dinge, nach ihrem Koordinaten-
system, nur in Ordnung finden und werden weiter-
leben in ihrer Welt – aber sie werden weiterleben ohne
Effi, tonlos und fahl. Selbst die Struktur des Romans


  • bei Flaubert im Kontinuum der höhnischen Ab-
    rechnung kaum erkennbar – scheint bei Fontane


zwingender: vier Stadien an drei Schauplätzen, in
klaren Proportionen, die seelischen Stadien gehen mit
Ortswechseln einher, Kopf- und Schlussteil am glei-
chen Ort, im elterlichen Herrenhaus Hohen-Crem-
men, eine Rückkehr am Ende in die Kindheitssitua-
tion, eine erschütternde zeitliche und räumliche Nähe
von Kindheit und Tod.
Die wiederholende Lektüre des Buches offenbart
das kunstvolle Gewebe unzähliger Vorzeichen sym-
bolischer Vorgänge, unwissentlicher Vorausdeutungen
der Figuren auf das eigene Schicksal, von Zweideutig-
keiten, Schwanken und Schritten ab vom Wege.
Kaum übertrieben: Jeder dritte Satz bedeutet auf die
Gesamthandlung bezogen noch etwas anderes als im
unmittelbaren situativen Kontext.

U


nd wie zwingend das langsame und
lange Ende, Effis Verstoßensein und
Siechen. Dass sie das alles krank zum
Tode macht, wer fände das unplausi-
bel? Ihr Zusammenbruch nach der
unendlich traurigen Szene, in der sie nach Jahren
wieder ihrer zehnjährigen Tochter gegenübersteht
und in immer neuen Anläufen das verbindende
Wort und Gefühl zu ihrem Kind vergeblich sucht


  • wen wundert der? Schwer zu verdauen, dieser
    Tod – aber nicht schwer zu verstehen, aufs poe-
    tische Ganze gesehen. Sie gibt, wie ihre Eltern, Inn-
    stetten recht und sich die Schuld – und ist dabei
    doch versöhnt mit ihrem Tun. Schuldig unschuldig
    wie alle. Ein letzter Einspruch Fontanes gegen Flau-
    bert: Effi geht wie frei in den Tod; Emma unfrei in
    den Freitod, rettungslos kompromittiert und wie
    ein Tier in der Falle.
    Thomas Mann hat Flaubert einen »Menschenver-
    ächter« genannt und über die Versuchung des heiligen
    Antonius notiert, das Buch sei »im Grunde auch nur
    ein phantastischer Katalog aller menschlichen Dumm-
    heiten« – wie man das von Flaubert kenne. Effi Briest
    hat er zu den sechs Bänden seiner »Romanbibliothek
    der rigorosesten Auswahl« gezählt.


Mal Revolutionär, mal ... Fortsetzung von S. 55



  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
    o
    56 FEUILLETON 41

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