Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

W


as für eine unglaubliche, überwältigende, ja
im Sinne des Wortes kosmische Idee! Und
dann steht diese Idee in großartiger Beiläufig-
keit gleich auf der ersten Seite: Der See, von dem Fon-
tanes Roman Der Stechlin handelt, ist nämlich nicht
irgendein See, er ist ein empfindsamer See – ein Seismo-
graf. Der Stechlin spürt, wenn die Welt aus den Fugen
gerät, wenn es auf Island brodelt oder eine Revolution
übers Land fegt. Die Natur, das ist die Idee, fühlt mit,
sie kennt den Zustand der Weltseele: »Alles still hier.
Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an ebendieser Stelle
lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei’s
auf Java, sei’s auf Island, zu rollen und zu grollen be-
ginnt ... Dann regt sich’s auch hier, und ein Wasserstrahl
springt auf und sinkt wieder in die Tiefe.«
Klar, in diesen Sätzen beschreibt Fontane nicht
nur einen geheimnisvollen märkischen See, er lüftet
darin zugleich das Geheimnis seines Romans: Der
Stechlin ist selbst ein Seismograf, ein narratives Feld,
auf dem die Denk- und Ereignisströme des ausgehen-
den 19. Jahrhunderts zusammenlaufen. Ganz in der
Nähe des Sees, auf dem Anwesen des verwitweten
Junkers Dubslav von Stechlin, gibt sich das Personal
dieser Spätzeit ein Stelldichein, hier trifft man preu-
ßische Altkonservative, gusseiserne Reaktionäre,
stocksteife Kaiserliche, prinzipienlose Liberale, pro-
gressive Pastoren, kosmopolitische »Weibsbilder« und
siegreiche Sozialdemokraten. Und im Hintergrund
immer die Berliner Klassenkämpfe: »Der Bourgeois
tut nichts für die Menschheit. Und wer nichts für die
Menschheit tut, muß abgeschafft werden.«
Der Stechlin ist auf aufregende Weise ereignisarm,
denn Fontane gelingt es, das Wetterleuchten der Zu-
kunft allein in den Gesprächen abzubilden. Das Alte
ist faul und morsch, es muss untergehen, doch die Ge-
stalt des Neuen, das drohende 20. Jahrhundert, ist nur
in Umrissen zu erkennen. Fontane, der 1898 kurz vor
der Veröffentlichung seines Roman starb, trauert über
das Unwiederbringliche, vor allem trauert er über den
Tod des Patriarchen mit all seiner Humanität und
Herzensgüte. Es ist nicht so, dass Fontane die Demo-
kratie ablehnte, sie musste sein; doch er ahnte: Die
Zukunft bringt einen Kapitalismus der Seelen; das Geld
wird die Menschen einander fremd machen, während
eine falsche Gleichmacherei ihnen jeden Eigensinn aus-
treiben wird. Das kommende Zeitalter wird Dinge
zerstören, die es nicht verdient haben, zerstört zu wer-
den. Unruhig ist der See. THOMAS ASSHEUER

Der Stechlin ist ein


empfindsamer See


K


önigliches Schauspielhaus Berlin, Parkettplatz
Nr. 23 – das war Fontanes Arbeitsplatz, eine in
den Gang ragende Ecke, auf welcher er den

Fußtritten vorbeieilender Zuschauer und den Blicken


der Schauspieler ausgeliefert war. Hier saß er, das Ge-


genteil eines reisenden Kritikers. Er fuhr nicht durch


die Welt, die Welten fuhren durch ihn.


Zwanzig Jahre lang saß er da, von 1870 bis 1890,


von seinem fünfzigsten bis zu seinem siebzigsten


Lebensjahr. Natürlich nicht immer. Aber oft genug,


um, wie man heute sagen würde, »der Elefant im


Raum« zu sein. Seine Anwesenheit teilte sich Spielern


und Pu bli kum mit. Er sprach zu beiden, er war beider


Kritiker. Beispielsweise merkte er am »ruralen Lachen«,


wenn unzulässig gut gelaunte Zugereiste, also: unge-


lernte Zuschauer im Saal waren, die immer »am un-


rechten Platz« lachten. Mit eleganter Resignation


schrieb er gegen Ende des 19. Jahrhunderts, dass ein


Berliner Parkettpublikum aus den 1830er-Jahren sich


im Grabe umdrehen würde, »wenn es seinen Nach-


wuchs beobachten könnte«.


Schauspieler wurden von ihm verfolgt. Über die


Jahre begleitete er sie mit strenger Treue. Manieris-


men sah er mit genussvollem Widerwillen, sodass der


betroffene Künstler sich, je nach Stimmung, vernich-


tet oder ge adelt fühlen konnte – er war jedenfalls in


die Literatur eingegangen. Über das Augenspiel des


Schauspielers Maximilian Ludwig schreibt Fontane:


»Jetzt steht die Pupille in den rechten Augenwin-


keln, wie der Mond im ersten Viertel; nun geht der


Mond im vollen Glanze auf, aber, wie es in der Balla-


de heißt: ›Er geht nur auf, um unterzugehen.‹ Ein


neues Fallen unter die Augenlider, als steige er in eine


Versenkung, und alles ist wieder weiß, wie das Ziffer-


blatt einer Emailleuhr.«


So dienten ihm alle Darsteller als Spielpartner und


-material. Der besagte Herr Ludwig etwa hätte mit


seinen gleichsam gebleckten Pupillen die Gruppen-


szene eines Fontane-Romans erhellen können. War


der Kritiker also ein genialer Schmarotzer, der die Fi-


guren seiner Erzählwerke mit den Spleens und Tics


spickte, die ihm die Dramatik lieferte?


Theodor Fontane hätte diesen Zusammenhang


von sich gewiesen. Er empfand sich nicht als »Oger,


der umgeht, daß er dramatische Kinder verschlinge«.


Nein, er erkannte in sich »den alten König Harald,


der sich von heiteren Elfen überfallen und vom Sattel


ziehen läßt«. Unter einer Bedingung: »Aber die Elfen,


die Elfen! Die müssen eben da sein, die kleinen, gra-


ziösen, übermütigen Geschöpfchen, die jede Kritik


entwaffnen.« PETER KÜMMEL


Auf Parkettplatz Nr. 23


sitzt immer der Kritiker


D


ie nach Fontane-Angaben eigentlich wich-
tigste Figur des Romans ist Stines Schwester,
die Witwe Pauline Pittelkow, eine sogenannte
Berliner Schnauze (unverstellt, ehrlich, bodenständig)
aus dem Kleinbürgertum. Sie hat zwei Kinder von
zwei Männern und ein Verhältnis mit dem Grafen
Sarastro, der für ihren Unterhalt sorgt. Die Handlung
von Stine soll hier aber nicht erzählt werden, man
kann sie bei Fontane nachlesen. Wenn man viel Zeit
hat und nicht nervös ist, ist es unterhaltsam, sich auf
seine Sprache voller Verzierungen einzulassen, dabei
Wörtern zu begegnen, von denen man noch nie ge-
hört hat (perorieren, expatriieren), und sich darüber
zu freuen, dass Preußen in Alltagsgesprächen heute
kaum mehr eine Rolle spielt, denn glaubt man Fonta-
ne, so haben die Menschen damals wirklich so selbst-
verständlich und regelmäßig über Preußen geredet wie
wir heute über den Tatort oder Kanye West.
Außerdem bemerkenswert ist natürlich, wie ak-
tuell einige der Konflikte des Romans noch immer
sind: Die Titelheldin Stine sorgt sich um die Beschä-
digung ihres guten Rufs als Frau, der direkt im Zu-
sammenhang steht mit ihrem Beziehungsverhalten
gegenüber Männern, und diese Sorge könnte man für
unzeitgemäß halten, aber auf den Pausenhöfen nen-
nen Jungs Mädchen noch immer »Schlampe«, um sie
besonders effektvoll zu beleidigen. Und wenn man so
will, ist natürlich auch Pauline Pittelkows Verhältnis
mit dem Grafen Sarastro, der sie finanziert und dieses
Abhängigkeitsverhältnis ausnutzt, absolut zeitgemäß
(Harvey Weinstein).
Es ist dann auch genau dieser Sarastro, der mit Bezug
auf den Standesunterschied zwischen Stine und dem
Grafen Waldemar bemerkt: »›Sei im Besitze und du bist
im Recht‹ ist vorläufig noch für uns geschrieben. Warum
sich selbst um diesen Besitz bringen und auf eigene
Kosten eine Zukunft heraufbeschwören, von der viel-
leicht keiner profitiert, und wir gewiß nicht.« Diese
Grafen-Warnung wiederum ließe sich fantastisch auf
den aktuellen Diskurs um sogenannte identitätspoli-
tische Fragen und das Thema weiße Privilegien über-
tragen. Die Frage ist allerdings, ob Fontane nun be-
sonders prophetisch war oder ob der Autor gewisserma-
ßen gar nicht anders konnte, als diese herkunfts- und
geschlechtsbezogenen Machtverhältnisse in seinen
Romanen abzubilden, weil sie von jeher so angelegt sind
und nun mal lange, wirklich lange brauchen, um sich
zu verschieben. ANTONIA BAUM

Warum Stine sich um


ihren Ruf Sorgen macht


J


enny, Corinna und die Schmolke, diese drei! Wer
je wissen wollte, was das Besitzbürgertum in
Deutschland vom Bildungsbürgertum und vom
Kleinbürgertum unterscheidet, der sieht die drei
Varianten unerbittlich in den drei Frauen verkörpert,
die Theodor Fontane für den unbeschwertesten sei-
ner Romane erfand: Frau Jenny Treibel, von Januar bis
April 1892 in der Deutschen Rundschau vorabge-
druckt und bis zur letzten Folge ganz ohne Selbst-
mord, ohne Scheidung (na ja, fast), ohne Ehebruch,
Mord, Wahnsinn, was ja viel heißt bei Fontane. Doch
muss man sich die Frauen, bloß weil sie sich nicht
umbringen, nicht als glücklich vorstellen. Ihr dreifach
bürgerliches Glücksverpassen ist es, was diesen Roman
unsterblich macht.
Erstens, besitzbürgerlich: Jenny Treibel ist »der
Typus einer Bour geoise«, da hat er recht, der alte Pro-
fessor Schmidt. Er muss es wissen. Denn die geborene
Bürstenbinder ist als junge Frau gewissermaßen über
seine Leiche gegangen: Statt seiner Gedichte und sei-
ner klassisch gebildeten Liebe wählte Jenny den kur-
zen Weg zum Geld qua Heirat mit Kommerzienrat
Treibel, ist seither beleibt und konvertiert ihre Sehn-
sucht ins Sentimentale.
Zweitens, bildungsbürgerlich: Corinna, die Toch-
ter von Schmidt, der sie ein »Glückskind« nennt,
blitzgescheit. Doch geht sie schier ein in des Profes-
sors gelehrter Enge, in der es Teltower Rübchen,
Wellfleisch und Pindarverse zum Essen gibt, sehnt
sich hinaus, Richtung Treibels. Und konvertiert die
Sehnsucht zuletzt in Vernunft. Noch während sie sich
verlobt, wird Corinna ihren Künftigen fragen: »Aber
wer ist glücklich? Kennst Du wen? Ich nicht.«
Drittens, kleinbürgerlich: die Schmolke. Sie war
auf ihre Art immerhin nicht unfroh, früher mal, als
Schutzmann Schmolke noch lebte. Nun ist sie Haus-
hälterin bei den Schmidts und führt, im Übrigen
sehnsuchtslos, stets die Worte des Schutzmanns im
Mund, leider fast ausschließlich diese.
»Das große Glück ist ein Märchen«, sagt also
Schmidt, und auch, dass die bourgeoise Treibelei ein
einziger Irrtum sei. Der gute Mann weiß sogar um die
eigenen Grenzen: »Wenn ich nicht Professor wäre, so
würd ich am Ende So zial demo krat.« Das Heiraten
allein hilft jedenfalls nicht gegen das Verpassen des
Glücks, und die Bourgeoisie zivilisiert man nicht, in-
dem man ihr bloß im Ehebette zu Leibe rückt. Das
Ganze ist fast unverschämt heiter erzählt, bis zuletzt:
im Grunde märchenhaft. ELISABETH VON THADDEN

Jenny Treibel


verpasst ihr Glück


THEODOR FONTANE


Was wird das neue Jahr wohl
bringen? Theodor Fontane,
in die Zukunft blickend,
am Schreibtisch in Berlin.
Es ist der 30. Dezember 1894

Foto: bpk

Sein Werk, ein weites Feld


Ein Blick auf die Theaterkritiken des Schriftstellers – und auf die Romane »Stine«, »Frau Jenny Treibel« und »Der Stechlin«



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