Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1
Sterling Ruby
vor seiner
Kollektion

Foto (Ausschnitt): David Levene/Guardian/eyevine

Diese Gemälde kann man anziehen


Der Amerikaner Sterling Ruby befindet sich auf einem faszinierenden Grenzgang: Er ist Designer und Künstler zugleich VON INGEBORG HARMS


A


lle halbe Jahre widmet der New
Yorker eine Ausgabe der Mode.
Das dazugehörige ausführliche
Designerporträt gleicht einem
Ritterschlag. Diesmal nimmt
das Magazin den amerikani-
schen Künstler Sterling Ruby

unter die Lupe, der neuerdings auch als Modedesig-


ner auftritt. Ruby liebt alles, was nach industriellem


Abfall aussieht, seine Bilder und Objekte gleichen


den Unterlagen und Gussformen chemischer Lack-


und Ätzverfahren. Zugleich erinnert das spuren-


übersäte Material seiner Collagen an die zeitgenössi-


sche Version der Bluejeans, die schon vor dem Ver-


kauf so gebleicht, zerschlissen und fadenscheinig


gemacht werden, dass sie von den Abenteuern ganzer


Generationen raunen. Längst wildert die Mode im


angestammten Territorium der Kunst, wo es nicht


um das Neue, sondern um existenzielle Erfahrungen


und die Schattenreiche individueller Krisen geht.


Anders aber als die Produkte der Ripped-Jeans-


Industrie zeugen Sterling Rubys Collagen tatsächlich


von produktiver Arbeit im Künstleratelier. Er hat die


Matten und Schutzmaterialien nach ihrem Ge-


brauch einfach zurechtgeschnitten und an die Wand


gehängt – zu Kunst erhobene Abfallprodukte.


Vor drei Jahren machte Sterling Ruby in der


Galerie Sprüth Magers in London mit einer Aus-


stellung seiner Arbeitskleidung auf sich aufmerksam,


die so intensiv von Farbspritzern gezeichnet war, dass


sie tragbaren Jackson Pollocks glich. Wenn sich die


Mode ohnehin der Verfahren der Kunst bedient,


schien die Schau zu sagen, warum nicht als Künstler


von echter Lebenszeit gezeichnete Kleidung in einer


Galerie präsentieren? Nun sind Künstlerkleider kein


neues Phänomen. In Moskau, Mailand, Paris und


Weimar waren sich die Avantgarden des letzten Jahr-


hunderts nicht zu schade, auch in der Mode zu di-


lettieren. Der Designtheoretiker Ulrich Lehmann


allerdings sieht das von Künstlern als Einzelobjekt


entworfene Gewand nicht als Konkurrenz zur seriell


hergestellten Kleidung, die wir unter Mode verste-


hen. Als Mode gilt ihm ein Entwurf erst, wenn er


dem weiteren Konsum zugänglich ist, um so gesell-
schaftlich relevant zu werden.
Für Sterling Ruby gilt dieser Vorbehalt nicht
mehr. Denn seit die serielle Kleidung selbst das Se-
rielle verweigert und systematisch Fehler und Ab-
weichungen produziert, steht es dem Künstler frei,
diesen latenten Aura-Anspruch des maschinell pro-
duzierten Einzelteils explizit zu machen und zu ent-
larven, indem er die eigene, durch redliche Schufterei
verschmutzte Jeans ausstellt: als Effigie der Mühe und
investierten Lebenszeit, als persönliches Schweißtuch.
Der Modewelt war Sterling Ruby schon bekannt,
seit Raf Simons seine Werke zitiert. Zunächst 2012
bei seinem Debüt als Dior-Couture-Designer, zwei
Jahre später in seiner eigenen Herrenkollektion. Kein
Wunder also, dass Ruby nun selbst sein Glück in der
Mode testet und sich dabei optisch nicht weit von
seiner Work Wear-Schau in London entfernen muss.

Kleider sind bei ihm nachthemdartige,
wallende Angelegenheiten

Als Inspiration nannte Ruby die konservative Klei-
dung der Mennoniten und Amish im ländlichen
Pennsylvania seiner Kindheit. Das verrät einiges über
das Pathos, mit dem er seine Mode aufladen möchte.
Dank des Einsatzes von Enzymen, Mineralien,
Bleich- und Färbeprozessen verweist seine Kollektion
auf einen weiteren Einfluss: die Popkulturen seiner
Jugend. »Es musste zerrissen oder abgetragen aus-
sehen«, sagt der Künstler. Die Farbgebung erinnert
an individuelle Skateboard-Bemalung, die Batik-
Anmutung an Hippiekleider, die Unordnung an
Punk-Ideale – lauter Codes des Selbstgemachten, die
sich mit der schlichten, ausdrücklich gegen die
Moden gerichteten plain dress-Praxis der Mennoniten
überschneiden. Dabei ist es Rubys ganz eigene Art
der Camouflage, die ihn vom zeitgenössischen
Mode-Frohsinn à la Gucci abhebt. Das Irreguläre
und »Handgemachte« beweist, dass hier einer auf
Kunstniveau mit planen Flächen umgeht.
Die bespritzten »Malerhosen« kombiniert Ruby
mit handgestrickten XXL-Pullovern in irregulären

Mustern. Laut New Yorker konnte Raf Simons ihn
überreden, für den Strick Merinowolle statt Acryl zu
verwenden. Ruby hätte es lieber kratzig gehabt. Leg-
gins gibt es schon für 700 Dollar, limitierte Teile
bewegen sich im fünfstelligen Dollarbereich. Trotz
dieser Preise ist dem Künstler der für Luxusmode
charakteristische Qualitätsaspekt nicht wichtig. Er
bevorzugt das Armselige auch in den Materialien, die
idealerweise einer steifen Leinwand gleichen.
Die kastigen Schnitte mit hängenden Schultern
nähern sich selbst Gemälden an. Der menschliche
Körper jedenfalls war kein Maßstab für Rubys
Mode. Die Damentaille sitzt irgendwo, als Kleider
gelten nachthemdartige Walleangelegenheiten, die
Ponchos kann man sich geglättet bequem an die
Wand hängen, und die großen Lätzchen sind für
eine eventuelle Rahmung vorsorglich quadratisch
proportioniert.
Schon die Art-déco-Mode kannte diese Flächig-
keit. Sie stand nicht allen, doch als Übertragung
des Kubismus in Kleiderschnitte war sie interes-
sant. Auf Dauer jedoch zog die Frau (und der
Mann sowieso) gut geschnittene Mode vor, die die
Körperformen raffiniert zur Geltung brachte.
Trotzdem hat die Fläche ein Jahrhundert nach
dem Kubismus über den dreidimensionalen
Schnitt gesiegt. Die Wende kam in den Sechziger-
jahren, als die erwachsene Frau zugunsten der
Kindfrau aus dem Fokus der Designer geriet.
Pierre Cardin beschimpfte seine unerwünschten
älteren Kundinnen ungeniert als Hexen. Inzwischen
ist Mode zum globalen Breitensport geworden
und wird massenkompatibel hergestellt. Dabei
können spezifische Schnitte für bestimmte Figu-
rentypen nur stören. Die Plattformproduktion
großer Korporationen beliefert die unter ihrem
Schirm zusammengefassten Marken längst mit
den immer gleichen XXL-Cuts. Sie schließt hoch-
wertige Materialien, die zu einer skulpturalen Sil-
houette führen, von vornherein aus. So ist es ganz
logisch, dass das Augenmerk von der persönlichen
Passform auf interessante Oberflächen umgelenkt
wird. Und ein Grenzgänger wie Sterling Ruby

profitiert von diesem Abschied der Mode vom
menschlichen Körper.
2015 publizierte die Modetheoretikerin Femke
de Vries ein Manifest, das die Entwicklung auf den
Punkt bringt: Sie behauptet, dass das seit Adolf Loos
und dem Bauhaus unter Generalverdacht stehende
Ornament heute der zentrale Werterzeugungsaspekt
der Mode sei. Das Kleidungsstück in seiner materiel-
len Ausführung habe man hingegen zu dem degra-
diert, was einmal das Ornament gewesen war: einem
wesenlosen Anhängsel. Femke de Vries weist darauf
hin, dass der moderne Designer am flachen
Computer arbeitet. Es ist seine Aufgabe, Oberflächen
interessant und wertfördernd zu gestalten. Die
Kreativität widmet sich plakativen Symbolen und
Marketing-Identitäten, sie sollen ideelle Zugehörig-
keiten und innere Werte der Träger illustrieren. Es
geht, mit Boris Groys, um das Design der Seele. Die
Aufladung des Dekors mit ideellem Wert findet auf
Umwegen über Modekampagnen, die Musik- und
Sportszene, Fan sites und soziale Medien statt. Wäh-
rend die Kreativität ins Ornament auswandert, wird
die tatsächliche Gestaltung und Herstellung der
Mode inklu sive Material- und Schnittentscheidungen
Drittanbietern überlassen und unter den Argusaugen
der Controller möglichst preiswert realisiert.

Der Körper ist ein Lastenträger für
Ideologien; er hat kein Geheimnis mehr

Nike ist typisch für die aktuelle Modeindustrie.
Das Unternehmen besitzt keine Fabriken und
lagert die Sneaker-Herstellung in die ganze Welt
aus. Im Headquarter werden nur Konzepte und
Trend-»Philosophien« entworfen, etwa im dies-
jährigen Dream Crazy-Video, das Frauen dazu
ermuntert, gerade das zu verfolgen, was sie in den
Augen der Mitwelt verrückt aussehen lässt.
Die Landschaft neuer tribes und Parallelgesell-
schaften fördert ein Wuchern esoterischer Ornamen-
te, die wie Mitgliedsausweise funktionieren. Heute
bleiben sich die T-Shirts gleich, was variiert, ist nur
das demonstrative mentale Outfit. Es genügt zum

Beispiel nicht, sich bei Off- White, dem politisch
korrekten Label des ersten schwarzen Stardesigners
Virgil Abloh, einzudecken. Man sollte auch die Pro-
dukte seiner ständig wechselnden Kooperationen
besitzen, seien es jene von Ikea, Nike, Evian, Monc-
ler oder ASAP Rocky. Jedes Mal wird ein Lebensstil,
eine Weltanschauung »getaggt« und bis auf Weiteres
dem Reservoir des Coolen hinzugefügt. Der Körper
ist nur noch ein Lastenträger für Positionen und
Krypto ideo lo gien, er hat kein Geheimnis mehr, auf
das seine Kleidung verführerisch anspielen würde.
Die Mennoniten, die Sterling Rubys Kollektion
zitiert, gehen auf die Täuferbewegung des Friesen
Menno Simons zurück. Sie zählten zum radikalen
Flügel der Reformation, der sich für den Soziologen
Max Weber vor allem durch »innerweltliche Askese«
auszeichnete. Die damit einhergehende kommer-
zielle Aktivität der Sekte erklärte Weber mit dem
Gnadenwahl-Dogma, dem zufolge der Mensch von
Geburt an verworfen ist und einzig durch Gottes
Gnadenwahl erlöst werden kann. Als Beleg für die
persönliche Erwähltheit galt ein finanziell prosperie-
rendes Erdenleben, bei gleichzeitiger Enthaltsamkeit
von allen irdischen Freuden.
Gut calvinistisch handelt Rubys Mode von
Arbeit, sie kleidet nicht den Körper, sondern die
Moral. Wie viele zeitgenössische Künstler lehnt er
eine ironische Haltung ab. Der New Yorker
berichtet, dass Ruby bei seiner Kollektion zunächst
nicht zwischen Frauen- und Männermode unter-
scheiden wollte. Das hätte die Schnittfrage noch
einmal vereinfacht. Was er dann für seine weibliche
Kundschaft erdachte, kommt aus der Mottenkiste
der Biesen und Volants. Dieser Künstler-Designer
hat keinerlei Interesse an neuen Erscheinungs-
bildern und Silhouetten, erklärtermaßen möchte
er nur seine Leinwände für möglichst viele Men-
schen sichtbar machen. Den Soundtrack der Show
in Florenz hat er selbst getrommelt, die Foto drucke
lieferte die Fotografin Melanie Schiff, seine Ehe-
frau. Sie hat auch das Kampagnenvideo gedreht.
Klingt wie ein mennonitisches Do-it-yourself-
Projekt: Der Erlös bleibt in der Familie.

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ThomasAndré,HamburgerAbendblatt


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DanielKaiser,NDR

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