Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1
Olaf Scholz und Klara
Geywitz stellen sich in
Braunschweig den Fragen
von SPD-Mitgliedern

Foto: Sebastian Dorbrietz für DIE ZEIT

Im Kerker der Vernunft


Für viele Sozialdemokraten ist Olaf Scholz das Gesicht der Krise. Trotzdem könnte er bald gemeinsam mit Klara Geywitz die Partei führen.


Eine Geschichte über die Macht der Sprödheit VON PETER DAUSEND


A


ll is Vanity, »Alles ist Eitelkeit«,
oder auch: »Alles ist Vergeblich­
keit«. Eine junge Frau sitzt vor
einem Schminktisch und be­
wundert sich selbst in einem
Spiegel. Entfernt sich der Be­
trachter ein wenig, sieht er et­

was ganz anderes: einen menschlichen Schädel. All


is Vanity heißt ein Werk des amerikanischen Malers


und Grafikers C. Allan Gilbert aus dem Jahr 1891,


es ist sein berühmtestes. Schönheit und Tod, zur


Einheit vermählt.


Wer dächte da nicht an die SPD?
Eitelkeit, vor allem die intellektuelle, ist eine

Eigenschaft, die dem Mann, um den es hier geht,


nicht fremd ist. Und Vergeblichkeit die chronisch


gewordene Gemütsverfassung seiner Partei. Wenn


man Olaf Scholz in diesen Tagen begleitet, ihn bei


mehreren der 23 Etappen der Bewerbungstour für


die Führung der SPD beobachtet, ihn trifft und


mit ihm spricht, fühlt man sich irgendwann an


die Vexierbildkunst eines C. Allan Gilbert und


seiner Kollegen erinnert: Aus der Nähe betrachtet


sieht man einen Kandidaten, der seine Genossen


eher belehrt als begeistert; einen Redner, den an­


dere an Dynamik, Schlagfertigkeit und Leiden­


schaft locker übertreffen; einen Vizekanzler, der


sich fragen lassen muss, warum gerade er, da er ja


die SPD mit in die Krise geführt hat, das Gesicht


der Erneuerung sein soll. Entfernt man sich ein


wenig und lässt die Mehrzweckhallen sozialdemo­


kratischer Selbstsuche hinter sich, erkennt man in


Scholz etwas anderes: den voraussichtlich nächs­


ten Vorsitzenden der SPD. Sprödheit und, nun ja,


Macht, in einer Kandidatur vereint.


Seine schärfsten innerparteilichen Kritiker ha­


ben, sobald sie Scholz erblicken, allerdings ein


eigenes Vexierbild vor Augen. Sie sehen zum einen


die Schönheit des Oppositionsdaseins ohne ihn –


und zum anderen den Tod ihrer Partei unter ihm.


Wie passt das alles zusammen?
Seit rund 17 Jahren gehört Olaf Scholz, 61, zu

den prägenden Figuren der deutschen So zial demo­


kra tie. In dieser Zeit war er Generalsekretär, parla­


mentarischer Geschäftsführer der Bun des tags frak­


tion, Arbeits­ und Sozialminister, stellvertretender


SPD­Chef, Erster Bürgermeister von Hamburg sowie


kommissarischer Parteivorsitzender – aktuell ist er


Vizekanzler und Finanzminister. Sein gesamtes


politisches Schaffen hat Scholz stets an einer einzigen


Frage ausgerichtet: Ist das vernünftig?


Angesichts von fünf Millionen Arbeitslosen


schien es einst vernünftig, den So zial staat mit der


Agenda 2010 umzubauen. Maßnahmen mitzutra­


gen, die man für falsch hält – wie Scholz es tat –,


war auch vernünftig, da ein Generalsekretär zu­
allererst loyal sein muss. Sozialwohnungen zu
bauen, wenn man erkennt, dass die Mieten stei­
gen, ist ebenso vernünftig, wie in einer Finanz­
und Wirtschaftskrise Kurzarbeitergeld einzufüh­
ren. Aber ist es auch vernünftig, wenn ein sozial­
demokratischer Finanzminister seine Partei wei­
ter in einem mentalen Gefängnis festhält, in das
sie sich bereitwillig hat einsperren lassen? Sozial­
demokraten können nicht mit Geld umgehen –
in diesem Urteil der anderen ist die SPD einge­
kerkert. Indem Scholz sich nun weigert, ange­
sichts von Digitalisierung und Klimakrise jene
Investitionsprogramme aufzulegen, die seine
Partei sich wünscht, verstärkt er die Gitterstäbe.
Aus seiner Sicht ist vernünftig nur, was der Wäh­
ler dafür erachtet: das Geld zusammenzuhalten.
Volkswirtschaftlich betrachtet kann diese Ver­
nunft durchaus unvernünftig sein.
Scholz ist laut Umfragen
der aktuell beliebteste SPD­
Politiker. Wäre es da nicht
vernünftig, den Vernunftler
gemeinsam mit seiner ähn­
lich veranlagten Mitstreite­
rin Klara Geywitz an die
Spitze der SPD zu wählen?
Doch auch im Bild des
Vernunftpolitikers versteckt
sich ein anderes, nämlich
die Angst, dass die Ver­
nunft die Partei in den Ruin getrieben hat und es
weiter tun wird.
Die Verlängerung der Vernunft ist der Op­
portunismus. Und aus der Sicht seiner Kritiker
ist Scholz stets jemand gewesen, der sich dem
falschen Zeitgeist angepasst hat. Norbert Walter­
Borjans, der ehemalige Finanzminister von
Nordrhein­Westfalen und ein Mitbewerber um
den Parteivorsitz, hält ihm das immer wieder vor.
Ohne Scholz namentlich zu nennen, spricht er
dann von den »Fahrern des SPD­Busses«, die in
den Nullerjahren die »falsche Abzweigung ge­
wählt« hätten – die »in die neoliberale Pampa«.
Dorthin also, wo das Elend der SPD begann.
So widerspruchslos sich Scholz in den Augen
seiner Kritiker damals ins sozialdemokratische
Nimmerland begab, so bereitwillig beuge er sich
heute dem Dogma strikter Haushaltsdisziplin.
Walter­Borjans fordert nun ein »Jahrzehnt der
Investitionen«. Scholz hingegen meidet den Be­
griff »schwarze Null«, er sieht ihn als Kampf­
formel der anderen. Ja nichts sagen, was Gefühle
weckt. Seine entschiedene Emotionslosigkeit
nährt den Opportunismus­Verdacht. Seine Ver­
nunft, so sehen das vor allem zahlreiche SPD­
Funktionäre, empfehle ihm vor allem das, was
die Nichtgenossen gern möchten.
Scholz weiß, dass die Genossen mit ihm
fremdeln, und er arbeitet dagegen an. Auf den
Bühnen von Troisdorf, Filderstadt oder Nieder­
Olm zählt er gern auf, was an Ur­Sozialdemokra­
tischem neben dem Bau von Sozialwohnungen
und der Einführung des Kurzarbeitergeldes noch
alles in ihm steckt: die Kitas und Ganztagsschu­
len, die er in Hamburg bauen ließ, die zusätz­
lichen Busse und Bahnen, die er auf Straßen und
Schienen setzte, die zwölf Euro Mindestlohn, die
er als erster führender Sozialdemokrat forderte –
und vor allem sein früheres Leben als Anwalt für
Arbeits­ und So zial recht. Ungezählte Kündi­
gungsschutzfälle habe er da übernommen, nach
der Wende Seit’ an Seit’ mit den Gewerkschaften
Sozialpläne für die Belegschaften großer DDR­
Unternehmen ausgehandelt. Das waren, so soll
das Publikum das verstehen, 13 Jahre gelebte
Sozialdemokratie außerhalb der Partei.
Man kann auf seiner Reise durch das Land
eine öffentliche Sozialdemokratisierung von
Scholz erleben, die wenig mit dem Vizekanzler
zu tun hat, den man kennt. Scholz ist jetzt in ei­
ner Zwischenwelt: Unter all dem Wohlbedach­
ten, Unaufgeregten und Seriösen, das der Politi­
ker Scholz gern und sehr bewusst zur Schau
stellt, soll der Genosse sichtbar werden. Ein
»truly Sozialdemokrat«, wie er beim Auftakt in
Saarbrücken sagte.

D


ie SPD hat in den 17 Jahren ihrer
Regierungsbeteiligung seit 1998
jede Form der Emotion unter­
drückt und getan, wovon man
glaubte, dass es getan werden
musste. Im Spätwinter 2018 hat sie sich – aus
Verantwortung für das Land heraus – in eine
Koa li tion drängen lassen, von der sie ahnte, dass
sie ihr schaden würde. Die SPD war also in den
vergangenen Jahren so vernünftig wie der Vize­
kanzler, sie war »truly Scholz«. Doch die Partei
bleibt dennoch geprägt von der Sehnsucht nach
Emotionen, der Sehnsucht danach, auszubre­
chen. Und haben nicht die großen emotionalen
Parteichefs auch die großen Erfolge gebracht?
Die Sehnsucht nach diesem Ausbruch kann
Scholz nicht erfüllen. Wie sollen einem auch die
Herzen zufliegen, wenn man sonst immer nur
aufs Hirn gezielt hat?
Vielleicht wäre das alles kein Problem, wenn
Scholz sich nicht ein bisschen zu sehr in sein
Selbstbild verliebt hätte: In einer Welt, die im­
mer verrückter wird, in einer Zeit, in der die
Trumps, Johnsons und Bolsonaros die Politik
unberechenbar machen, und in einem Land, in

dem sich Zukunftsangst und Verunsicherung
ausbreiten, verkörpere ich, Olaf Scholz, der Vize­
kanzler und Finanzminister der politisch und
wirtschaftlich stärksten Macht in Europa, das
Besonnene, Verlässliche, Verantwortungsvolle.
Von dieser Linie weicht er keinen Millimeter ab.
Gefühle? Nicht einmal ein Emotiönchen. Diese
Unerbittlichkeit formt das Bild derjenigen, die
Scholz nicht wählen werden: aus lauter Vernunft
als Sozialdemokrat erstarrt.
Scholz und seine engeren Vertrauten sehen
das, wen wundert’s, anders. Für sie ist das, was
andere Vernunftstarre nennen, der Grund dafür,
dass er im Beliebtheitsranking alle anderen So­
zial demo kra ten hinter sich gelassen hat. Und
mehr noch: Wenn die SPD wieder eine Zukunft
haben will, so argumentieren sie, dann darf sie
nicht diejenigen zu Vorsitzenden wählen, mit
denen sich die Mitglieder in ihrer sozialdemokra­
tischen Kuschelecke, also
ziemlich weit links, am
wohlsten fühlen. Diese Ar­
gumentation übersieht aller­
dings eine Kleinigkeit: Die
SPD­Kuschelecke weit links
ist seit dem Amtsantritt von
Gerhard Schröder 1998 ver­
waist.
Noch ein weiteres Ve­
xierbild spielt im Kandida­
tenrennen eine wichtige
Rolle. Im Gespräch rutscht Scholz ein bisschen
oft ein »Ich kann das ja auch« oder ein »Ich weiß
das ja« raus. Spricht man mit ihm über die gesell­
schaftliche Polarisierung, zitiert er aus Andreas
Reckwitz’ Buch Die Gesellschaft der Singularitä-
ten. Geht es um den Klimawandel, kennt er die
Grundthesen von The Uninhabitable Earth – Life
After Warming von David Wal lace­ Wells. Und
erwähnt man im Small Talk, dass man seinen
letzten Urlaub auf Sardinien verbracht hat, so
erzählt er umgehend, wie sehr ihn Padre Padrone
als Sozialdemokrat geprägt habe, jener autobio­
grafische Roman, in dem Gavino Ledda zuerst
seine elende Kindheit und Jugend als Hirten­
junge in einem sardischen Dorf beschreibt und
danach schildert, wie ihm der Ausbruch aus
Knechtschaft und Unwissenheit gelang. Im
SPD­Vorstand finden sich viele, die, durchaus
bewundernd, feststellen, dass Scholz nicht nur
der Belesenste, sondern auch der Klügste von
ihnen sei. Aber: Es finden sich auch viele, die
sich, durchaus genervt, darüber beschweren,
dass Scholz sich selbst ebenfalls ziemlich klug
findet – und das andere auch spüren lässt. Das
Kopflastige, so hört man, sei ihm wohl ein wenig
zu Kopf gestiegen.

W


enn der Opportunismus die
Verlängerung der Vernunft ist,
dann ist, in der Welt der Poli­
tik, die Augenhöhe die Kehr­
seite der Arroganz.
Nahezu alle in der SPD wissen: Kein anderer,
der antritt, bringt ein vergleichbares politisches
Gewicht auf die Kandidaten­Waage. Scholz be­
weist in diesen Wochen auch, dass er die Kraft hat,
an der Spitze durchzuhalten. Er bringt das Kunst­
stück fertig, nach einem Pressetermin frühmorgens
in Berlin, dem Meinungsaustausch mit dem fran­
zösischen Finanz­ und Wirtschaftsminister in Paris,
einem Hintergrundgespräch am Düsseldorfer
Flughafen, einer Rede vor 2000 Gästen beim Ruhr­
Dialog in Essen und einer anschließenden nächt­
lichen Mammut­Koalitionsrunde zum Klimapaket
im Kanzleramt bei der Tour­Etappe im badischen
Ettlingen nur wenige Stunden später halbwegs aus­
geschlafen aufzutreten. Man sieht ihn dann oft mit
einem eingefrorenen Grinsen, als schlafe er hinter
dieser Maske gerade ein. Es wirkt dabei – auch
wenn er dem widerspricht –, als würde er denken:
Ihr könnt hier machen, was ihr wollt – ich gewinne
das Ding ja sowieso.
Scholz ist der Einzige aus der ersten Reihe der
Sozialdemokraten, der es wagte, anzutreten. Mit
seiner Bewerbung hat er verhindert, dass eine
mediale Häme sich zum Grundsound der Be­
richterstattung entwickelte. Ohne ihn würde die
Kandidatentour als Zwergenrennen beschrieben.
Die SPD mag in den Umfragen bloß bei 14 Pro­
zent stehen. Aber ihrem Selbstverständnis nach
braucht sie einen Spitzenmann, dem man zu­
traut, den Kanzlerkandidaten von Union und
Grünen bei der nächsten Bundestagswahl auf
Augenhöhe zu begegnen.
Als haushoher Favorit gilt Scholz jedenfalls
bei jenen Sozialdemokraten, die Regionalkonfe­
renzen nicht nur erlebt, sondern sie auch organi­
siert haben. Und auch bei jenen, die als Orts­,
Kreis­, Landes­ oder Landesgruppenvorsitzende
ihre Basis bestens kennen. Sie wissen, dass nicht
die präsenten Jusos die Partei prägen, sondern
Männer jenseits der 60, die nie bei Konferenzen
auftauchen und bei Regionalkonferenzen schon
gar nicht. »Für die ist Olaf der Einzige, den sie
kennen«, meint ein SPD­Strippenzieher aus dem
mitgliederstarken NRW­Landesverband – »und
deshalb wählen sie ihn.«
Angela Merkel hat mit »Sie kennen mich« ei­
nen Wahlkampf gewonnen. Scholz führt auf den
SPD­Bühnen gerade ein ganz ähnliches Stück
auf: »Ihr kennt mich – aber ich bin trotzdem
Sozialdemokrat.« Und womöglich bald der Chef.

Hinter dem Vize-


kanzler Scholz soll


der Sozialdemokrat


erkennbar werden


6 POLITIK 2. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
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