D
a ist Cathérine, die immer ihre Tüte
mit dem großen aufgedruckten
Smiley an sich presst und mitten im
Gespräch einschläft. Da ist Chan
tal, zahnlos und burschikos, die im
Gefängnis gelernt hat, Elektrogeräte zu reparieren,
aber keinen Job findet, weil sie jedes Bewerbungs
gespräch damit beginnt, munter vom Mord an
ihrem gewalttätigen Mann zu plaudern. Da sind
Frauen, die in der Psychiatrie waren, die Schicksals
schläge aus der Bahn warfen und die sich seither so
schämen, dass sie niemandem ihren Namen nen
nen wollen. »Lady Di«, »Salma Hayek«, »Bri gitte
Macron« schreiben sie deshalb auf die Zettel, die
man im L’Envol, einer Tagesstätte für obdachlose
Frauen in einem kleinen Städtchen in Nordfrank
reich, ab geben muss, um morgens einen Klecks
Duschgel, einen Streifen Zahnpasta und eine Steck
dose zum Aufladen des Handys zu bekommen.
Dass Körperpflege zentral, aber nicht entschei
dend bei der Frage danach ist, was Menschen
gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, deutet bereits
Wo Brigitte Macron für
Duschgel ansteht
Und wieder einmal gelingt es dem französischen Kino, aus gesellschaftlichen Wahrheiten eine Komödie zu
zaubern – »Der Glanz der Unsichtbaren« erzählt mitreißend von obdachlosen Frauen VON NINA PAUER
»Können kann jede etwas« – und im Zweifelsfall tanzen. Szene aus der Frauen-Groß-WG in Louis-Julien Petits Film
Foto (Ausschnitt): Piffl Medien
D
ie krakelige Signatur auf dem offiziellen
Schreiben (Stempel, Reichsadler, Ha
kenkreuz) ist kaum zu entziffern, denn
klar, »die haben nun mal viel zu unterschreiben«,
weiß der Dorfpolizist Jens Ole Jepsen (Ulrich
Noethen). Jepsen muss das Dokument dem be
kannten Maler Max Ludwig Nansen (Tobias
Moretti) zustellen, dessen Bilder als »krank« gel
ten – weshalb ihm nun verboten werden soll,
weiterhin einen Pinsel anzurühren. Jepsen will
einerseits seine Pflicht erfüllen, andererseits: Ist
Nansen nicht auch ein Freund, dem er seit einem
Badeunfall in der Kindheit sein Leben zu ver
danken hat? Es ist das Jahr 1943, und der Kriegs
verlauf lässt bereits erahnen, dass das Tausend
jährige Reich womöglich etwas kürzer dauern
wird als gedacht. Was man aber nicht zu laut aus
sprechen sollte, will man nicht eine dieser un
leserlichen Unterschriften unter dem eigenen
Todesurteil wiederfinden.
Deutschstunde des Regisseurs Christian
Schwochow ist die Verfilmung des gleichnami
gen Bestsellerromans von Siegfried Lenz (2,3
Millionen verkaufte Exemplare seit seinem Er
scheinen 1968), der mit seiner Figur des frei
geistigen Malers Nansen auf den Expressionis
ten Emil Nolde anspielte. Noldes Bilder wurden
in den 1930erJahren in der berüchtigten Schau
Entartete Kunst gezeigt, doch tatsächlich war
Nolde, anders als er nach dem Krieg behaupte
te, keineswegs ein HitlerGegner. Seit bekannt
ist, dass er als überzeugtes NSDAPMitglied
wirkte und über die »Macht der Juden« orakel
te, diskutiert die Literaturkritik, ob dieses his
torische Vorbild den Roman denn eigentlich
diskreditiere. In Interviews sagt Schwochow, er
wolle diese Debatten von seinem Film fern
halten, weshalb er auf einige NoldeBezüge des
Romans verzichtet habe. Man fragt sich: Wa
rum eigentlich umschifft er die von heute aus
gesehenen ideologischen Klippen der Vorlage –
die er ansonsten doch überwiegend werkgetreu
umsetzt?
Wie das Buch beginnt der Film Mitte der
Fünfzigerjahre in der »Besserungsanstalt«
Hahn ö fer sand, wo der 21jährige Siggi Jepsen
(Tom Gronau) einen Besinnungsaufsatz schrei
ben muss über die »Freuden der Pflicht«. Vor
dem leeren Papier sitzend, wird Siggi von seiner
Erinnerung ergriffen wie von der Elbe, die im
mer wieder urgewaltig durch den Film strömt.
Siggi denkt sich zurück in jenes Jahr 1943: Von
seinem Vater, dem Dorfpolizisten, wird er ge
nötigt, den Maler Nansen, für ihn so was wie
ein Großvater, auszuspionieren, der nicht von
seiner Mischpalette lassen will. Und dann muss
auch noch der von der Kriegsfront desertierte
Bruder vor der Gestapo versteckt werden.
Wählt Siggi die Pflichterfüllung – oder den
Hochverrat?
Schwochow zeigt die Nazis fast schon als
Schießbudenfiguren, die Angst haben vor
Pinsel strichen. Er zeigt mit dem Untertanen
Jepsen und dem Anarchen Nansen Männerfigu
ren, die sich zu allzu glatten Allegorien fügen. Er
legt schwermütige Musik unter schwermütige
Landschaftsaufnahmen (Elbe, Watt, Gewitter).
Lenz erzeugte in seinem Roman die Spannung
gerade dadurch, dass er die Geschichte aus dem
Kopf Siggis heraus erzählt, der sich der Ver
gangenheit aus seiner Gegenwart nähert – und
der mit seinen Erinnerungen ringt. Christian
Schwochow ringt nicht mit seiner Erzählung; er
vereinfacht und vereindeutigt.
Wenn nach 126 Filmminuten der Eindruck
entsteht, dass Deutschstunde uns heutzutage
nichts mehr zu sagen habe, dann also könnte
das vor allem an Christian Schwochows Zugang
liegen. MARTIN EIMERMACHER
Siegfried Lenz’ »Deutschstunde«
kommt ins Kino
Die Freuden
der Pf licht, freudlos
die deutsche Übersetzung von LouisJulien
Petits Film Les Invisibles an. Hierzulande heißt er
Der Glanz der Unsichtbaren (Filmstart: 10. Ok
tober), was die Inhaltsangabe gleich mitliefert:
Aus für die Öffentlichkeit Unsichtbaren, aus
wohnungslosen Frauen mit verschlissenen Kla
motten, müdem Blick und fettigen Haaren wer
den im Laufe von eineinhalb Stunden vor den
Augen des Pu bli kums glänzende, neue Figuren.
»Sie sind wieder schön!«, dieser Satz fällt am
Ende über sie, und es stimmt: Zum Schluss ge
hen Cathérine, Chantal und all die anderen
Frauen aufrecht statt gebeugt, eine Schicht aus
sozialem Rückhalt und Selbstvertrauen umgibt
sie. Was ist passiert?
Begonnen hatte es mit einer Katastrophe.
Die Tagesstätte sollte geschlossen werden, da zu
wenige der Besucherinnen in den Arbeitsmarkt
integriert wurden. »Sie verhätscheln sie!«, wirft
ein Mitarbeiter der Behörde der Sozialarbeiterin
Manu vor, in deren Gesicht sich jahrelanger
Kampfeswille, aber auch Re si gna tion einge
schrieben haben. Gemeinsam mit ihren Kolle
ginnen, der zierlichen blonden Audrey und der
korpulenten jungen Afrofranzösin An gé lique,
beschließt Manu, nicht aufzugeben. Die Tages
stätte öffnet weiterhin, heimlich dürfen die
Frauen hier nun auch übernachten. Eine Art
versteckte matriarchale GroßWG entsteht, in
der es keine Grenze zwischen Betreuerinnen und
Betreuten mehr gibt, sondern nur die Gruppe,
die ein Ziel hat: wieder fit werden, für den Ar
beitsmarkt, vor allem aber für das eigene Leben,
das einen neuen Sinn bekommen soll.
Es ist eine hochsozialromantische und doch
nicht gänzlich unrealistische Geschichte der ge
meinsamen Metamorphose, die LouisJulien
Petit erzählt und die in Frankreich über eine
Mil lion Menschen ins Kino gelockt hat. Ein
großes Spiel des VorherNachher, ein Spiel mit
der Möglichkeit, wie es wäre, wenn wirklich
jede, deren Leben aus der Spur gelaufen ist, ge
nug Aufmerksamkeit, Geduld und Unterstüt
zung bekäme, um es noch einmal versuchen zu
können. Die Frauen geben ein an der genau das:
In improvisierten Therapiesitzungen öffnen sie
sich, nun unter richtigem Namen, ihrer Ver
gangenheit, sind für ein an der Coach, Jobcenter,
Headhunterin, Friseurin, MakeupAssistentin
und Verkupplerin in einem. Ausgehend von der
Frage »Was hast du vor der Straße gemacht?«,
graben sie verschüttete Kompetenzen aus und
schreiben Bewerbungen, »Können kann jede et
was«, so das gedachte Motto der Aktion, die al
lerdings spätestens, wenn die Frauen gemeinsam
Aerobic machen und ausgelassen tanzen, ins
Clowneske zu rutschen droht.
Der Glanz der Unsichtbaren wird stellenweise
albern und ist dann nicht immer leicht zu er
tragen – die Frage allerdings bleibt, wie die
Geschichte anders funktionieren könnte. Denn
das große Verdienst des erfolgreichen Genres
der französischen So zial ko mö die besteht darin,
Themen wie Rassismus, Armut, In klu sion und
nun Obdachlosigkeit überhaupt für ein größeres
Pu bli kum erzählbar zu machen. Erst die Form
der heiteren Parabel, die Unterhaltung liefert,
mit Humor, Kitsch und Überzeichnung arbeitet,
setzt beim Zuschauer etwas frei, das über Betrof
fenheit hinausgeht. Gerade der Plot, die Gegen
überstellung einer Gesellschaft, die sogar noch
die letzte Parkbank so umbaut, dass niemand auf
ihr übernachten kann, mit der kuscheligen
Wärme im Haus der Kämpferinnen, beteiligt das
Pu bli kum. Indem es ihm ermöglicht, emotional
mitzugehen, wissend, dass hinter all der Inszenie
rung letztlich Authentisches steckt: War es bei
Ziemlich beste Freunde die wahre Geschichte, auf
der das Drehbuch basierte, spielen beim Glanz
der Unsichtbaren nicht nur professionelle, son
dern auch Laiendarstellerinnen mit. Man meint
ihre Erfahrungen zu spüren. Neben gestandenen
Schauspielerinnen wie Déborah Lukumuena
und Noémie Lvovsky reißt vor allem Adolpha
Van Meerhaeghe mit, die selbst einmal auf der
Straße gelebt hat – etwa wenn sie als zahnlose
Chantal tanzt und irgendwann dann doch einen
Job findet, bei dem sie ihre Zeit im Gefängnis
nicht verschweigen muss. Beglückt schaut man
ihr zu, beim Sichtbarwerden oder, kitschiger
gesprochen: beim Glänzen.
- OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
o
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von ZEIT -Autorenkö nnenSieauch hören,donnerstags 7. 20 Uhr.
Filmkritiken
InLiebe,DankbarkeitundtieferTr auernehmenwirschmerzlichAbschiedvon
meinemEhemannundunseremgeliebtenVa terundGroßvater
BernhardPaulConradi
*3.M ärz1943 †24.September2019
GabrieleConradi,geb.Palm
JohannaDanckert,geb.ConradiundLukasDanckert
mitGustav,CasparundOscar
PaulineConradi
JuliaConradiundHolgerSchüler
mitLily,Sophie,MarieundLeni
Die Tr auerfeierfindetam11.Oktober2019um9:30UhrinderKapelleauf
dem Wa ldfriedhofDahlem,Hüttenweg47,14195Berlinstatt.
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