Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1
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Auch auf ihren Bandfotos tragen die Mitglieder von Deichkind gern superspätdadaistische Kostüme


Fotos: Benjakon/© Sultan Günther Music; Andreas Pein/laif (u.); Illustration: Pia Bublies für DIE ZEIT


Arschwackeln in


höherem Auftrag


Kaum eine deutsche Band ist derzeit so beliebt wie Deichkind.


Was macht sie so schrecklich erfolgreich? VON JÖRG SCHELLER


D


ie Philosophen sind es leid, ewige
Wahrheiten zu verkünden. Vorbei
die Zeiten, da Draufgänger wie
Thales oder Heraklit ihre Thesen
wie gigantische Ballons in den
Äther steigen ließen. Heute erzählen Philosophen,
was andere Philosophen so erzählt haben, und lis-
ten wie in Produktbewertungen gewisse Vorzüge
wie auch Nachteile auf. Wie gut, dass es die Pop-
musik gibt. Die Popmusik?
Eine der letzten fundamental wahren und ewig
gültigen philosophischen Erkenntnisse stammt
ausgerechnet von der Hamburger Hip-Hop-
Gruppe Deichkind. Im Jahr 2012 lieferten die
Edelprolls mit dem Song Leider geil die vermutlich
luzideste Fun da men tal dia gno se aller Zeiten: Die
menschliche Existenz sei schlecht und bleibe
schlecht, weil vieles Schlechte leider geil sei. Fette
neue Karren, Sonnenbrille im Club, Barbara
Salesch, LED unterm Sofa, Airbrushgemälde –
»leider geil«. Damit ist alles gesagt, was gesagt
werden muss und gesagt werden kann. Macht also
die geisteswissenschaftlichen Fakultäten dicht, ver-
buddelt die Suhrkamp-Bände auf Ibiza, ertränkt
den spekulativen Realismus in Energydrinks! Die
wirklich fetten Thesen, die das Denken so geil, so
leider geil machen, gibt’s im Pop.
Im deutschsprachigen Raum sind Deichkind
das beste Beispiel für ein Phänomen, das Pop-
forscher »Avant-Pop« nennen: die seit den 1960er-
Jahren fortschreitende Verquickung von Unter-
haltung und Erleuchtung, Kommerz und Tiefsinn
unter den Vorzeichen einer alles durchdringenden,
sich unablässig ausdifferenzierenden Konsumkul-
tur. Gegründet 1997, reüssierten Deichkind mit
dem minimalistisch-knöcheligen, aber noch eini-
germaßen konventionellen Dance floor- Hit Bon
Voyage (feat. Nina MC). Wer sagt denn das? heißt
ihr aktuelles Album. Heute sind das Trio und sein
Produzent Roland Knauf mit ihrem luftig-lustig-
schrulligen Sound und ihren superspätdadaisti-
schen Kostümen nicht nur die Lieblinge kunstaffi-
ner Großstadtmilieus, sondern von so ziemlich al-
len, weshalb sie bereits zu Deutschlands »Konsens-
band« ge adelt wurden.
Deichkind bieten maximalverdichtete, so kri-
tische wie unverbindliche Intelligenz in Slogans
wie Like mich am Arsch, lassen Germanistenherzen
mit Neologismen wie Ego lu tion höherschlagen
und haben obendrein noch verdammt viszerale
Beats mit Punk-Appeal im Programm. Mit dieser
Kombination lässt sich noch die schmutzigste Par-
ty guten Gewissens feiern. Jede eingeworfene Pil-
le, jedes Arschwackeln ist ein potenzieller Beitrag
zur Kunst- und Geistesgeschichte; in jedem Schlag
der Four-on-the-floor-Bassdrum schwingt mindes-
tens eine bedeutungsschwangere Fußnote mit.
Wer zu Deichkind tanzt, weiß sich auf der siche-
ren Seite der Kapitalismuskritik (Arbeit nervt) wie
auch postbildungsbürgerlicher Gelehrtheit. Die
Songs strotzen nur so von Verweisen auf das
Nerdwissen des Konsum- und Netzzeitalters ( Tr a-
velpussy), aber auch auf höchsternstes Historisches

wie die Internationale der Arbeiterbewegung
(Hört ihr die Signale). Damit das nicht zu leh-
rerhaft wirkt, reimt sich »Russen« auf »Tussen«
und »Polizei« auf »Gammelei«. Und damit im
Politischen keinerlei Zweifel aufkommen, wird
im Video zur neuen Single Dinge gleich zu Be-
ginn ein »Fuck AfD« eingeblendet.
Im Jahr 2010 gaben Deichkind ihr Thea-
terdebüt mit Deichkind in Müll – Eine Diskurs-
Operette in der Hamburger Kulturfabrik
Kampnagel. Aber nicht nur im Theater, auch
in Mehrzweckhallen konkurriert das typische
Deichkindsche Bühnen- und Kostümbild mit
postmoderner Medien- und Installationskunst.
Deichkind-Konzerte sind karnevaleske Zere-
monielle, die sich wie Kooperationen zwischen
Christoph Schlingensief und Kraftwerk, Cosi-
ma von Bonin und Richard Wagner, Masters
of the Uni verse und Anselm Reyle ausnehmen.
»Wann kriegt das größenwahnsinnige Projekt
seine erste Ausstellung?«, fragte kürzlich ein
Kunstmagazin. Damit reihen sich Deichkind
in die immer länger werdende Liste popisti-
scher Hochkunstanwärter ein. Beyoncé kopiert
im Video zu Hold Up nonchalant die Medien-
künstlerin Pipilotti Rist, die französische Body-
Art- Pio nie rin Orlan verklagte Lady Gaga
wegen Plagiarismus, und Literaturnobelpreise
werden mittlerweile auch an grantelig-nebulöse
Langzeit-Barden vergeben.
Man kommt schwerlich umhin, das alles
apokalyptisch zu nennen. Denn am Ende,
ganz am Ende, so liest man es im Buch des
fiebrigen Propheten Jesaja, werden die Wölfe
»bei den Lämmern wohnen und die Parder bei
den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird
Kälber und junge Löwen und Mastvieh mit-
ein an der treiben.« Genau so verhält es sich bei
Deichkind mit Blick auf Unterhaltung und
Anspruch. Das Verführerische dieses Gesamt-
popwerks besteht darin, die Versöhnung jener
Gegensätze zu verheißen, die es in unserem ir-
dischen Jammertal eigentlich nicht geben
kann – Social Media nutzen und Social Media
doof finden, die Diktatur des Marketing-
sprechs in Form marketingkompatibler Slo-
gans aufs Korn nehmen, Apple veralbern und
die Veralberung bei iTunes zum Verkauf an-
bieten und immer so weiter. Dagegen war der
Katholizismus mit seinem Zielgruppenmaxi-
mierungsbrimborium ein Anfänger.
Im Neuen Jerusalem des Avant-Pop aus Ham-
burg strömt bei der »Druckbetankung durch den
Trichter« immer ein Schuss Erkenntnis mit, beim
»FKK in Rockstarposen« ist es nicht ausgeschlos-
sen, dass sich die rettende Idee für den Abschluss
einer Habilitationsschrift über den mittelalterli-
chen Mystiker Thomas von Kempen einstellt.
Und da sage noch einer, Popspektakel seien »Re-
ligionsersatz«. Von »Ersatz« kann keine Rede sein.
Womöglich war ja Religion ein verfrühter Pop-
ersatz, ein schwacher Vorglanz dessen, was da
noch kommen sollte.

»Hallo? Hal-lo? Hallo, ist da wer?« So rief man
früher ins Telefon oder ins Dunkel von Haus-
eingängen oder in den feuchten Nebel des Fichtel-
gebirges, an der deutsch-deutschen Grenze, hinter
der man die bewaffneten Einheiten der War-
schauer-Pakt-Staaten vermutete. Aber abgesehen
davon, dass es den Warschauer Pakt nicht mehr
gibt und sich also auch seine gefürchteten Grenz-
truppen in dem altfränkischen Nebel aufgelöst
haben, ist es überhaupt unüblich geworden, noch
viel »Hallo« zu schreien. Üblich ist es geworden,
»Hallo« zu schreiben. Und zwar vorzugsweise in
E-Mails: »Hallo, Frau E. Blaschke! Wir haben Ihre
Bestellung erhalten« – »Hallo, Herr Tanga, Ihre
Anfrage wird derzeit bearbeitet« – oder neuerdings
auch ganz ohne Anrede: »Hallo, bitte antworten
Sie nicht auf diese E-Mail.« Es ist schwer zu sagen,
was mit diesem »Hallo« – es klingt eigentümlich
dumpf und pampig – genau gemeint ist, aber auf
jeden Fall erweist es sich als Fehler, darauf mit der
persönlichen Anrede zu erwidern: »Lieber Herr
Unterhoser, da meine Bestellung als Geschenk
gedacht ist, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn
die Lieferung noch vor Weihnachten einträfe.«
Herr Unterhoser wird nämlich auf diese höfliche
Ansprache nur wieder mit einem kalten »Hallo,
Frau E. Blaschke« reagieren, »wir bitten, von
weiteren Anfragen abzusehen«, wenn die arme
Erika Blaschke nicht sogar von Unterhosers As-
sistentin mit einem »Hallo« ohne jeden Namens-
zusatz abgebürstet wird, »bitte antworten Sie nicht
auf diese E-Mail, gez. Yvonne Trägerlos«. Was ist
hier passiert? Beziehungsweise in der deutsch-
deutschen Kommunikation eingerissen? Erkennen
sich die Teilnehmer des elektronischen Postver-
kehrs nicht mehr als Menschen, sondern rufen
gleichsam nur mehr angstvoll in dunkle Hausein-
gänge? »Hallo, Herr Tanga, wir haben Ihre An-
frage unserem Anwalt übergeben.« Und Frau
Blaschkes Anwältin wird schreiben: »Hallo, mei-
ne Mandantin lässt mitteilen, keinerlei sexuelle
Belästigung mit der Anrede ›Lieber Herr Unter-
hoser‹ beabsichtigt zu haben.« Ist dies der Grund?
Ist den Deutschen die überlieferte Nettigkeit des
Briefverkehrs zu intim geworden? Gibt es einen
neuen Eisernen Vorhang an der inner deutschen
Korrespondenzgrenze? Herr Kwame Tanga und
Frau E. Blaschke haben übrigens inzwischen, nein,
keinen Bund der Ehe geschlossen, sondern einen
Verein zur Abwehr der Halloisten gegründet. Er
steht als grenzüberschreitende Konspiration
bereits unter Beobachtung des Verfassungs-
schutzes. Die Mitteilung darüber ist ihnen kürz-
lich zugegangen: »Hallo, Frau Kwame-Tanga
Blaschke, bitte antworten Sie nicht auf diese
Nachricht, gez. ORR Feinripp«. FINIS

Das


Letzte


Eine Gebetsbrücke von Berlin


nach Istanbul VON CAN DÜNDAR


Peter si l ie


für die Freiheit


MEINE


TÜRKEI (160)


Can Dündar ist Chefredakteur
der Internetplattform »Özgürüz«.
Er schreibt für uns wöchentlich
über die Krise in der Türkei

In der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer
Berg standen wir drei ehemaligen Häftlinge ne-
beneinander und grüßten die Gemeinde mit Pe-
tersiliensträußchen.
Katrin Hattenhauer, verhaftet 1989 während
des Widerstands in Leipzig.
Doğan Akhanlı, verhaftet zunächst 2010 in der
Türkei und dann, auf Verlangen der türkischen
Regierung, 2017 in Spanien.
Und ich, verhaftet 2015.
Was es mit der Petersilie auf sich hat? Die hatte
man uns in Erinnerung an den Strauß Petersilie
überreicht, den Deniz Yücel, der 2017 in der Tür-
kei verhaftet worden war, bei seiner Freilassung
seiner Frau im Sinne von Blumen geschenkt hatte.
Auf einem Podium zum Jahrestag des Mauer-
falls sprachen wir über Ost-Deutschland vor drei-
ßig Jahren und die heutige Türkei. Uns verband
ein bezeichnender gemeinsamer Nenner: unsere
Leidenschaft für Freiheit. Der Ruf nach Freiheit
auf dem Plakat, das damals zu Katrin Hattenhauers

Verhaftung geführt hatte, ist heute der Name un-
seres Radios Özgürüz, über das wir von Deutsch-
land aus senden. Als Doğan Akhanlı in Granada
und Deniz Yücel in Istanbul verhaftet wurden,
empörten wir uns mit derselben Freiheitsforde-
rung. Deniz Yücel hatte 2016 vor dem Gefängnis
Wache der Hoffnung für meine Freiheit gehalten,
im Jahr darauf war ich auf der Demonstration für
seine Freiheit in Berlin dabei. Wie repressive Re-
gime einander in der Überwachung von Gedan-
ken gleichen, so gleichen wir uns in der Ablehnung
dieser Überwachung.
Die Kirche, in der wir uns nun trafen, ist ebenfalls
ein symbolischer Ort. Sie war 1989 ein Treffpunkt
der Regimegegner. Die Stasi observierte die Treffen
in der Kirche. Dafür gab Dagmar Hovestädt, die
Pressesprecherin des Bundesbeauftragten für die
Stasi-Unterlagen, auf dem Podium Beispiele. Die
Kirche, damals Zufluchtsort der Aktivisten und Ziel-
scheibe der Stasi, hatte mehr politische Treffen als
Trauungen und Taufen veranstaltet und ihre Ge-

meinde politisiert. Die Wasser, die man nach dem
Mauer fall beruhigt geglaubt hatte, brodelten wieder auf,
als ein Gemeindemitglied in der Türkei verhaftet wurde.
Der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner, der sich
von Mosambik bis Nepal um friedliche Lösungen bei
Konflikten bemüht hatte, war bei einem Workshop in
Istanbul unter Terrorismusvorwurf festgenommen und
nach Silivri gebracht worden, das als »größtes Journalis-
tengefängnis der Welt« bekannt ist. Die Gemeinde der
Berliner Gethsemanekirche kam daraufhin jeden Abend
um 18 Uhr zusammen, um für Peter und die anderen
politischen Häftlinge zu beten. Peter erfuhr durch seinen
Anwalt davon und nahm fortan in seiner Istanbuler
Zelle Abend für Abend zur selben Stunde am Gebet teil.
Diese filmreife Glaubensbrücke wurde fortgesetzt, bis
Peter vier Monate später freigelassen wurde.
Das Interesse der deutschen Medien an den Men-
schenrechtsverletzungen in der Türkei flaute ab, als
Steudtner und Yücel frei waren, nicht aber in der
Gethsemanekirche. Hier betete man weiter für die
verbliebenen Häftlinge, auch Peter hatte sich ange-

schlossen. Seit mehr als zwei Jahren trifft sich
die Gemeinde allabendlich um sechs, fasst sich
bei den Händen und zündet Kerzen an in der
Hoffnung, dass die Gefangenen bald freikom-
men und wieder bei ihren Lieben sein können.
In Berlin an einer Solidaritätsaktion teilzuneh-
men, wie sie vor dem Gefängnis Silivri nicht mehr
zugelassen würde, und für meine eingesperrten
Kollegen zu beten als einer, der einst selbst dort
einsaß, zumal in einer Kirche, war eine höchst
emotionale Erfahrung. In Erinnerung an 1989
sagten wir gemeinsam, das gleiche Schicksal möge
alle anderen Mauern ebenso ereilen.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe



  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N FEUILLETON 63
    o
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„... dann fegt die letzte brillante Klaviierphrase


alle Schatten vonder Tastatur.“


Mathias Husmann


Präludien fürs Publikum II


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