Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

GLAUBEN & ZWEIFELN


Raoni Metuktire, 89, trägt seit seiner Jugend die charakteristische Tellerlippe seines Stammes. Sie symbolisiert Stärke


mauritius images / Agencia Brasil / Alamy

Ikone des Regenwaldes


Häuptling Raoni Metuktire einte die indigenen Völker des Amazonas im Kampf um ihr Überleben. Jetzt ist der Krieger für den Friedensnobelpreis nominiert VON EVELYN FINGER


C


hief Raoni sagt, er sei schon
dreimal im Himmel gewesen.
Sein Haus dort sei vorbereitet,
und sie erwarteten ihn bereits:
die alten Schamanen, das Volk
und all die Tiere. Es gebe dort
übrigens nichts Böses mehr.
Im Westen nennt man das Heilsgewissheit. Aus

dem Mund eines Mannes wie Raoni Metuktire,


der sich seit fast 70 Jahren gegen die endgültige


Auslöschung seines Stammes und der alten Kul-


turen des Amazonas gewehrt hat – nicht immer


mit friedlichen, auch mit verzweifelten Mitteln –,


klingt es überraschend ergeben, beinahe versöhnt.


Es ist der Tag, als in seiner Heimat Brasilien die


Buschfeuer außer Kontrolle geraten, als zum ersten


Mal die westliche Welt wirklich um ihre Lunge


fürchtet, als der Rauch den Himmel über halb


Lateinamerika verdunkelt und in Rio aschgrauer


Regen fällt. Man könnte sagen, dass an diesem


Tag, dem 23. August 2019, Häuptling Raonis Le-


benswerk in Flammen aufgeht.


Einen Monat später wird er von Ethnologen und


Naturschützern für den Friedensnobelpreis vorge-


schlagen. Einen weiteren Monat später wird ihn der


Vatikan würdigen, indem während der Amazonas-


Synode ein neuer Dokumentarfilm über sein Leben


Premiere hat. Doch zunächst ereignet sich in der


Heimat des Häuptlings eine Katastrophe apokalyp-


tischen Ausmaßes, die, käme sie in einem Roman vor,


man übertrieben fände: die rasende sich fortbewe-


gende Feuersbrunst, die Verfinsterung des Himmels


und die Hybris derer, die dies heraufbeschworen


haben, vor allem Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro.


Raoni nennt Bolsonaro an jenem Tag denn auch


einen bösen Geist. Doch das ist keine Beschimpfung.


Der 89-Jährige schimpft nicht, droht nicht, klagt


nicht an. Er sitzt an einem kleinen Gartenrestaurant-


tisch am Ufer des Bodensees, vor ihm das trügerisch


hoffnungsvolle Blau des Wassers, das sich bis zu den


Bergen erstreckt – und stellt fest, dass er den Tod
nicht fürchtet. Weil im Jenseits das Gute regiere.
Raoni ist für ein Treffen der Weltreligionsfüh-
rer an den Bodensee gekommen, und der Kontrast
zum Brand in seiner Heimat könnte nicht größer
sein. Vielleicht wartet er deshalb die erste Frage
nicht ab, sondern beginnt gleich über das Ende
aller Zeiten zu sprechen, über die Wende vom Un-
heil zum Heil. Was er erzählt, erinnert an die bib-
lische Endzeitvorstellung, wonach wir alle auf die
Verwandlung der Welt und unsere Erlösung zu-
steuern. Nur äußerlich gehen Raonis Geschichten
anders: über die Zeit, ehe es Feuer und Regen gab;
über die Erschaffung der ersten Flamme aus einer
Frucht und die Metamorphose der Schamanen in
Jaguare; über das Feuer, das außer Kontrolle gerät
und das nur diejenigen überleben, die nicht in
Panik verfallen, sondern in seiner Mitte verharren.
Der alte Herr mit der ungewöhnlichen Teller-
lippe, ein Zeichen seines kriegerischen Stammes,
könnte auch knallhart über Politik sprechen. Er hat
ja jahrzehntelang nicht nur mit brasilianischen Prä-
sidenten gestritten, sondern zahlreiche westliche
Staatsoberhäupter für seine Sache gewonnen. Doch
an diesem Tag will er von seinem Glauben und seinen
Träumen erzählen. Er sagt: »Die Geister haben mir
einen Sturm gezeigt, der alles zerstört. Sie zeigten mir
ungeahnte Kälte und Hitze. Eine Sonne, die sich ver-
dunkelte. Eine Sonne, die alles versengte.« Die Zu-
kunft habe in seinen Träumen fürchterlich ausgese-
hen, deshalb sei er so besorgt. Er sagt das sehr ruhig,
sehr viel sanfter als die jungen Naturschützer im
Westen, obwohl er sein Leben lang ein Kämpfer war.
Einmal besetzten seine Leute, im vollen Kriegerdress,
mit Federkopfschmuck, Bemalung und Speeren, den
brasilianischen Nationalkongress. Dass der Chief
ausgerechnet jetzt so ruhig bleibt, soll vielleicht hei-
ßen: Ich habe das Meinige getan. Jetzt ist es an euch.
In den Fünfzigerjahren hatte Raoni Metuktire,
Häuptling der Kayapó, eines der ältesten indige-

nen Völker auf dem amerikanischen Kontinent,
erstmals vor der Vernichtung des Regenwaldes ge-
warnt. Später half er, eine Schutzzone für indigene
Völker des Amazonas durchzusetzen, den Natio-
nalpark am Rio Xingu; dafür einte er die verfein-
deten Stämme (oder was von ihnen übrig war). Ab
1978 wurde er von Marlon Brando und ab 1989
von Sting unterstützt. Er hatte Männer wie Mit-
terrand und Chirac an seiner Seite, und kürzlich,
im Frühjahr 2019, besuchte er Papst Franziskus
und wurde vom Verfasser der grünen Enzyklika
Laudato Sii herzlich umarmt. Heute ist Raoni eine
Ikone des Amazonas. Ein Papst des Regenwald-
schutzes und früher Prophet jenes Umweltauf-
standes, der nun mit Verspätung im Westen statt-
findet. Dessen neue Missionare können noch
nicht wissen, wie viel sie von ihrem Wohlstand
werden opfern müssen, um ans Ziel zu gelangen.
Raoni jedenfalls hat das Kostbarste geopfert, sein
Selbstverständnis und das seines Stammes seit Ewig-
keiten: Waldjäger und stolze Krieger zu sein, die sich
gegen ihre Feinde wehren. Die Kayapó waren ein
kämpferisches Volk, knapp 12.000 von ihnen leben
heute noch in Brasilien, und als der kämpferischste
Stamm galten die Txucarramae – Raonis Stamm, als
dieser jung war. Wie alle Indigenen waren sie in ihrer
Existenz bedroht, seit sich die Weißen mit Besitz-
ansprüchen tief in den Regenwald vorgewagt hatten:
erst durch Abholzung, Feldbau, Rinderzucht, dann
durch Straßenbau und die Suche nach Bodenschät-
zen, die Verseuchung des Wassers und den Bau gi-
gantischer Staudämme. Dagegen wehrten sie sich
auch, indem sie Eindringlinge töteten – was den Vor-
marsch der Industrie aber nicht aufhielt.
Es war die Zeit, als Investoren pockenverseuchte
Kleidung über den Indianergebieten abwerfen ließen,
um die Besitzer des Landes loszuwerden. Es war ein
tödliches Phänomen namens Zivilisation. Aber 1961
sah es erstmals so aus, als könnten Raonis Leute in
Sicherheit leben, weil am Fluss Xingu ein Indianer-

schutzgebiet ausgewiesen wurde von der Größe
Belgiens. Das war nur ein Bruchteil des angestamm-
ten indigenen Besitzes, doch immerhin. Es gelang,
weil die Brüder Orlando und Claudio Villas Boas als
erste Amazonas-Aktivisten bereits 1953 einen Frie-
densvertrag ausgehandelt hatten – ausgerechnet mit
den Txucarramae. Da hatte Raoni sich bereits mit
den Brüdern angefreundet.
»Meine Vorfahren waren allesamt Kriegerhäupt-
linge, und unsere Stämme bekämpften sich gegen-
seitig. Erst mein Vater lehrte mich, dass Krieg schlecht
ist«, sagt Raoni Metuktire am Bodensee. Was in den
Ohren heutiger Europäer selbstverständlich klingt,
war für einen Häuptling wie ihn eine gefährliche
Ansicht, geeignet, ihn zum Außenseiter zu machen.
Obwohl es Raoni zunächst gelang, 16 verschiedene
Stämme zu einen, zeigte sich nach dem Friedens-
schluss von 1953 und der Grenzziehung von 1961
Dutzende Male, dass die Regierung Brasiliens und
die Landnehmer im Amazonasgebiet bereit waren,
jedes Versprechen gegenüber Raonis Schutzbefohle-
nen zu brechen. Immer wieder drangen Fremde in
das Indianergebiet ein, wobei Fischer und Öko-
touristen noch das Harmloseste waren. Zuletzt, seit
2010, kämpfte Raoni gegen den Staudamm von Belo
Monte, der zwar außerhalb des Gebietes liegt, das
seinem Volk zugesprochen wurde, aber das Öko-
system so schwer schädigen könnte, dass die Wälder
im Reservat sterben und Wasserläufe versiegen.
Nur wenn man das weiß, versteht man, was es den
Häuptling gekostet hat, zum Friedensprediger zu
werden. Bei der Frage, mit welchen Mitteln er sich
wehren sollte und mit welchen nicht, ging es ja nie
nur um eine künftige Klimakatastrophe, sondern
immer um das blanke Überleben im Jetzt. Am Bo-
densee sagt er, die Geister in seinen Träumen »wollten
mir die Macht geben, mehr Menschen zu töten, aber
ich habe abgelehnt«. Auch wenn das Abholzen und
Niederbrennen weitergehe, müsse man selbst das
Töten beenden und Frieden machen.

Aber wie? Und ist das nur der Pazifismus eines
Unterlegenen, der zu schwach war, den Krieg zu
gewinnen? Tatsächlich haben Kayapó-Krieger noch
im Jahr 1980 ein Holzfällercamp überfallen. Über
zehn Jahre hinweg hatten Siedler ungeniert in den
Wäldern der Kayapó gehaust. Nun stellten diese der
staatlichen Indianerbehörde Funai ein Ultimatum,
die Siedler müssten innerhalb von drei Tagen ver-
schwinden, sonst würden sie erschlagen. Leider nahm
niemand das ernst. Daraufhin töteten die Kayapó
zwölf Holzfäller, erst dann zog die Regierung eilends
alle Landnehmer ab.
Chief Raoni hat die Behauptung, er sei damals
beteiligt gewesen, stets bestritten. Dass er die Wahr-
heit sagt, dafür spricht, dass er schon damals von
vielen Indigenen nicht mehr akzeptiert wurde, die
mit Waffen kämpfen wollten. Er gründete schließlich
seinen eigenen Clan mit dem Namen Metuktire.
Heute ist er in der Weltversammlung »Religions for
Peace« eine Autorität. Am Bodensee sagt er: »Ich
kämpfe weiter für mein Volk, aber friedlich.« Das
bedeutet in Wahrheit: sehr oft allein.
Wie fühlt man sich, wenn man die Schlacht seines
Lebens zugleich gewonnen und verloren hat? Was ist
man für ein Krieger, der den Friedensnobelpreis be-
kommen soll? Antwort darauf gibt in großen, schö-
nen Bildern ein zweistündiger Dokumentarfilm des
Regisseurs Gert-Peter Bruch mit dem Titel Terra
Libre, der 2020 in Frankreichs Kinos kommt. Zuvor
wird er in Rom zu sehen sein, am 16. Oktober im
Institut Français. Soeben hat Raoni im brasilianischen
Fernsehen ein Interview gegeben, das ihm Mord-
drohungen von Bolsonaro-Fans beschert. Raonie
selbst dagegen sagt dem Westen ganz ruhig, ohne
Drohgebärde: »Ihr seid auf einem Irrweg. Ihr zerstört
die Bäume, die Pflanzen, die Tiere, die Flüsse. Aber
all diese Dinge sind beseelt. Wenn ihr nicht aufhört,
die Geister dieser Erde zu töten, stirbt die Erde selbst.
Dann werdet ihr die Angst spüren, die wir schon so
lange spüren.«

Lateinamerika im Vatikan: Diese Woche beginnt die Amazonas-Synode


Raoni und der Papst


Diese Woche beginnt im Vatikan eine Ver-


sammlung lateinamerikanischer Bischöfe, bei


der es um die Zukunft der Kirche in der Region


geht, aber mehr noch um jene Ziele, für die


Raoni Metuktire sein Leben lang gestritten hat:


den Erhalt des Regenwaldes und das Überleben


der indigenen Völker mit ihren verschiedenen


Kulturen und Religionen. Papst Franziskus


nennt es eine »ganzheitliche Ökologie«. Die


Amazonas-Synode tagt auf seine Einladung und


nach zweijähriger Vorbereitungszeit nun vom 6.
bis zum 23. Oktober 2019. Die beiden wich-
tigsten Protagonisten sind Brasiliens Kardinal
Cláudio Hummes, 85, ehemaliger Erzbischof
von São Paulo und ein enger Freund Bergoglios,
sowie Kardinal Pedro Barreto, 75, Jesuit aus
Peru und ehemaliger Erzbischof von Huancayo.
Nach Rom kommen aber auch Vertreter großer
Hilfsorganisationen und vor allem der indigenen
Völker. Franziskus erklärte den Bischöfen:
»Ich erwarte wagemutige Vorschläge!«

Raoni und Macron
Emmanuel Macron ist nicht der erste franzö-
sische Präsident, der den Häuptling Metuktire
unterstützt, schon Chirac und Mitterrand taten
das. Nach den Großbränden in Brasilien im
August und noch vor dem G7-Treffen in Biar-
ritz lud Macron Raoni nach Paris ein. Bekannt
wurde dieser 1979 durch einen Dokumentar-
film von Jean-Pierre Dutilleux, darin sprach
Marlon Brando die Eingangssequenzen und
sagte: »Es geht hier nicht um edle Wilde, sondern

um das Überleben von Menschen in einer
kranken Welt.« 1989 ging der Sänger Sting mit
Raoni auf Tour durch 17 Länder und gründete
danach mehrere Stiftungen für die Amazonas-
Völker. Ein Film von Gert-Peter Bruch, der
2020 in die Kinos kommt, zeigt die Siege und
Niederlagen Raonis, der die indigenen Stämme
immer wieder gegen die Regierungen Latein-
amerikas mobilisierte. Jetzt werden Stimmen
gesammelt für die Vergabe des Friedensnobel-
preises an Raoni unter secure.avaaz.org.


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
    o
    41


Chief Raoni herzt Papst Franziskus, 2019


CPP / Polaris/laif

68

Free download pdf