ENTDECKEN
Verena Brüning porträtiert hier
im Wechsel mit anderen Fotografen
Menschen, die ihr im Alltag begeg-
nen. Protokoll: Cosima Schmitt
Als ich mit 19 schwanger
wurde, war ich erst geschockt.
Ich hatte gerade die Schule
geschmissen, hing nur zu
Hause rum und guckte
Talkshows. War in so einer
No future-Stimmung. Und dann
war da auf einmal doch future.
Mir war klar, dass ich das Kind
bekommen würde. Ich trug
damals einen bunt gestreiften
Irokesen, gerne eine Lederjacke
mit Nieten, manche Leute
haben geschaut, als hätte ich das
Baby geklaut. Ein Kind zu
haben hat mein Denken sehr
verändert. Als die Kleine ein
Jahr alt war, bin ich wieder zur
Schule gegangen. Ich dachte:
Ich muss jetzt ein Vorbild sein.
Ich hab mein Fach-Abi
nachgeholt und studiert. Das
war eine schöne Zeit, ich habe
alleine mit meiner Tochter
gewohnt, wir sind morgens
aufgestanden und beide zum
Lernen gefahren, sie in die
Schule, ich in die Uni. Mit 30
habe ich noch eine zweite
Tochter bekommen, die beiden
sind ein Herz und eine Seele.
Vanessa Greul-Smidt, 35, ist
Ingenieurin für Geoinformation
und wohnt in Berlin
WER
S I N D
SIE
?
Die Geburtstagsinf lation
Je einfacher es wird, an Geburtstage zu denken, umso mehr nervt es, zu gratulieren
Hier entdecken jede Woche im Wechsel: Francesco Giammarco, Alard von Kittlitz, Nina Pauer und Britta Stuff
I
ch hasse Geburtstage. Also, nicht
meinen. Den finde ich super. Nur
die Geburtstage der anderen ner-
ven mich. Früher konnte man sie
einfach vergessen, heute kann man
ihnen dank Facebook und digitaler Er-
innerungen kaum entkommen. Umso
schneller steht man nicht nur als gedan-
kenlos da, sondern gleich als böswillig,
weil man nicht gratuliert hat. Allein im
vergangenen Monat habe ich bestimmt
vier Geburtstage von Freunden verges-
sen. Das hat meinem Verhältnis zu ih-
nen sehr geschadet. Ich fühle mich als
schlechter Freund, wofür ich ihnen die
Schuld gebe.
Wir haben es hier mit einem typi-
schen Problem moderner digitaler Gesell-
schaften zu tun. Früher, im Naturzustand
des Homo sapiens, als Höhlenbewohner
oder Jäger und Sammler, da lebte der
Mensch in kleinen Verbänden. Unter
diesen Bedingungen war es natürlich
leicht, dem Jonas oder der Hanna recht-
zeitig zu gratulieren. Außerdem starben
die Leute früher, zertrampelt von einem
Mammut oder auch schon wegen leichter
Infekte, die Gesamtzahl der Geburtstage
war also geringer. Es waren einfachere
Zeiten. Heute, mit der ganzen Kom-
munikationstechnologie, wo jeder jeden
kennt, ist es praktisch unmöglich, an alle
Geburtstage zu denken und auch noch
zu gratulieren. Das sind unfaire Bedin-
gungen. The system is rigged.
Dass es alles zu viel ist, merkt man
schon an der Art und Weise, wie ich
gratuliere, wenn ich es mal nicht ver-
gesse. Früher habe ich auch mal zum
Telefon gegriffen. Natürlich war es am
besten, wenn der andere nicht range-
gangen ist. Dann hatte ich – nachweis-
lich! – meine freundschaftliche oder fa-
miliäre Pflicht getan, sogar ohne Small
Talk. Heute bekommen Bekannte
und Freunde eine WhatsApp-Nach-
richt. Wenn es ein wirklich guter Freund
ist oder jemand, dem ich imponieren
will, meine Chefin etwa, schreibe ich
eine SMS, das wirkt irgendwie edler.
Meine Grüße gehen immer gleich los:
»Hey, noch schnell, bevor es zu spät ist:
Alles Gute ...«, so was schicke ich meis-
tens gegen 23.40 Uhr raus. Sprachnach-
richten sind eine bequeme Alternative,
da kann man auch ein bisschen Begeis-
terung in die Stimme legen. Videobot-
schaften dagegen finde ich problema-
tisch, ich habe meine Mimik nicht so
gut im Griff.
Es ist so eine Quantität-und-Qualität-
Sache. Viele Geburtstage entwerten den
Einzelnen. Auf Facebook ist das gut zu
beobachten. Da hat man ja meistens
noch mehr Freunde als im echten Leben.
Also auch mehr Geburtstage. Entspre-
chend sind die Geburtstagsgrüße an der
Facebook-Pinnwand auch wirklich die
niederste Kategorie von Glückwünschen.
Auf Toilettenwände werden aufrichti gere
Dinge geschrieben. Ich glaube, dass die
Gratulation auf Facebook inzwischen
sogar als Zeichen der Abneigung gilt. Das
ist die Konsequenz der Geburtstagsinfla-
tion: Es geht wirklich nur noch darum,
zu zeigen, dass man den Geburtstag
wahrgenommen hat. Ich finde das un-
möglich. Wenn ich auf Facebook sehe,
dass jemand Geburtstag hat, schreibe ich
eine Nachricht und tu so, als hätte ich
von allein dran gedacht. Damit der an-
dere sich gut fühlt.
Gratulationen sind zu einer Pflicht-
aufgabe verkommen. Es klingt altmo-
disch, aber ich will nicht, dass man mir
gratuliert, weil es in einer To-do-Liste
steht. Ich möchte, dass man an mich
denkt, weil ich so ein netter Typ bin. Ein
sympathischer Mensch. Eben ein richtig
guter Freund.
FRANCESCO GIAMMARCO ENTDECKT
Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT
- OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
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Fotos: Ina Mortsiefer, EXPERIMINTA
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