S
tolz und Schande leben bedenk-
lich nah beieinander. Auch am
Rand oder Anfang Europas, in
Dublin, war das oft nicht anders.
Seit Jahrhunderten brüsteten sich
die Iren vor der ganzen Welt mit ihrem
goldenen Gift – dem Whiskey. Und doch
beschämten sie die eigenen Frauen bis in
die 1960er-Jahre hinein, wenn diese öffent-
lich in Pubs davon tranken. Nach sozialer
Konvention war das nicht ladylike, der
irische Klerus wurde auch ganz traurig.
Deswegen entstanden auf der Insel die
snugs. Kleine, blickdichte Kabinen in den
Kneipen, samt Geheimeingang und einer
Luke, durch die der Barmann den Stoff
verabreichen konnte. Hauptsächlich an
Damen, aber auch Polizeibeamte und Pries-
ter. Und heute? Gibt es die snugs noch?
Wenn ja, wer sitzt drin? Und warum?
Unweit der Heuston Train Station, zen-
tral, doch noch nicht im Mittelpunkt des
Stadtgeschehens, befindet sich das Ryan’s
of Parkgate Street. Seit 1886. Eines der
ältesten Pubs der Stadt. Die Altehrwürdig-
keit ist taufrisch spürbar. Über dem holz-
vertäfelten Tresen thront eine altmodische
Uhr und vertickt den Gästen Manierlich-
keit. Gedimmtes Glühen aus gelblichen
Lüstern. Die flaschenschwangeren Regale,
der Boden, die geschwungenen Zapfhähne
- alles trägt den beruhigenden und verzei-
henden Farbton von Whiskey. Einen snug
gibt es tatsächlich auch, im hintersten Win-
kel. »Private« steht auf einem Schild daran,
um Missverständnisse auszuschließen. Drei
nach außen gerichtete Spiegel bilden die
Fassade. Nur wenn Kellner hineinsausen,
sieht man durch die Pforte eine junge Frau
und zwei, drei junge Männer um einen
Tisch sitzen. Ich platziere mich so nah wie
möglich an den snug, ans äußerste Tresen-
eckchen. Der Kellner fragt mit der Kom-
pakthöflichkeit eines Busfahrers, was ich
wolle. »Einen Cider bitte«, Apfelschaum-
wein, auch so eine irische Stolzspezialität.
»Süßlich oder bitter?« Ohne meine Antwort
abzuwarten, bringt er zwei Probiergläser.
Der süßere Orchard Thieves wird es. Ich
schaumsüße mir etwas Mut an und betrete
den snug, zu etwas verdutzten, aber gemüts-
guten Mittzwanzigern.
»Seid ihr extra wegen des snug herge-
kommen?« – »Eigentlich nur Patrick«,
sagen alle außer Patrick und zeigen auf
den jüngsten der drei Gentlemen. Der
sagt: »Snugs sind so gemütlich.«
»Und kennt ihr die Geschichte dazu?«
Kurzes Allgemeinbildungsgrummeln,
dann meint einer: »Irgendwas mit Frau-
en, die nicht in Pubs gehen durften.«
»Entschuldige, dass ich so direkt bin«,
störe ich noch etwas, »aber hast du als
einzige Dame der Runde das gewusst?«
»Nein.«
Umso besser vielleicht. Wozu sich erst
hineindenken in den Unsinn?
Ich frage meinen Kellner, der wie ein
irischer Zac Efron aussieht, nach einem
zweiten snug-Pub. Er holt den kahlköpfigen
Shawn von der Bar zur Hilfe. »Ein snug, oh
Jesus«, flüstert Shawn, und seine Augen
weiten sich besorgt. Dann beraten sie, wild
mit den Armen wedelnd, als ließe sich die
Antwort fangen statt ersinnen. The Long
Hall in der George’s Street kolportiert der
irische Zac Efron schlussendlich.
Die George’s Street ist eine der pulsieren-
den Kammern im samstags schneller schla-
genden Hauptstadtherz. Sie liegt epizen-
trisch im Creative Quarter, wo Haus fassaden
schon mal mit einem etwas anderen Bild
vom letzten Abendmahl geschmückt und
die Cafés eitel sind. Die vielen blinkenden
Nachtlichter spiegeln sich im Wasser des
Liffey und färben es mal violett, mal gelb.
Vom Himmel regnet es Unmengen irischer
Wettertradition. Doppelstockbusse brausen
über die vielen Brücken Dublins.
Die Luft in der Long Hall ist gegen
zehn schon bierschwanger und laut. Vor-
richtungen, um die Privatsphäre zu schüt-
zen, bräuchte man in diesem Gedränge
eigentlich nicht, da jeder nur bis zur
nächsten Schulter sehen kann. Die Bar-
keeper in ihren schwarzen Hemden schau-
en wie gestandene Seeleute auf das feuchte
Treiben vor sich. Ausufernde Kronleuch-
ter, rote Wände, an denen Schrotflinten
und Gemälde aus der Zeit hängen, als
Napoleon noch a thing war. Von den snugs
sind nur einzelne Holzgerippe übrig, die
aber sind im gesamten Raum verstreut wie
die verwehten Reste eines Kartenhauses.
In einem sitzt händchenhaltend ein les-
bisches Pärchen. Auf vielleicht schönste
Weise aufzeigend, dass der Sittenbunker
heute nicht mehr nötig ist.
Um den Pegel zu halten, bestelle ich
einen 16-jährigen irischen Glenfiddich.
Gleichmäßig und geduldig glüht er im
Mund.
An der Wand entdecke ich die Auszeich-
nung mit dem James Joyce Award als au-
thentisches Pub Dublins. Der Schriftsteller
Joyce ließ seinen Protagonisten in Ulysses
grübeln, ob es möglich wäre, Dublin zu
durchlaufen, ohne ein Pub zu kreuzen.
(2011 löste ein Informatiker dieses Problem
per Algorithmus.) Ich aber brauche noch
einen dritten Drink und bekomme von ei-
nem der Barkeeper das Walsh’s empfohlen.
Es liegt ebenfalls in den etwas stilleren
Straßen von Stoneybatter. Einem rustikalen
Viertel voller Arbeiterhäuser, die sich wei-
gern, je violett oder gelb zu blinken (es heißt
aber, sie verlören diesen Kampf gegen die
Gentrifizierung zusehends). Noch ist an den
Wänden nix mit Barock in Öl, dort hängen
schwarz-weiße Zeitungsausschnitte, Fahn-
dungsbriefe sowie ein Hochzeitsfoto. Der
snug ist direkt beim Eingang. Eine Holz-
kabine mit milchig-undurchsichtigen, fast
an eine Kirche erinnernden bunten Fens-
tern. Ich bestelle einen 21 Jahre alten Red-
breast – benannt nach dem heimischen
Vögelchen, das selbst im Winter auf der
Insel bleibt. Und komme mit Paddy ins
Gespräch, weil wir an der Bar nebeneinan-
derstehen. Sollen wir uns etwa anschweigen?
Nicht in Irland. Paddy, Regenjacke über
die Busfahreruniform geworfen, trägt fröh-
liche Falten im Gesicht und erzählt von
seinen drei Kindern, die alle Künstler ge-
worden seien. Etwas enttäuscht ist er von
meiner Rugby-Unkenntnis. »Ich frage mich,
wer wohl im snug sitzt, Paddy.« – »No pro-
blem«, sagt Paddy. Läuft geradeaus (vier-
Guinness-geradeaus) zum snug, öffnet die
Tür, schiebt mich rein. Wieder drei Gentle-
men und eine Dame. Ähnliches Gespräch,
nur lustiger: »Was bedeutet das Wort snug
denn überhaupt?« – »You know, snug like a
bug in a rug.« Behaglich wie ein Käfer im
Teppich. Überlegung von links: »Was, wenn
der Käfer sehr groß, aber der Teppich sehr
klein ist?« Überlegung von rechts: »Oder der
Käfer klein, aber der Teppich sehr groß?« An
dieser Stelle sollte ich die Tür zu unserem
snug vielleicht besser schließen.
Ryan’s of Parkgate Street
28 Parkgate Street
Mo 12 bis 15 Uhr und 17 bis 22 Uhr,
Di–Do 12 bis 15 Uhr und 17 bis 22 Uhr,
Fr–Sa 12 bis 23 Uhr, So 12.30 bis 22 Uhr
Ryan’s of Parkgate Street
28 Parkgate Street
Mo 12 bis 15 Uhr und 17 bis 22 Uhr,
Di–Do 12 bis 15 Uhr und 17 bis 22 Uhr,
Fr–Sa 12 bis 23 Uhr, So 12.30 bis 22 Uhr
Drinks für jede Lebenslage (ZS Verlag GmbH, 208 S., 24,99 €) und
Die Omelettschule (Prestel Verlag, 128 S., 20 €) erhalten Sie
im Buchladen oder unter http://www.shop.zeit.de
W
ie Sie vielleicht gemerkt haben,
trinken und essen wir hier im
Ressort Z relativ gerne. Zumin-
dest an unseren Rubriken gemessen. Ein
Format haben wir in den vergangenen
Jahren dem Thema Alkohol gewidmet,
eines der Kunst des perfekten Omeletts.
In Drinks für jede Lebenslage erklärten
ZEIT-Autoren nicht nur, welche Drinks
sie gerne trinken, sondern auch, in welchen
Situationen genau. Der eine gönnt sich
nach der nervigen Reparatur eines kaput-
ten Rasenmähers einen schönen Manhat-
tan. Ein anderer verlängert Disco-Abende
mit dem »Zwei-Komponenten-Treibstoff«
Wodka-Mate.
In der Omelettschule teilte der Politik-
redakteur Gero von Randow seine Begeis-
terung für die französische Eierspeise mit
den ZEIT-Lesern – in Form von Rezepten,
vom Omelett mit Käse und Speck über das
mit Austern bis hin zum japanischen Ome-
lett, das natürlich mit Stäbchen zubereitet
und gegessen wird.
Sowohl die Trinkrubrik als auch die
Omelett-Kolumnen sind jetzt als Buch
erschienen.
Wir hoffen, Sie haben viel Spaß damit.
Aus der Redaktion
Dublin
Barkeeper weisen den Weg durch die Nacht: DMITRIJ KAPITELMAN trinkt wie eine irische Frau
IN DREI DRINKS DURCH
Fotos: Mark Nixon für DIE ZEIT
Long Hall
51 South Great George’s Street
Mo 12.30 bis 23.30 Uhr, Di–Do 12 bis
23.30 Uhr, Fr–Sa 12 bis 0.30 Uhr,
So 12.30 bis 23 Uhr
Wa l s h ’s
6 Stoneybatter
Mo–Do 15 bis 23.30 Uhr,
Fr–Sa 15 bis 0.30 Uhr, So 15 bis 23 Uhr
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- OKTOBER 2019 DIE ZEIT N 75
o
41
Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg
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ZEIT FUR
NEUE ARZTE
Aussteller vor Ort:
Ort: Konferenzzentrum München, Lazarettstraße 33, 80636 München | Uhrzeit: 10.00 – 16.30 Uhr | Der Eintritt ist frei
Programm und Anmeldung: http://www.zeit.de/zfnae | Folgen Sie uns: @ZEITvs t | @zeit_veranstaltungen
- OKTOBER · MÜNCHEN
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