Die Zeit - 03.10.2019

(singke) #1

macht


viel


Arbeit


ist schön,


aber


es eine Million Veganer, 70 Millionen Fleisch-
essern das Leben zur Hölle zu machen? Ganz
einfach: Das Paradies alles Herrschenden ist die
Selbstverständlichkeit. Und aus diesem Paradies
vertreiben die Veganer die Fleischesser und die
Radfahrer die Autofahrer; man muss sich jetzt
erklären, die Mehrheit fühlt sich darum ver-
folgt, während die Minderheit sich dominiert
fühlt. Die einen herrschen über das Gewissen,
die anderen über die Materie (immer mehr
Autos, zwei Millionen Schlachtungen am Tag),
und beide Seiten fühlen sich als Opfer.


  1. Der neue
    Generationenkonflikt


Aus dem 20. Jahrhundert wohlbekannt sind
immer wiederkehrende Generationenkonflik-
te. Der Konflikt zwischen Alt und Jung ist im
Zeitalter der Ökologie jedoch von anderer
Art, weil die Jüngeren von der galoppieren-
den Zerstörung der Biosphäre materiell viel
stärker betroffen sind als die Älteren, und –
was die Sache noch brisanter macht – sie sind
auch viel weniger dafür verantwortlich. Der
heutige Generationenkonflikt ähnelt eher
dem zwischen Kapital und Arbeit, weil es um
materielle Interessengegensätze geht. Mit
dem Unterschied, dass ein Arbeiter unter
Umständen sogar Kapitalist werden kann,
ein junger Mensch aber nicht zurückkann in
die seligen Siebzigerjahre, als CO₂ noch ein
weithin unpolitisches Gas war.


  1. Das Moralisieren hat
    die Seite gewechselt


Jahrzehntelang hat eine tapfere Minderheit
von Klimaaktivistinnen versucht, die Mehr-
heit des Weiter-so davon zu überzeugen, dass
unsere Art des Konsumierens und Produzie-
rens, unsere Mobilität und unsere Ernährung


  1. Der grüne Faden
    ging verloren


Der Moment lässt sich genau benennen, in
dem ich den grünen Faden verlor. Es war
der 30. Mai 2011, als Bundeskanzlerin An-
gela Merkel den Ausstieg aus der Atomkraft
und eine umfassende Energiewende ankün-
digte. Die Vorsitzende jener Partei, die uns
AKW-Gegnern einstmals Polizei und Bun-
desgrenzschutz auf den Hals geschickt hatte,
verkündete nun den Ausstieg, die »Klima-
kanzlerin« machte endlich Ernst – da kam
meine Welt in ungewohnter Harmonie zur
Ruhe. Dass es ökologisch irgendwie läuft,
das wollte aber nicht nur mein romantisches
Herz glauben, das wollte auch der Aufstei-
ger in mir, der sich aus kleinen Verhältnissen
hochgearbeitet hatte und der diesen Auf-
stieg eben auch ganz gern materialisiert se-
hen wollte: Volvo, Anzüge, Budapester
Schuhe und so weiter. Für eine zu lange
Weile guckte ich vor allem auf die Politik
und die blassgrün gefärbten Me dien, weni-
ger auf die Fakten. Tatsächlich lief es näm-
lich in Deutschland ökologisch verdammt
schlecht: Artensterben, Flächenverbrauch
und eben auch CO₂; eigentlich hätte man
gerade als Journalist all diese Miss stände
hart anprangern müssen, tat man aber
nicht – oder allzu wenige unter uns.


  1. Die Verharmlosung
    kommt aus der Mitte


Lange Zeit hielt der grüne Konsens der Ära
Merkel – sich ökologisch fühlen, unökolo-
gisch handeln –, bis er dann in zwei heißen
Sommern und an den Klimastreiks junger
Leute zerbrach. Damit muss nun auch die
größte kulturelle Leistung dieser Tage, das
wissende Ignorieren der existenziellen Klima-
krise, auf ein neues Level gehoben werden.
Aber wie? Anders als in den USA, wo es eine
starke, in der Republikanischen Partei fest
verankerte Position der Klimaleugnung gibt,
kommt bei uns die Verharmlosung der Kli-
makrise aus der politischen Mitte. Die kann
sich Demokratie nämlich nur in Gestalt gra-
dueller, möglichst konsensual geprägter Poli-
tik vorstellen. In Staaten mit Mehrheitswahl-
recht sind die Menschen es gewohnt, dass
sich der Sieger alles nimmt und auch mal
radikale Wenden vollzieht, in Deutschland
nicht. Darum dürfen reale Probleme niemals
so groß sein, dass sie mit der üblichen
Schritt-für-Schritt-alle-müssen-mit-Politik
unvereinbar wären. Die Klimakrise ist aus
dieser Sicht tendenziell antidemokratisch.
Darum werden nicht nur diejenigen atta-
ckiert, die physikalische Realitäten ausspre-
chen, es wird zunehmend die Wissenschaft
selbst infrage gestellt: Wahrscheinlich, hof-
fentlich übertreiben sie, muss Wissenschaft
nicht immer falsifizierbar sein? Damit aber
zweifelt ausgerechnet die politische Mitte an
der Rationalität, auf die sie sich sonst so viel
einbildet. Die Politikerin Merkel widerlegt
die Physikerin, die Physikerin widerspricht
der Politikerin. Und eine amtsmüde, von
Ängsten getriebene große Koalition wird
zum Maß des Möglichen, jenseits dessen
schon die Diktatur beginnt.


  1. Der Unterschied zwischen dem
    20. und dem 21. Jahrhundert


Zu Recht wird von den hiesigen politischen,
medialen und kulturellen Eliten wegen der
deutschen Verbrechen verlangt, die Gram-
matik des 20. Jahrhunderts genau zu kennen,
um eine Wiederkehr dieser Schrecken schon
in ihren Anfängen bekämpfen zu können.
Allerdings geht es im 21. Jahrhundert nicht
mehr nur um die alten Dualismen – Diktatur
versus Demokratie, Staat versus Individuum,
Kapital versus Arbeit. Vielmehr wird dieses
Jahrhundert bestimmt sein von der Zuspit-
zung eines Gegensatzes, der bislang eher
zweitrangig war: dem nämlich zwischen
Mensch und Natur. Die kategoriale Verände-
rung ist leicht zu verstehen und schwer zu
akzeptieren: Das Gegenüber ist nicht ein an-
derer Mensch, den man bekämpfen oder mit
dem man verhandeln könnte, sondern die
Natur selbst, die nicht kämpft, sondern rea-
giert. Die Natur spricht auch nicht (sie weint
höchstens). Zur Abwehr der Klimagefahren
taugt die Grammatik des 20. Jahrhunderts
nicht, mehr noch: Der Versuch, das neue
Problem mit den alten Kriterien zu vermes-
sen, trägt zur Ablenkung bei, weil biophysi-
kalische Phänomene mit ideologiekritischen
Instrumenten behandelt werden. Es hilft aber
nichts: Wenn Ökologen widerlegt werden,
bleibt die Ökologie davon unberührt.


  1. Das merkwürdige Verschwinden
    der Mehrheit


Demokratie bedeutet Herrschen nach Regeln
auf Zeit durch Mehrheit. Diese Mehrheit hat
den Vorteil, dass sie ihre Politik machen kann,
und den Nachteil, dass sie dafür auch einstehen
muss. Diese Art von Mehrheit gibt es hierzulan-
de beim Klimathema nicht. Annegret Kramp-
Karrenbauer hat dazu einen paradigmatischen
Satz gesagt: »Die Veganer machen den Fleisch-
essern das Leben zur Hölle.« Aber wie schaffen

lingen kann. Dass allerdings Technologie
binnen eines Jahrzehnts allein diese Wende
bewerkstelligen könnte – also ohne regulato-
rische und finanzielle Interventionen des
Staates und ohne erhebliche Verhaltensände-
rungen –, das ist bloß ein Jungs-Traum nach
Lektüre von zu vielen Was ist was-Büchern.


  1. Verzicht –
    ein Mythos


Die Diskussion darüber, ob es eine ökolo-
gische Wende mit oder ohne Verzicht geben
kann, ist mindestens vier Jahrzehnte alt. Da-
mals war sie auch sinnvoll. Hätte man da
schon mit einer Ökopolitik begonnen, die
auf technologischer Innovation beruht und
die Menschen ansonsten weitgehend in Ruhe
lässt, dann wäre es vielleicht sogar ohne Ver-
zicht gegangen. Dies ist inzwischen ausge-
schlossen. Deutschland hat nur noch zehn
Jahre Zeit, um einen klimafreundlichen Pfad
zu betreten. Eine Politik, die den Menschen
verspricht, dies sei möglich, ohne dass es sich
hier und da für den einen oder die andere
wie Verzicht anfühlt, macht sich hand lungs-
unfähig. Die heute noch herrschende Formel


  • Verzicht ist zwangsläufig illegitim – hat ge-
    radewegs in das wahrscheinlich wirkungslose
    Klimapaket der Groko geführt. Erst die Ent-
    tabuisierung des Verzichts macht auch den
    Blick frei für die kulturellen Vorzüge und
    befreienden Aspekte, die Verzicht haben
    kann (allerdings nur für die, die viel haben,
    also in Deutschland für die Mehrheit).
    9. Die Klimakrise stellt
    die soziale Frage neu


In den Debatten um die Klimakrise ge-
schieht regelmäßig ein kleines Wunder:
Ausgerechnet jene, die sonst das Hohelied

der Ungleichheit singen (weil nur der An-
reiz, mehr zu haben als andere, die Gesell-
schaft innovativ und fleißig mache), ent-
decken nun beim Billigfliegen oder beim
billigen Fleischessen, dass sich Arme, potz
Blitz, Dinge nicht leisten können, die Rei-
che sich leisten können. Und sie sind darü-
ber empört – vielleicht zum ersten Mal in
ihrem Leben. Tatsächlich wirft die Klima-
krise die soziale Frage neu auf. Allerdings
kann sie nicht mehr zuungunsten einer
wirkungsvollen Klimapolitik beantwortet
werden. Vielmehr müssen die sozial Schwä-
cheren so gestärkt werden, dass sie sich
ökologisches Verhalten leisten können, und
die Bessergestellten müssen es bezahlen.
Was sich insofern auch gut trifft, weil Letz-
tere ohnehin den größeren ökologischen
Fußabdruck haben. Die Klimakrise stellt
das bisherige System von Anreiz und Be-
lohnung aber noch auf andere Weise infra-
ge: Die Ungleichheit lässt sich vielleicht
noch ökonomisch begründen, ökologisch
keinesfalls. Warum sollte ein Reicher mehr
Rechte haben, das Klima in Gefahr zu
bringen, als ein Armer? Und was passiert
mit der Motivation der Mittel- und Ober-
schicht, wenn Wohlstand oftmals nicht
mehr bewundert wird, sondern ökologisch
verpönt ist, was wird dann aus der Vorzeig-
barkeit des Reichtums?


  1. Die Ökodiktatur droht
    nicht von Ökologen


Die Vorstellung, dass eine Ökodiktatur dro-
he, weil sich irgendwelche Ökoideologen das
ausgedacht hätten oder weil in ihnen ein To-
talitarismus lauere, der sich Zug um Zug
entfaltet, stammt aus dem 20. Jahrhundert.
Und ist naiv. Wenn es irgendwann einen
grün gefärbten Notstandsstaat geben sollte,
dann, weil die Klimakrise so dramatisch ge-
worden ist, dass sie anders nicht mehr unter
Kontrolle gebracht werden kann. Die Öko-
diktatur verdankte sich dann nicht einem
politischen Sieg der Ökologen, sondern de-
ren Niederlagen und dem aggressiven Atten-
tismus ihrer Kritiker, nicht aus ökologischer
Ideologie, sondern aus ökologischen Unter-
lassungen.


  1. Freiheit
    und Materie


Der überkommene Liberalismus tut sich ge-
nerell schwer mit dem Materiellen, weil es
ihm unbequem ist, dass Freiheit nicht allein
eine Frage von Rechten und Märkten ist,
sondern auch von materiellen Voraussetzun-
gen, die oft ungleich sind. Zutiefst fremd ist
diesem spätliberalen Denken erst recht die
Vorstellung, dass man Freiheit durch falsche
Anwendung regelrecht verbrauchen kann.
Genau darum aber geht es bei der Klima-
erwärmung. Jedes Gramm Kohlendioxid,
das heute zu viel ausgestoßen wird, führt in
wenigen Jahren dazu, dass umso mehr ein-
gespart werden muss – koste es, was es wolle.
Geschieht dies nicht, dann wird die Er-
wärmung selbst die Gesellschaften in ein
Dickicht von Sachzwängen führen, bis hin
zu notstandsartigen Zuständen, was von der
Seite der Freiheit aus gesehen bedeutet: Die
Zahl der realen Wahlmöglichkeiten nimmt
ab, die Fehlertoleranz schwindet, das Reich
der Notwendigkeit übernimmt die Macht.
Angesichts dessen ist es natürlich nicht mehr
liberal, auf tradierten Verschmutzungsprivi-
legien zu bestehen, sondern feudal.


  1. Es gab noch keine
    ökologische Politik


Der fundamentale Unterschied zwischen
dem 20. und dem 21. Jahrhundert, die Kul-
tur des wissenden Ignorierens, die neuen
Fragen an Gerechtigkeit und Freiheit – all
das stellt eine ungeheuerliche Herausforde-
rung dar. Man könnte verzweifeln. Muss es
aber nicht. Denn wer die Größe der Aufgabe
kennt, wird mehr Verständnis dafür haben,
dass die Politik sich mit dem Klima so
schwertut. Und außerdem: Es hat bislang
noch nirgends, gewiss nicht in Deutsch-
land, einen echten Versuch zu einer Klima-
wende gegeben. Ökologische Politik hat bis-
lang die Struktur eines Fluchtwegs, vor den
Menschen und vor der Sache selbst, nicht
die eines Planes. Zurzeit wird mit wachsen-
der Verzweiflung gefragt, wie um alles in der
Welt die Wende noch zu schaffen sein
könnte. Nun: Es ist ja noch nie wirklich
probiert worden.

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sich grundlegend ändern müssen, um eine
Klimakrise zu vermeiden, die aber erst in
einigen Jahrzehnten sichtbar würde. Ein un-
mögliches Vorhaben, bei dem die Ökologen
nicht viel mehr in der Hand hatten als einige
damals noch eher wackelige wissenschaftliche
Erkenntnisse und eben: viel Moral. Seit aller-
dings die Klimakrise offenkundig ist, seit es
bei ihrer Bekämpfung nicht mehr um später
und woanders, sondern um jetzt und hier
geht, seit also Klimapolitik aufgeklärter ge-
sellschaftlicher Eigennutz geworden ist, hat
das Moralisieren die Seiten gewechselt. Die
Klimabremser verwandeln nun jeden ökolo-
gischen Imperativ und jede klimapolitische
Forderung in eine moralische Zumutung,
um sie dann zurückzuweisen. Intensiv be-
schäftigen sie sich auch mit der Frage, ob
Klimaaktivisten konsequent leben. Konse-
quenz mag eine interessante protestantische
Idee sein, nur trägt sie zur Frage nichts bei,
ob das, was die Klimaschützer fordern, CO₂-
mindernd wirkt oder nicht. Das Anmorali-
sieren Andersdenkender ersetzt auch keine
eigenen klimapolitischen Vorschläge.


  1. Die Jungs-Träume
    des Liberalismus


Der überkommene Liberalismus, der sein
Denken noch immer aus dem drittrangigen
Dualismus von Staat und Individuum speist,
kann mit der Klimakrise nichts anfangen,
weswegen er sie abwehrt, und das geht so:
Will es der Staat richten, ist es staatliche Gän-
gelung; will es der Einzelne tun, ist es Mora-
lisieren; soll es der Markt richten, dann ist es
unsozial. Aus diesem Bermuda-Dreieck libe-
raler Klima-Nichtpolitik gibt es nur einen
Ausweg: Technologie. Daran ist so viel rich-
tig, dass eine signifikante Senkung der CO₂-
Emissionen ohne technologische Neuerun-
gen und spektakuläre Erfindungen nicht ge-

Grün


Der Text fasst
wesentliche Thesen des
Buchs »Alles wird anders –
Das Zeitalter der Ökologie«
zusammen, das dieser Tage
im Kiepenheuer & Witsch
Verlag erscheint

ZU WENIG, ZU SPÄT? DIE GROKO UND DAS KLIMA


Früher waren die Ökos moralisch, heute sind es die Öko-Gegner. Wer mehr


verschmutzt als andere, liebt nicht die Freiheit, sondern seine feudalen


Privilegien. Zwölf Thesen zur Klimadebatte VON BERND ULRICH


Illustration: Gérard DuBois

8 POLITIK 2. OKTOBER 2019 DIE ZEIT N
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