Süddeutsche Zeitung - 08.10.2019

(Marcin) #1
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Meinung
Dass Facebook Ethik-Forschung
finanziert, löst keines der Probleme,
die das Unternehmen schafft 4

Politik
Nach seinem Wahlsieg will der
portugiesische Premier wieder
eine Minderheitsregierung 6

Panorama


Um das Skigebiet zu vergrößern,
werden im Pitztal Gletscherspalten
zugebaggert 8

Feuilleton
Wie sich das Staatsschauspiel
Dresden gegen die Neue
Rechte positioniert 10

Sport
Bei der Turn-WM liefern die
deutschen Männer eine
starke Vorstellung 24

Medien, TV-/Radioprogramm 27,
Forum & Leserbriefe 13
München · Bayern 26
Rätsel 27
Traueranzeigen 19

Berlin – Die große Koalition ringt bis
zuletzt um die Details ihres Klimapakets.
Vor der entscheidenden Sitzung des Kabi-
netts am Mittwoch warnten Umweltver-
bände vor einem Aufweichen der Ziele. Um-
stritten ist etwa der aktualisierte Entwurf
des Klimaschutzgesetzes. Umweltschüt-
zer befürchten, dass Union und SPD darin
die Verantwortung der einzelnen Sektoren
wie Verkehr oder Industrie zu stark lo-
ckern könnten. Auch die Klimabewegung
erhöht den Druck. Hunderte Aktivisten
der Umweltgruppe „Extinction Rebellion“
blockierten in europäischen Städten wie in
Berlin zentrale Verkehrsachsen.
Der vom Umweltministerium veröffent-
lichte Entwurf für das Klimagesetz in
Deutschland legt für die sechs Sektoren
Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr, Ge-

bäude, Landwirtschaft sowie Abfallwirt-
schaft und Sonstiges jährliche CO2-Minde-
rungsziele bis 2030 fest. Verantwortlich
für das Einhalten ist das jeweilige Bundes-
ministerium. Hält ein Sektor die Ziele
nicht ein, muss das Ministerium innerhalb
von drei Monaten ein Sofortprogramm vor-
legen, um die Einhaltung im Folgejahr si-
cherzustellen. Im Vergleich zu einem ers-
ten Gesetzentwurf vom Februar soll es die
Möglichkeit geben, dass die CO2-Minde-
rungen in einem anderen Sektor erbracht
werden. Sinken etwa die Gebäudeemissio-
nen unerwartet stark, könnte dieser Sek-
tor beim Verkehr aushelfen. Zudem kön-
nen Defizite über einen längeren Zeitraum
ins Folgejahr geschoben werden.
Die Umweltorganisation BUND warnte
vor einem „Verschiebebahnhof“. Das Um-

weltministerium wies die Kritik als „unzu-
treffend“ zurück. Es bleibe dabei, dass die
Sektorziele auf Jahresbudgets herunterge-
brochen, überprüft und nachgeschärft wer-
den, sagte Jochen Flasbarth, Staatssekre-
tär bei Umweltministerin Svenja Schulze
(SPD). Es sei nicht möglich, wegen verpass-
ter Klimaziele im Verkehr vorzeitig weitere
Kohlekraftwerke zu schließen. Die Tausch-
möglichkeit gelte nur für die Bereiche Ver-
kehr, Gebäude und Landwirtschaft.
Die Spitzen der großen Koalition hatten
sich Ende September auf ein milliarden-
schweres Klimaschutzpaket geeinigt. Da-
mit soll Deutschland seine Klimaziele für
2030 erreichen und seine Treibhausemissi-
onen von derzeit 866 Millionen auf dann
563 Millionen Tonnen jährlich senken. Das
Kabinett will am Mittwoch das Klima-

gesetz sowie alle Maßnahmen des Klima-
schutzprogramms 2030 sowie Steuergeset-
ze verabschieden. Noch am Montag liefen
die Verhandlungen weiter. Trotz harten
Ringens waren entscheidende Details of-
fen. Die Abstimmung befinde sich aber in
der Endphase, hieß es.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
erwartet auch im Bundesrat „noch sehr in-
tensive Diskussionen“. Die Klimaziele be-
nötigten teilweise die Zustimmung der
Länderkammer, in der Union und SPD kei-
ne eigene Mehrheit haben. „Wir glauben,
dass man etwas langsamer einsteigen soll-
te, um die Menschen mitzunehmen“, sagte
Merkel am Montag im nordbadischen Sins-
heim. Aber dann müsse man nachsteuern.
m. balser, c. gammelin, c. henzler
 Seiten 2 und 4

Priština – Kosovo steht vor einem Macht-
wechsel. Nach dem Sieg der Opposition bei
der Wahl am Sonntag kann Albin Kurti, der
Führer der linksnationalistischen „Selbst-
verteidigung“, mit dem Auftrag zur Regie-
rungsbildung rechnen. Das amtierende Re-
gierungsbündnis aus Parteien, die aus der
Aufstandsmiliz UÇK hervorgegangen wa-
ren, ist damit abgewählt. Kurti hatte im
Wahlkampf versprochen, die Korruption
zu bekämpfen.dpa  Seiten 4 und 6

New York – US-Präsident Donald Trump
hat im Streit um die Herausgabe von
Steuererklärungen eine Niederlage vor
Gericht erlitten. Bundesrichter Victor Mar-
rero lehnte am Montag einen Antrag
Trumps ab, mit dem der Präsident die
Staatsanwaltschaft von Manhattan daran
hindern wollte, die Übergabe der Doku-
mente zu erzwingen. Trump legte umge-
hend Beschwerde gegen die Gerichts-
entscheidung ein. reuters  Seite 6

München – Der Nobelpreis für Medizin
geht in diesem Jahr an William Kaelin
(USA), Peter Ratcliffe (Großbritannien)
und Gregg Semenza (USA). Die drei For-
scher entdeckten Mechanismen, mit de-
nen Zellen den Sauerstoffgehalt ihrer Um-
gebung wahrnehmen. Mit ihrer Arbeit hät-
ten sie die Grundlage für das Verständnis
und die Behandlung vieler Krankheiten ge-
legt, verkündete das Karolinska-Institut in
Stockholm.sz  Wissen

Unter US-Psychologen kursiere ein neues
Krankheitsbild, schreibt der in Wien leh-
rende Historiker Philipp Ther. Zu den
Symptomen gehörten „Paranoia, Angst-
zustände, Depressionen, somatische Be-
schwerden, Schlafprobleme, Konzentrati-
onsstörungen und Albträume“. In Wahr-
heit ist die Liste der Symptome viel län-
ger, aber auch in der Kurzform liest sie
sich in etwa so furchterregend wie der
Name der Erkrankung, die dahintersteht:
„Trump Anxiety Disorder“ (TAD).
Das FachblattPsychology Todayriet
Therapeuten in einem Aufsatz unter dem
Titel „What’s Trump Doing in Your Thera-
py Room?“ schon 2018, mit ihren Patien-
ten über Politik zu reden. Und ihnen klar-
zumachen, dass sich die politische Krise,
in der sich die Gesellschaft seit dem Amts-
antritt des US-Präsidenten befindet, nicht
direkt auf ihr eigenes Leben auswirken
müsse. DasJournal of Clinical Psychology
widmete der TAD gleich ein ganzes Heft.

Das Thema ist also offenbar ernst. Und
dies nicht nur in den USA. Denn der Bre-
xit, Theresa May und nun Boris Johnson
sind zur gleichen Zeit über die Briten ge-
kommen wie Trump über die Amerika-
ner. Und so mehren sich im Vereinigten
Königreich die Anzeichen für etwas, das
nicht TAD, sondern BAS abgekürzt wird:
das „Brexit Anxiety Syndrome“.
Seit 2016, seit dem Referendum, gibt
es kaum ein anderes Thema in der briti-
schen Politik. Der Austritt selbst kommt
nicht voran, die Debatten drehen sich im
Kreis. Zeitungen, Fernsehen berichten in
Endlosschleifen. Ökonomische Unsicher-
heit, die Dauerplanung für den Ernstfall,
Sorgen um Arbeitsplatzverlust und dro-
hende Rezession sind allgegenwärtig. Hin-

zugekommen sind unter Johnson nun
auch noch eine spalterische Sprache, Ulti-
maten, Drohungen, Wutausbrüche, Geset-
zesbrüche. Es ist, als lebe das Land unter
einem Damoklesschwert, das schwebt
und schwebt und doch nicht fällt. Statt-
dessen fällt das Pfund, und die Hausprei-
se fallen auch. Der Echoraum in den Köp-
fen ist voll von Backstops und Zollunio-
nen und Prorogationen und Misstrauens-
voten. Und nichts geht voran.
Kein Wunder, dass die Nation schlecht
schläft und schlecht träumt. Das „Brexit
Anxiety Syndrome“ ergreift die liberale,
europhile Mittelklasse, Akademiker,
Remainer, junge Menschen, aber auch
Brexiteers, die ihren Lebenstraum gefähr-
det sehen. Und es begleitet alle, die täg-

lich beruflich mit dem Brexit zu tun ha-
ben: Politiker, Experten, Journalistinnen.
Die Nachrichten-Website Politico
schreibt, das „psychologische Trauma“
stürze Menschen in die Depression, die es
„gewohnt sind, rational zu denken und zu
handeln“. Die Brexit-Angst resultiere aus
Kontrollverlust und Unsicherheit. Das In-
stitut Britain Thinks gibt an, 64 Prozent
aller Briten hätten das Gefühl, der Brexit
wirke sich negativ auf ihre seelische Ge-
sundheit aus. Die Mental Health Foundati-
on wird konkreter: Das „Gefühl der
Machtlosigkeit, Wut, chronische Sorge“
fräßen sich in die Seelen.
Die Unterschiede zwischen Remainern
und Leavern sind dabei offenbar nicht
groß. Das Motto von Johnson, „Let’s get
Brexit done“, erhöht den Druck auf beide
Lager. Die eine Hälfte fürchtet, dass er
scheitert. Die andere fürchtet, er macht
Ernst. Und fast alle fürchten sich vor dem,
was kommt. cathrin kahlweit

von paul-anton krüger

München – US-Präsident Donald Trump
hat überraschend den Rückzug der US-
Truppen aus Nordsyrien angeordnet und
damit den Weg frei gemacht für einen Ein-
marsch der Türkei. Vorangegangen war
ein Telefonat mit dem türkischen Staats-
chef Recep Tayyip Erdoğan, wie das Weiße
Haus mitteilte. Die Gebiete an der Grenze
zur Türkei werden überwiegend von den
mit den USA verbündeten kurdischen YPG-
Milizen kontrolliert, die im Kampf gegen
die Terrormiliz Islamischer Staat die
Hauptlast getragen haben. Die Türkei be-
trachtet sie als syrischen Ableger der PKK,
die sie als Terrorgruppe bekämpft.
Erdoğan will eine Sicherheitszone ein-
richten, die mehr als 30 Kilometer auf syri-
sches Gebiet reicht. Dort sollen dann syri-

sche Flüchtlinge aus der Türkei angesie-
delt werden. US-Regierungsvertreter sag-
ten, dem überwiegend aus kurdischen
YPG-Einheiten bestehenden Milizenbünd-
nis Syrische Demokratische Kräfte (SDF)
sei mitgeteilt worden, dass die USA es
nicht verteidigen werden. Im Januar hatte
Trump der Türkei noch mit „wirtschaft-
licher Zerstörung“ gedroht, sollte sie die
Kurden attackieren.
Die Autonomieverwaltung in Nord-
syrien warnte, ein Angriff der Türkei könn-
te „katastrophale Folgen“ haben. „Wir
werden unser Recht auf Selbstvertei-
digung nutzen“, hieß es in einer Erklärung,
ein Sprecher des Milizenbündnisses SDF
kündigte an, dass die Verteidigung des
eigenen Volkes künftig Vorrang haben
müsse vor der Bekämpfung der Überreste
der Terrormiliz IS.

Die EU warnte die Türkei, weitere Kämp-
fe würden „das Leiden der Zivilbevölke-
rung verschlimmern und zu massiven Ver-
treibungen führen“. Die Bundesregierung
zeigte sich besorgt. Laut den UN leben et-
wa 750 000 Zivilisten in den Gebieten, die
nach Erdoğans Vorstellungen zur Sicher-
heitszone gehören sollen.
US-Soldaten verließen am Montag
Stellungen in den Orten Tel Abjad und Ras
al-Ain, die direkt an der Grenze zur Türkei
liegen. Ihre Präsenz hatte bislang einen
Einmarsch verhindert. Kurdische Ein-
heiten hatten sich auf Vermittlung der USA
bereits sieben Kilometer weit von der Gren-
ze zurückgezogen. Mit diesen Arrange-
ments wollte die US-Regierung den
Sicherheitsbedürfnissen der Türkei entge-
genkommen und zugleich einen Ein-
marsch verhindern.

Trump verteidigte seine Entscheidung
auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.
Die Kurden hätten an der Seite Amerikas
gekämpft, dafür aber viel Geld und Militär-
ausrüstung erhalten. Die Türkei, Europa,
Syrien, Iran, Irak, Russland und die Kur-
den sollten die Situation nun klären. Die
USA müssten die „lächerlichen, endlosen
Kriege“ beenden und ihre Soldaten heim-
holen.
Das Weiße Haus begründete den Abzug
auch damit, dass Deutschland und andere
europäische Staaten sich geweigert hät-
ten, inhaftierte ausländische IS-Kämpfer
zurückzunehmen. Die USA würden sie
nicht auf Steuerzahler-Kosten festhalten.
Die Türkei werde jetzt die Verantwortung
für sie übernehmen. Allerdings halten bis-
lang die Kurden diese Dschihadisten in
Haft, nicht die USA.  Seiten 4 und 7

HEUTE


Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Gericht: Trump muss


Steuerpapiere offenlegen


Berlin – Im Streit um die geplatzte Pkw-
Maut gerät Verkehrsminister Andreas
Scheuer (CSU) stärker unter Druck. In
einem Brief werfen die Grünen ihm nach
Informationen derSüddeutschen Zeitung
„Verschleierungstaktik“ bei der Aufklä-
rung des Debakels vor. Scheuer wolle dem
Bundestag gezielt Informationen über bri-
sante Treffen mit den Mautbetreibern „vor-
enthalten“, schreiben die Grünen-Spre-
cher für Finanzen und Verkehr, Sven-Chris-
tian Kindler und Stephan Kühn, in einem
Brief an den Minister und setzen ihm eine
letzte Frist. Am Dienstag soll Scheuer dem
Bundestag bis 12 Uhr offene Fragen beant-
worten und fehlende Dokumente liefern.
Nach Informationen von Insidern sollen
führende Vertreter der Betreiberfirmen
Scheuer im vergangenen Jahr vorgeschla-
gen haben, die Unterzeichnung der Maut-
verträge auf einen Zeitpunkt nach dem er-
warteten EuGH-Urteil zu verlegen. Die Ver-
träge wurden dennoch geschlossen. Nun
drohen dem Steuerzahler hohe Schaden-
ersatzforderungen. Die Grünen beklagen,
dass das Ministerium zu den Terminen
keine Vermerke oder Protokolle vorlege.
Scheuer verstricke sich in Widersprüche,
heißt es in einer Stellungnahme von
Kindler und Kühn. Die Öffentlichkeit habe
nun ein Recht darauf, zu erfahren, ob der
Minister Angebote der Firmen vorsätzlich
ignorierte.mbal  Seite 6

Es ist verbreitet bewölkt und regnerisch
bei 11 bis 18 Grad. Nur südlich der Donau
wird es freundlicher. Im Nordwesten und
äußersten Norden wechseln sich Sonne
und Regen ab. Im Bergland und an der Ost-
see stürmisch.  Seite 13

Diese Politik macht krank


Der Brexit stürzt immer mehr Briten in psychische Krisen


USA entziehen Kurden den Schutz


Präsident Trump holt die amerikanischen Truppen aus Nordsyrien zurück und macht


damit den Weg frei für einen Einmarsch der Türkei. Die EU warnt vor „massiven Vertreibungen“


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Umweltschützer: Klimaziele werden aufgeweicht


Neuer Gesetzentwurf der Regierung sieht weniger strikte Konsequenzen für verfehlte CO2-Einsparungen vor


Machtwechsel


in Kosovo


Medizin-Nobelpreis


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Glück oder Ruin? Zwei Bauern und der Handelskrieg Die Seite Drei


Ultimatum


für Scheuer


Im Streit um das Maut-Debakel
setzen Grüne Frist zur Aufklärung

(SZ) Wenn man einer herausragenden Per-
son partout kein Denkmal setzen möchte,
kann man immer sagen, diese Person habe
sich auf ihre Weise bereits selbst ein Denk-
mal gesetzt. In Göttingen zum Beispiel ist
ja Heinrich Heine zum Christentum kon-
vertiert; er hat sich dort duelliert und sogar
ein bisschen studiert. Der Stadt Göttingen
hat Heine ein sehr markantes Denkmal
mit dem Satz „Die Stadt ... gefällt einem
man besten, wenn man sie mit dem Rü-
cken ansieht“ gesetzt. „Rücken“ steht hier
als freundliches Stellvertreterwort für eine
andere, robustere Vokabel. Die Stadt Göt-
tingen hat lieber anderen Dichtern Denk-
mäler gesetzt, dazu zählen der unglückli-
che Aufklärer Gottfried August Bürger und
sein Freund, der eher heitere Aufklärer Ge-
org Christoph Lichtenberg, der die Beerdi-
gung Bürgers durch ein Fernrohr beobach-
tete. Lichtenberg bekam gleich zwei Denk-
mäler. Das auf dem Marktplatz wurde aus
dem Schmelz eingeschmolzener Denkmä-
ler von Lenin, Stalin und Enver Hodscha ge-
gossen. „Wenn ein Denkmal aus vielen wir-
ren Köpfen besteht, dann muss der eine
Kopf, dem es gilt, umso klarer leuchten.“
Das hätte Lichtenberg exakt so sagen kön-
nen. Hat er aber nicht. Wir haben es ihm in
den Mund gelegt, um ihm hier im „Streif-
licht“auch noch ein Denkmal zu setzen,
falls die beiden Lichtenberg-Denkmäler in
Göttingen mal geklaut werden sollten.
Es ist nämlich so, dass vor ein paar Wo-
chen das Denkmal eines dritten Aufklä-
rers, das von Heinz Erhardt nämlich, auf of-
fener Straßenkreuzung gestohlen wurde.
Die berühmte Stele zeigte den Dichter und
Humoristen im Gewand eines Verkehrspo-
lizisten, so wie ihn seine Freunde und Ver-
ehrer aus dem seinerzeit in Göttingen ge-
drehten Film „Natürlich die Autofahrer“
kennen. Warum jemand so etwas tut? Da
muss man gar nichts groß hineingeheim-
nissen – weil er Heinz Erhardt toll findet
und ein Konterfei des Meisters gerne bei
sich zu Hause hat.
Für die Stadt Göttingen ist dieses ganze
Denkmal-Bohei sehr lästig, denn immer,
wenn der Name Göttingen fällt, sagen die
einen: Ach ja, die Stadt mit der geklauten
Erhardt-Stele und dem aus Lenin, Stalin
und Hodscha zusammengemixten Lichten-
berg-Denkmal. Richtig, sagen die anderen.
Aber es ist auch die Stadt des heiß um-
kämpften Kragenbär-Denkmals für Ro-
bert Gernhardt, den manche nämlich auch
für einen Aufklärer halten und die deshalb
den onanierenden Bronze-Bären unbe-
dingt im Herzen Göttingens sehen wollten.
Die Gegner des Plans hatten so wenig
Draht zum Gernhardt’schen Humor wie
das Gauß-Weber-Denkmal noch den ver-
bindenden Draht zwischen den beiden gro-
ßen Telegrafen-Erfindern Carl Friedrich
Gauß und Wilhelm Weber aufweist. Der
Draht ist nämlich wie das Heinz-Erhardt-
Denkmal verschwunden, und mit der Zeit
hat man sich in Göttingen lässig an den Ver-
lust gewöhnt.

DAS WETTER



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NACHTS

Was im Alter bleibt


Viele Bürger fürchten um ihren Lebensstandard


im Ruhestand. Die neue SZ-Serie „Sorgenfrei


vorsorgen“ erklärt, was man tun kann


 Wirtschaft, Seite 15


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