Süddeutsche Zeitung - 08.10.2019

(Marcin) #1
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Das berühmteste Stück aus Gioachino Ros-
sinis vierstündiger Oper „Guillaume Tell“
ist die Ouvertüre. In vier Sätzen erzählt Ros-
sini hier die Handlung der Oper und die Di-
alektik seines letzten Werks fürs Musikthe-
ater zwischen Naturbeschreibung und Poli-
tik. Dieses Vorspiel beginnt mit einem Solo-
cello, dem gleich vier weitere Celli zur Seite
treten. Auf der Bühne der Opéra de Lyon
sitzt eine Cellistin, neben ihr tanzt ein Paar
in Anzug und Abendkleid, tanzt kultiviert
und versonnen Poesie und Anziehung.
Die Bühne ist ein weißes Konzertpodi-
um, drumherum stehen schwarze Stühle,
die auf Zuschauer warten, der Hinter-
grund ist ein riesiger Bergprospekt, Nebel
wabert um Feld und Eis. Während die Celli
süß von Idylle singen, taucht ein Typ auf,
gekleidet wie ein Mitglied der Gang von
Alex aus Kubricks Film „A Clockwork Oran-
ge“, also lange weiße Unterwäsche, Suspen-
sorium über dem Gemächt, schwarze Melo-
ne, Baseballschläger. Weitere solche Ge-
stalten kommen hinzu, lugen der Cellistin
über den Rücken, zupfen an den Noten,
das Tanzpaar verharrt in Irritation. Schließ-
lich flieht die Musikerin – eine Statistin,
wie man gleich merken wird –, die Typen
zerschlagen das Cello, das Tanzpaar flieht
gleichermaßen, zurück bleiben das zerstör-
te Instrument, zerzauste Noten.
Diese Inszenierung der Ouvertüre ist
prägnant und brillant, das Böse vernichtet
die Kultur. So wie Rossini in der Ouvertüre
seine ganze Oper erzählt, so erzählt Tobias
Kratzer hier seine ganze Inszenierung. We-
sentlich Neues kommt in den folgenden
Stunden nicht hinzu.
Kratzer ist nicht erst seit seinem Bayreu-
ther „Tannhäuser“-Triumph in diesem
Sommer derzeit einer der spannendsten
Opernregisseure. Mit äußerster Konse-
quenz erzählt er stets mit den Motiven ei-
ner Oper eine Geschichte, auf die man zu-
nächst oft gar nicht käme, die dann aber
oft außerordentlich gut funktioniert und
gar nicht wie Tünche, sondern wie aus dem
Stück heraus entwickelt wirkt. Für Rossi-
nis „Tell“, uraufgeführt 1829 in Paris, form-
ten fünf Autoren Schillers Drama in ein Li-
bretto um, das vom Freiheitskampf der
Schweizer gegen die Habsburger Okkupati-
onsmacht erzählt. Mit dieser historischen
Situation hat Kratzer nicht viel am Hut, er
will viel mehr allgemeingültig sein. Und
deshalb geht es hier um den Kampf von
Kultur gegen Unkultur.
Unter den Tisch fallen dann alle Aspek-
te, in denen Rossini Natur malt, auch wenn
die im ungeheuer plastischen, zupacken-
den Dirigat von Daniele Rustioni ausge-
formt werden. Der Sturm auf dem Vier-
waldstättersee, den Tell zur Flucht aus des
Landvogt Geslers (Jean Teitgen) Fängen
nutzt und der in der Ouvertüre anklingt, ist
hier kein Brausen der Natur mehr. Er kün-
det von der Raserei des Unverstands – im
Vorspiel tritt Tell auf und klaubt erschüt-
tert die Reste des Cellos zusammen.
Doch noch feiert das Schweizer Volk im
ersten Akt sich selbst, speist Familie Tell
am Tisch auf dem Podium, wirkt das Volk
wie ein Konzertpublikum in spannungsfro-
her Erwartung. Einen Bogenschießwettbe-
werb gibt es bei Kratzer an dieser Stelle
nicht, Tells Sohn Jeremy gewinnt aber sein
Geigenvorspiel. Die Figur dieses Sohnes er-
findet Kratzer wunderbar: Er wird gespielt
von einem kleinen Jungen und einer jun-

gen Frau, die wie seine große Schwester
wirkt, was szenisch große Freiheiten er-
möglicht. Die junge Dame leiht Jeremy ih-
re Stimme, Jennifer Courcier macht das
mit dem blühenden Charme der Jugend.
Das Fest des ersten Akts geht weiter,
drei Hochzeitspaare tanzen kleine Erzäh-
lungen von Liebe, die der Choreograf De-
mis Volpi alten Schweizer Tänzen abge-
schaut haben könnte. Von Ferne tönen die
Hörner von Geslers Mannen; wenn sie er-
klingen, läuft schwarze Farbe den Alpen-
prospekt hinunter. Am Ende werden die
Berge unter dem Schwarz verschwunden
sein. Überhaupt braucht Kratzer, für ihn
unüblich, diesmal kein Video, alles wird
analog dargestellt, verdeutlicht nur durch
dieses Bild seines Ausstatters Rainer Sell-
maier von den sich verdunkelnden Alpen.
Schließlich bricht die Barbarei herein.
Der alte Melcthal, Vater von Tells Mitstrei-
ter Arnold, wird von der „Clockwork Oran-
ge“-Horde auf offener Bühne, misshan-
delt, geblendet, erschlagen – zuvor hat der
honorige Tomislav Lavoie mit einem Takt-
stock Volkes Chor dirigiert, jetzt bekommt
er ihn in die Augen. Hier setzt die Umdeu-
tung der Kultur ein, der im zweiten Akt
beim Rütli-Schwur in eine Orchesterver-
sammlung mündet, an deren Ende alle
Choristen auf der Bühne ihre Instrumente
zerlegen und daraus Waffen basteln. Der
Boden einer Geige ergibt, an eine Klarinet-
te geklebt, eine veritable Doppelaxt.

Kratzer ist konsequent, aber subtil ist
hier nichts. Das in die Enge getrieben Kul-
turvolk gibt selbst seine Kultur auf, um
sich zu wehren. Jeremy verbrennt später
Notenblätter als Lichtsignal für den Auf-
stand, Tells „Bogen“ ist eine aus einem Fa-
gott gebaute Armbrust, seine Pfeile sind
Geigenbögen.
In seiner Klarheit hat das über die lange
Strecke etwas Ermüdendes, doch nach der
Pause wird die Gewalt von Geslers Mannen
wirklich beklemmend, wenn die Schwei-
zer gezwungen werden, in fremden Kostü-
men fremde Tänze – im Original darge-
stellt von einer Tiroler Truppe – aufzufüh-
ren. Daraus entsteht die Revolution aus
Entrüstung, fieserweise auch eine Entrüs-
tung aus Angst vor Überfremdung. Da
wird Kratzer doch mehrdeutig. Chor und
Orchester der Oper Lyon rasen dazu in
abenteuerlicher Brillanz, dagegen kämp-
fen die Solisten hart an, so beeindruckend
Nicola Alaimo (Tell), John Osborn (Arnold),
Jane Archibald (Arnolds Geliebte Mathil-
de, eigentlich dem Habsburger Lager zuge-
hörig) und Enkelejda Shkoza (Tells Frau
Hedwige) aus sein mögen. Selbst die Liebe
zwischen Arnold und Mathilde, obwohl mu-
sikalisch betörend ausgebreitet, fällt hin-
ter der Macht der Masse zurück.
Kubricks Film schildert eine Horde irrer
Anarchisten, die nie systemisch werden
wollen. Hier agieren sie implizit konstituie-
rend. Am Ende, nach dem Sieg, nach einer
Schlacht mit den Instrumenten, setzt sich
Jeremy die schwarze Melone Geslers auf.
Die Barbarei trägt ihre Früchte weiter in
die nächste Generation, Kultiviertheit
wird Chimäre. egbert tholl

von peter laudenbach

N


eulich hätte im Dresdner Kulturpa-
last eine interessante Diskussion
stattfinden sollen. Eva-Maria Stan-
ge, die sächsische Staatsministerin für Kul-
tur und Wissenschaft, und der Intendant
des Staatsschauspiels Joachim Klement
wollten mit dem Geschäftsführer der säch-
sischen AfD-Landtagsfraktion, Bernd Lom-
mel, über Kunstfreiheit debattieren. Ange-
kündigt war die Veranstaltung im Rahmen
der Reihe „Streitbar“, die schon im vergan-
genen Jahr für Aufsehen sorgte. Damals
waren die Schriftsteller Durs Grünbein
und Uwe Tellkamp über angebliche „Mei-
nungskorridore“ und eine von Rechtsextre-
men betriebene gesellschaftliche Polarisie-
rung aneinander geraten.

An Anlässen, die sächsische AfD nach ih-
rem Verständnis von Kunstfreiheit zu fra-
gen, fehlt es nicht. Im Wahlkampf hängte
sie vor das Staatsschauspiel Plakate mit ei-
ner unverhüllten Drohung: „Kein Cent für
politisch motivierte Kunst“. Dem renom-
mierten Festspielhaus Dresden Hellerau
würde sie am liebsten die Subventionen
kürzen. Als die Kultureinrichtungen der
Stadt, darunter die Semperoper, die Staatli-

chen Kunstsammlungen und das Staats-
schauspiel, sich in ihrer „Dresdner Erklä-
rung der Vielen“ gegen Intoleranz und
Rechtspopulismus wandten, reagierte die
AfD auf ihre Weise. Sie verlangte vom Frei-
staat Sachsen Abmahnungen und Unterlas-
sungserklärungen. Es wäre interessant ge-
wesen, im Kulturpalast zu erfahren, wie
der AfD-Vertreter dieses aggressive Auftre-
ten mit Kunstfreiheit in Einklang bringt.
Zu dieser Debatte kam es nicht. Das Kul-
turhauptstadtbüro Dresden musste die
Veranstaltung absagen, weil „nach einer
ersten Zusage“ der AfD-Landtagsfraktion
von dieser „trotz mehrerer Kontaktversu-
che“ keine Rückmeldung mehr kam. Der
Rückzieher der AfD kann viele Gründe ha-
ben, Dialogverweigerung oder schlechte
Kommunikation. Vielleicht passen Frontal-
angriffe gegen Kultureinrichtungen auch
nicht mehr zur neuen Strategie, die in Tei-
len rechtsextreme Partei zu Wahlkampf-
zwecken als bürgerlich-konservativ zu ver-
kleiden. Auf Nachfrage der SZ war von der
Pressestelle der sächsischen AfD-Land-
tagsfraktion keine Auskunft zu erhalten.

Für Joachim Klement, seit gut zwei Jah-
ren Intendant des Staatsschauspiels Dres-
den, ist Dialogverweigerung keine Option.
In Dresden habe er „noch einmal auf neue
Weise zuhören gelernt“ sagt Klement. Weg-
ducken funktioniert in der Stadt, in der die

rechtsradikale Pegida das gesellschaftli-
che Klima vergiftet, ohnehin nicht. Die Aus-
einandersetzung mit der Neuen Rechten
ist für den Intendanten schlicht „Bestand-
teil der künstlerischen Arbeit des Theaters
und unseres Bildungsauftrags. Wir kom-
men aus der Tradition der Aufklärung, das
ist eine Verpflichtung“. Schließlich ist das

Ensemble des Theaters schon 1989 bei den
Montagsdemonstrationen für Bürgerrech-
te auf die Straße gegangen. Heute versteht
sich das Staatsschauspiel offensiv als Teil
der Zivilgesellschaft und engagiert sich
mit vielen anderen Kultureinrichtungen in
der Initiative „Weltoffenes Dresden“.
Die Polarisierung der Stadt durch die Pe-
gida-Aufmärsche hat sich in Klements
Wahrnehmung in den letzten Jahren beru-
higt. „Das war ein Lernprozess“, beobach-
tet der Intendant. „Man hat gelernt, mit
den Provokationen der Rechtsextremen
umzugehen und zu zeigen, dass die Vertei-
diger der Demokratie weit zahlreicher sind
als ihre Gegner.“
Natürlich findet die Auseinanderset-
zung auch auf der Bühne statt. Eine der ers-
ten Produktionen dieser Spielzeit, „Mit der
Faust in die Welt schlagen“ nach dem Ro-
man von Lukas Rietzschel, fragt nach den
gesellschaftlichen Voraussetzungen für
Verrohung und rechte Radikalisierung. Vol-
ker Lösch hat mit seiner Inszenierung „Das
blaue Wunder“ eine Machtergreifung der
Rechtsextremen durchgespielt. Nach jeder

Vorstellung finden gut besuchte Publi-
kumsgespräche statt. Genau der Dialog,
dem sich die AfD im Kulturpalast verwei-
gert hat, findet hier statt.
Gewalt ist auch der Kern der neuesten
Dresdner Premiere, Armin Petras’ Bilder-
buch-Brecht-Aufführung „Mutter Coura-
ge und ihre Kinder“. Auf einer frei im Raum
stehenden Schräge (Bühne: Olaf Altmann)
zeigt sie ein Schlachthaus. Schon zu Be-
ginn ist die Spielfläche mit Leichenbergen
bedeckt: Das ist der Grund, auf dem wir ste-
hen. Die Szenen aus dem Dreißigjährigen
Krieg dehnt Petras auf die Menschheitsge-
schichte aus. Die verrohten Soldaten könn-
ten in ihren zerrissenen Fellumhängen di-
rekt aus der Steinzeit kommen, später tra-
gen sie Wehrmachtsuniformen. Wenn sie
einander in Stücke hauen und die Leichen-
teile in einem großen Kochtopf zubereiten,
ist das eine etwas plumpe Illustration des
ökonomischen Kalküls der Marketenderin
Courage, die von der Versorgung der Solda-
ten lebt: „Der Krieg nährt den Krieg.“
Eine beeindruckenden Ursula Werner
in der Titelrolle zeigt die ewige Kriegsge-
winnlerin, die mit ihrem Planwagen dem
Regiment hinterherzieht, mit nüchterner
Härte und Klarheit. Trotz dieses Kraftzen-
trums ist die bilderverliebte, in den Figu-
renzeichnungen robust plakative Inszenie-
rung eher professionelle Staatstheater-
Brecht-Routine als ein Höhepunkt im
Schaffen des hier erstaunlich konventionel-
len Regisseurs.

Der Mann ist absolut angstfrei, ja mehr als
das: Der Kölner Bestsellerautor Frank
Schätzing, 62, der sich vor 15 Jahren eine
fast 900 Seiten umfassende, einerseits abs-
truse, andererseits aber gerade deshalb ge-
niale, nämlich das Tollkühne mitreißend
plausibel machende Irrwitzgeschichte na-
mens „Der Schwarm“ ausgedacht und da-
mit einen globalen Bestsellerlisten-Tsuna-
mi losgetreten hat, dieser Mann ist ein
Wunder der Selbsterkühnung. Ein Titan
der Was-soll-schon-passieren-Haltung.
Man muss ihn bewundern.
Da tut einer nicht, was er muss, soll,
kann oder darf – sondern was er will, was
er liebt. Liebe ist daher ein Mittel, um dem
Autor Schätzing auch als Musiker zu begeg-
nen. Andernfalls müsste man sagen, dass
Schätzings delirierend furchtloses Musik-
debüt, ein Album namens „Taxi Galaxi“,
auf grandiose Weise die bislang schlimms-
ten zwei Minuten der Weltmusikgeschich-
te um weitere 15 nervenaufreibende Songs
in eine andere Dimension katapultiert.
Angstfrei – wann war man das selbst zu-
letzt? Genau, als 14-jähriger Gitarrist der
einzigartigen BandUnkraut. Bei jenem le-
gendären Konzert in einem niederbayeri-
schen Kolpinghaus vor Jahrzehnten hatte
man sich ein zweiminütig ewiges Blues-So-
lo vorgenommen. Etwas Kühnes, Magi-
sches und Inspiriertes. Man hatte unbe-
dingt jenen unbeschreiblichen Mumm der
Fantastik, der einst maximal 14-Jährigen
vorbehalten war (bis Schätzing): sich näm-
lich mitten auf der Bühne des Lebens ein
Wunder zuzutrauen. Später traut man sich
so etwas nicht mehr. Das ist ein großer Feh-
ler. Man sollte sich immer alles zutrauen.
Mindestens Sternstunden. Jedenfalls: Die
sonstigen Mitglieder der Band waren vom
Brennnesseltee meistens high. Sie schrit-
ten nicht ein. Und Gott war tot oder taub.
Aber hey, was soll schon passieren? Der
gottlose Nietzsche sagt: „Ziele nach dem
Mond. Selbst wenn du ihn verfehlst, wirst
du zwischen den Sternen landen.“

Nach dem Konzert sagte einem die eige-
ne Mutter (!), das zweiminütige Solo gehö-
re nicht zu den Sternstunden, sondern zu
den grausamsten zwei Minuten der Musik-
geschichte. Womit man wieder bei der Pop-
scham und Schätzing landet. Seine Musik
ist auf eine faszinierende Weise so unterir-
disch, dass sie auch seltsam erhaben ist.
Da traut sicher einer was. Baut sich, wie
er einem mal in Köln in einem Gespräch er-
zählt hat, in dem es eher um das Musikma-
chenwollen als um das Bestsellerschreiben-
sollen gegangen ist, als gefühlt 14-Jähriger
mit dem Geld und dem Urvertrauen aus sei-
nen Erfolgen als deutscher Dan Brown ein
eigenes Tonstudio. Singt und gitarrisiert,
übernimmt Bass, Tasten und Kalimba. Tex-
tet, arrangiert und produziert. Und HUL-
DIGT, ja zerliebt, zersongt und zersägt sei-
ne wahre große Jugendliebe. Das ist/sind:
David Bowie und die Achtzigerjahre. Weil
Schätzing auch der deutsche David Bowie
ist. Und dann leider auch ein bisschen wie
Gazebo klingt, derMezzofortegut findet.

„Taxi Galaxi“ ist ein Vintage-Hearalike
liebender Sehnsucht und abenteuerlicher
Selbstermächtigung. Zwischen den Songs
„Modern Entertainment“ oder „Perfect Il-
lusion“ taucht immer wieder David Bowie
als musikalisches Leitgestirn auf. Mit sinfo-
nischer Allgewalt und jener höheren Kom-
plexität, die bei Bowie in den besten Fällen
einfach simpel erscheint (wie heißt es in
der vollendeten Metheny-Bowie-Fusion
von „This Is Not America“ so entwaffnend?
„sha la la la la“). Doch bei Schätzing ist das
Komplexe eben: komplex. Hier noch ein
Saxofonseufzer, da noch ein paar Synthie-
girlanden. Und zu alldem ein Schätzing als
Sänger, wie er versucht, aus dem Bowie auf
Trip einen Bowie am Rhein zu machen.

Was auch dem Umstand geschuldet sein
dürfte, dass Schätzing bei der Produktion
dieser galaktischen Vieldeutigkeit eines Al-
bums, das mit einem kosmisch umwolkten
Major Tom perfekt illustriert ist, hervorra-
gende Amtshilfe hatte: vom langjährigen
Bowie-Pianisten Mike Garson. Auch Tony
Levin war dabei, Bassist für Kind Crimson
und Peter Gabriel und jetzt eben Pate der
Taxifahrt durch die Galaxie des Retro-
Pops, die sich auf einem kolossal überinsze-
nierten Soundteppich ereignet, wo das Vi-
brato den Hall und der Hall das Echo jagt.
Es ist, als wollte Schätzing sagen: „Wollt ihr
mal hören, was mein Studio so alles drauf-
hat?“ Schätzings Album ist aber nicht nur
eine Variante der (doch: professionell ge-
machten) Sonntagspopkunst. Es ist eigent-
lichdieHymne des Amateurdaseins. Lieb-
haberei ist vor allem Liebe.
Frank Schätzing macht also das mögli-
cherweise schlechteste Popalbum der letz-
ten einhundert Jahre, nicht weil er’s kann,
sondern weil er’s liebt. Dabei lässt er eine
Artpop-Glamrock-Verirrung von einzigar-
tiger Entschlossenheit entstehen. Der Lite-
rat Schätzing ist auch auf fremdem Terrain
furchtlos. Es macht ihm nichts aus, in der
popkulturellen Galaxie der Denkbarkeiten
auf die Knie gezwungen zu werden. Auf die
Knie seines liebenden Herzens einerseits.
Auf jene der musikalischen Möglichkeiten
andererseits.
Das Album ist entsetzlich. Aber auch ei-
ne gewaltige, galaktische Liebeserklärung
an all das, was man sich mal alles so zuge-
traut hat. Es ist insofern hinreißend. Daran
glauben – das ist die Botschaft. Und wenn
nicht ein Apfelbäumchen, so doch „Taxi Ga-
laxi“ in die Welt setzen. Man muss sich
Frank Schätzing als mutigen und gläubi-
gen Mann vorstellen. Den Mond verfehlt er
sowieso, doch er landet immer in den Ster-
nen. Und jetzt, wo er endlich Popstar ist,
könnte er doch mal wieder was Überra-
schendes schreiben. Hey, was soll schon
passieren. gerhard matzig

Tinariwen waren die ersten im Afro-
pop, die ihre Gitarren elektrifizierten.
Die ersten auch, die vor knapp zwei
Jahrzehnten den Westen für den Tuareg-
Rock begeisterten. Nie aber schlurfte
der Sahara-Blues lässiger als auf „Amad-
jar“ (Wedge). Verzerrte Gitarren folgen
subtil verschnörkelten Schaukel-Rhyth-
men. Pentatonische Riffs perlen in auf-
reizender Trägheit aus den Verstärkern.
Dazu singen Baritonstimmen in eine
gefühlt endlose Weite hinein. „Verloren
in der Nacht hat mich mein Durst ge-
weckt/ meine Seele ist verwirrt, ich
glaube keinem mehr.. ./ ich bin der
Sohn von Gazellen geworden, die durch
die Wüste streifen“. So wie „Tenere
Maloulat“ dreht sich das ganze Album
um den politischen und persönlichen
Verrat, die dunkle Macht des Geldes –
und die Sehnsucht nach einer Rückkehr
in die vom Bürgerkrieg gebeutelte Hei-
mat Nord-Mali. Alles in der bildhaften
Poesie des Tamashek. Einige der Band-
mitglieder kämpften einst für einen
Tuareg-Staat. In den Neunzigern tausch-
ten sie ihre Kalaschnikows gegen E-Gi-
tarren. Der Rebellen-Mythos schmückt
sie noch immer, und verstärkt die Anzie-
hungskraft ihres Wüstenblues im Wes-
ten. Wie aber lässt sich die raue Magie
ihrer Live-Auftritte bei Hochzeiten und
Festen im Studio einfangen? Indem
man mit einem zum mobilen Aufnahme-
studio umgebauten Kleinbus durch die
West-Sahara tourt. Abends beim Lager-
feuer auf den Dünen wurde mitgeschnit-
ten. Im Studio in Mauretaniens Haupt-
stadt Nuakchott wurden die wunderbar
schneidenden Sirenen-Gesänge von
Mouria Mint Seymali gab’s den Fein-
schliff. Erst im Nachgang kamen auch
noch westliche Gäste dazu: etwa Gitar-
rist Micah Nelson, der Sohn von Willie
Nelson. Oder Nick Caves exzentrischer
Soundtüftler Warren Ellis, der wunder-
bare Country-Blues-Färbungen beisteu-
erte. Ellis spielte
Violine und setzte
gekonnt elektroni-
sche Effekte ein,
die mal wieder
zeigen, wie nah sich
Mississippi und
Niger sind.

Dass eine der besten Afrojazz-Bands
der Welt ausgerechnet aus Kopenhagen
kommt, kann in einer globalisierten
Welt vorkommen. Doch wenn The Kuti
Mangoes auf ihrem vorletzten Album
vor allem die Impressionen aus einem
Feldtrip nach Mali und Burkina Faso in
verarbeiteten, verschieben sie auf „Afro-
tropism“ den Akzent: Weniger Retro-
Highlife, mehr nordischer Jazz und
andere Experimente. So fordern bereits
die ersten Takte des Openers „Stretch
Towards The Sun“ mit sirrenden Synthe-
sizer-Riffs heraus. In seinen besten
Momenten erinnert der Song an eine
Afro-Version von Joe Zawinul und sei-
nemSyndicate. In den schlechteren
Momenten bleibt es einfach eine Ner-
venprobe. Immerhin riskieren die Dä-
nen einiges, wenn sie etwa auf „A Snake
Is Just A String“ den malischen Gitar-
ren-Blues eines Ali Farka Touré mit
synthetischen Sounds nachbilden, oder
wenn sie in „Call Of The BulBul Bird“
Afro-Rock, elektronische Percussion
und Samba zusammenbringen. Nach
den ersten Schreckminuten landen sie
dann allerdings doch in akustischem
Groove-Gelände. Und da funktioniert
dann sowohl die
Afrobeat-Message
von „Money Is The
Curse“ als auch der
von einem Ngoni-
Sample getriebene
Jam „Sand To Soul“
ganz hervorragend.

Vorbei die Zeit, als der Kongo noch ver-
lässlich für süßliche Rumba-Klänge
stand. Zwischen Paris und Kinshasa
brauen sich inzwischen dunkle Wolken
zusammen, treffen gebrochene Beats,
tiefe Bässe und ekstatische Chants auf-
einander, gelten Genres nichts mehr
und Energie alles. Das zumindest sugge-
riert „No Romance“ (Glitterbeat), die
erste EP vom Bantou Mentale und
Vorbote des Ende Oktober erscheinen-
den Debütalbums des Projekts. Dahin-
ter stecken drei kongolesische Vetera-
nen und Liam Farrell alias Doctor L. Der
irischstämmige, aber in Paris aufge-
wachsene Musiker und Produzent hat
schon einige afrofuturistische Projekte
angestoßen: etwa dieAmazones d‘ Afri-
queoder die aus Teilen vonStaff Benda
Bililihervorgegangene BandMbongwa-
na Star. Letztere schoss den kongolesi-
schen Pop in ein elektronisches Univer-
sum zwischen Ambient und frühem
Chicago House. Bantou Mentale aber
zielt noch weiter. Es kracht und funkt
und könnte so etwas sein wie ein düste-
rer afrikanischer „Blade Run-
ner“-Soundtrack. Aber: „Der Kongo ist
ein Land von großer spiritueller Sanft-
heit.“ Das sagt Drummer und Songwri-
ter Cubain Kabeya. Und tatsächlich
kann man Sanftheit spüren inmitten
des Lärms. Immer wenn das Hexen-Ge-
bräu droht, zu artifiziell zu werden,
werfen sich ein paar klingelnde Gitar-
ren-Riffs dazwischen, hieven ätherische
Chor-Gesänge die Songs in Sphären
irgendwo zwischen Traum und Alb-
traum. Anders gesagt: Es ist genau der
Punk, auf den man
angesichts der
rohen, überlebens-
wütigen Straßen-
kultur Kinshasas
immer gehofft hat.
jonathan
fischer

Sha la la la la


„Taxi Galaxi“: Das Popdebüt von Frank Schätzing ist ein Werk der Liebe


Joachim Klement,
geboren 1961 in Düs-
seldorf, sieht sich
der Tradition der
Aufklärung verpflich-
tet. Seit der Saison
2017/18 ist er Inten-
dant am Staatsschau-
spiel Dresden.
FOTO: SEBASTIAN HOPPE

Die Barbarei trägt ihre Früchte weiter: Rossinis „Tell“ in Lyon. FOTO: BERTRAND STOFLETH

Das Album ist die
ultimative Hommage an das
Dasein als Amateur

Der Einbruch


der Barbarei


Tobias Kratzer inszeniert Rossinis „Tell“ in Lyon


Selbst die Liebe fällt
hinter der
Macht der Masse zurück

Courage in Dresden


Intendant Joachim Klement positioniert das Staatsschauspiel gegen


die Neue Rechte. Dazu gehört auch Armin Petras’ Brecht-Inszenierung


Wegducken geht nicht in dieser
Stadt, in der Pegida aufmarschiert
und die AfD die Kunst attackiert

(^10) FEUILLETON Dienstag, 8. Oktober 2019, Nr. 232 DEFGH
Liebt die Popmusik so leidenschaftlich wie die Literatur: Frank Schätzing. FOTO: PAUL SCHMITZ / ZDF
AFROPOPKOLUMNE
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