Süddeutsche Zeitung - 08.10.2019

(Marcin) #1
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„Vielleicht war es eine Komödie,
vielleicht eine Tragödie“, mit die-
sem Eingangssatz wären all die
Geschichten, die von dem supersen-
siblen Detektiv Sherlock Holmes
erzählen und seinem Chronisten
Dr. Watson, gut auf den Punkt ge-
bracht. Mit diesem „Buch der Fälle“
ist Schluss mit dem Team, das Ar-
thur Conan Doyle vom Jahr 1887
an, in vier Romanen und 56 Kurzge-
schichten, vierzig Jahre begleitete,
bis „in diese fiebrigen Zeiten“. Das
Material wäre „ein ergiebiger Stein-
bruch für jene, die sich mit der
Kriminalität befassen, und eine
reiche Quelle für die Skandale der
viktorianischen Epoche“ – aber die

Diskretion der beiden Protagonis-
ten garantiert natürlich, dass der
Ruf von Promis nicht gefährdet ist.
Die Fälle selbst sind, auch in der
neuen Übersetzung von Henning
Ahrens, von gediegener Umständ-
lichkeit – die „Löwenmähne“, die
mehreren Menschen Folterqualen
zufügt, oder das weiße Gesicht
eines gequälten Soldaten, der in
Afrika kämpfte, oder dass der Biss
einer Frau, die ihrem Kind Blut
aussaugt, nicht notwendig vam-
pirisch motiviert ist.
Zwei der Fälle dieses Buchs werden
vom Meister selber erzählt, ein
dritter von einem anonymen Erzäh-
ler. Hier ist dann nicht zu überse-
hen – der genialische Alleswisser
Holmes ist im Grunde seines Her-
zen ein practical joker. Um einen
Diamantendieb zu düpieren, baut
er eine klapprige Theaterszene auf
mit einer lebensgroßen Puppe und
Offenbachs Barkarole. Noch im
Nachspiel zum Coup kann er das
Bluffen nicht lassen: „Kalt er-
wischt, Lord Cantlemere, kalt er-
wischt ... Mein alter Freund hier
wird ihnen bestätigen, dass ich
einen perfiden Hang zu prakti-
schen Scherzen habe. Ebenso, dass
ich keiner dramatischen Gelegen-
heit widerstehen kann.“
Dramatisch fährt auch der Chronik-
künstler Watson nach der Komödie-
Tragödie-Diagnose fort: „Einen
Mann kostete es den Verstand,
mich kostete es ein bisschen Blut
und einen dritten Mann kostete es
mehrere Jahre hinter Gittern. Die
Sache hatte trotzdem eine komi-
sche Seite. Aber sie werden ja selbst
sehen.“ fritz göttler

von burkhard müller

Z


wei Bücher, zwei Männer, ein Pro-
blem. Das Problem ist der Tod. Beide
Männer sind nicht mehr jung, in den
Sechzigern der eine, Mitte 40 der andere;
und beide werden, nachdem sie die ersten
Molesten nach Männerart abgetan hatten,
damit konfrontiert, dass ihnen eine lebens-
bedrohliche Krankheit ins Haus steht.
Jostein Gaarder und Martin Simons
haben bestimmt nichts voneinander ge-
wusst, als sie ihre Bücher schrieben. Und
doch gleicht sich die Situation, von der sie
ausgehen, auf fast gespenstische Weise:
Die Erzähler (sie sagen beide „Ich“) sind
glücklich verheiratet, haben je ein Kind,
scheinen gemütlich in ihrem Leben einge-
haust – und plötzlich gehorchen ihnen die
Muskeln der Hand nicht mehr.
Der Norweger Jostein Gaarder ver-
dankt seinen Ruhm einem Buch, das vor
einem Vierteljahrhundert erschien und ein
Weltbestseller wurde: „Sofies Welt“. Darin
hatte er es unternommen, als Briefschrei-
ber Alberto Knox einem 14-jährigen Mäd-
chen die Geheimnisse der Philosophie zu
erklären. Es wurde in 65 Sprachen über-
setzt und 40 Millionen mal verkauft. Jetzt
versucht er in „Genau richtig – Die kurze
Geschichte einer langen Nacht“, den gro-
ßen philosophischen Fragen die Dringlich-
keit der Todesnähe zu verschaffen. Es re-
sultiert daraus ein eigentümlicher Zwitter
aus Roman und Essay.

Albert (offenbar ein Nachfahr Albertos),
seines Zeichens Lehrer für Englisch und
Geschichte, hat die Diagnose ALS erhalten,
Amyotrophische Lateralsklerose. Sie ist
die wölfische Schwester der vergleichswei-
se milden MS. Wie diese setzt sie bei der
Schnittstelle von Nerven und Muskeln an
und führt zu lähmungsartigen Ausfallser-
scheinungen; der Tod tritt durch Atemstill-
stand ein. Zwischen ersten Symptomen
und Exitus liegen im Schnitt 18 Monate;
und es gibt bis heute nichts, was diese im
Galopp voranschreitende Krankheit stop-
pen oder auch nur verlangsamen könnte.
Damit muss Albert umgehen. Er zieht
sich allein auf die Hütte der Familie zu-
rück, irgendwo in den menschenleeren
Bergen Norwegens an einem See gelegen,
während seine Frau Eirin, Süßwasserbio-
login, an einem Kongress in Australien teil-
nimmt. Die Hütte war ihr Paradies gewe-
sen; sie waren in ihrer ersten Verliebtheit
als knapp Zwanzigjährige dort aufs Gerate-
wohl eingebrochen, hatten sich durch alle
verfügbaren Betten geliebt und Jahre spä-
ter das Anwesen käuflich erworben. Albert
setzt sich die Frist von 24 Stunden, um
einen Rechenschaftsbericht seines Lebens
zu verfassen – und dann?
Dann wäre es wohl das Beste, auf den
schon herbstkalten See hinauszurudern,
die Taschen des Mantels mit Äxten und
anderem schweren Eisengerät befüllt, und
sang- und klanglos über Bord zu gehen,
ohne die Angehörigen mit dem eigenen
elenden Ende zu belasten. Er träumt die-
sen Sprung in beklemmender Intensität,
der Leser muss es für Wirklichkeit halten –
da wacht er auf, ohne dass sich ansonsten
irgendwas geändert hätte.
Bis hierhin besitzt das Buch durchaus
novellistische Qualitäten: Es berichtet von
einem besonderen einzelnen Ereignis.
Aber nicht ein solches hat der Autor im
Sinn. Sondern er mutet es seinem Prota-
gonisten zu, sterbend die Wahrheit über
das Allgemeine zu ergründen. „Vielleicht
mache ich mir meine Gedanken stellver-
tretend für die gesamte Menschheit.“

Das muss man nun doch als einen ziem-
lich flauen Trick bezeichnen. Der Held
stirbt; sein Autor aber lebt fröhlich weiter
und borgt sich von ihm die Autorität des
Moribundus. „Ich werde nichts Geringeres
als in den eigentlichen Kern des Lebens-
mysteriums vordringen“ – wer würde es
wagen, den letzten Worten eines Sterben-
den zu widersprechen? „Was ist ein
Mensch? Das war die Frage“, drunter tut es
Albert nicht, und Gaarder entfaltet die
(nicht mehr ganz taufrische) These, alle
Umstände und Konstanten des Kosmos, al-
le physischen und chemischen Gesetze hät-
ten sich sozusagen verschworen, um den
Menschen hervorzubringen. So kann man
ihn als Krone der Schöpfung retten, ohne
einen Schöpfergott bemühen zu müssen.
Das ist, gelinde gesagt, Größenwahn,
wenn man den Maßstab des Weltalls in
Relation zum Lebensraum des Menschen
setzt. Es ist auch nicht besonders erleuch-
tet, denn hier findet offenbar eine Verkeh-
rung von Ursache und Wirkung statt. Eben-
so gut könnte die Pfütze darüber jubeln,
dass die Unebenheiten ihres Untergrunds
so beschaffen sind, dass sie, die Pfütze,
haargenau hineinpasst. So sinnreich ist die
Welt beschaffen! „Obwohl ‚sinnreich‘ viel-
leicht eine tendenziöse Wortwahl ist, denn
sie unterstellt beinahe, dass es hinter den
physikalischen Gesetzen eine ‚sinnvolle‘
Instanz gibt, einen intelligenten ,Designer‘
hinter allem.“ In einem Satz erscheinen

hier dreimal die Anführungszeichen des
uneigentlichen Ausdrucks, die zu erken-
nen geben, dass der Verfasser sich die
Anstrengung des rechten Begriffs erspart
hat: Das sollte man sich als Leser wirklich
nicht bieten lassen.
Nach diesem anmaßenden Stück Edel-
kitsch ist man vorab dankbar für ein Buch,
das nur den konkreten, nämlich den per-
sönlichen Fall verhandelt, ohne ihn als
Sprungbrett für Exkurse zum erhabenen
Sternenhimmel zu missbrauchen. Martin
Simons heißt der Autor, Martin der Ich-Er-
zähler; Martins Frau heißt Teresa, Teresa
ist das Buch gewidmet: die Differenz der
beiden Ebenen ist offenbar gering.
Martin, ein Schriftsteller, der zu kämp-
fen hat wie sein Erfinder, erleidet beim
Meditieren etwas, das sich später als lebens-
bedrohliche Hirnblutung erweist, obwohl
es vorerst nur den Bewegungsapparat der
Hand betrifft. Meditieren ist gefährlicher
als man denkt. Er wird in die Stroke Unit
des Krankenhauses eingeliefert, fühlt sich
dort frustriert von der übermüdeten Routi-
ne des Personals, gereizt von den Eigen-
heiten seiner Mitpatienten, die mit erheb-
licher Geruchsentwicklung rauchen und
scheißen, und begreift das heitere Interes-
se, das der Chefarzt an ihm, dem unerwar-
tet komplexen Fall, nimmt, als Aasgeierei
(wohl nicht ganz zu Unrecht).
Martin ist kein starker und eigentlich
auch kein sympathischer Charakter; das

unterscheidet ihn zu seinem Vorteil von
Albert, den wir nach dem Willen seines Au-
tors bewundern sollen. Simons hat ein Fo-
to von sich über den Klappentext gesetzt,
auf dem er aussieht wie Harald Schmidt in
seinen besten und ätzendsten Zeiten: So
will er sich der Welt präsentieren.

Martin ist zudem, was er ausdrücklich
thematisiert, ein schwacher Schriftsteller.
Das ist natürlich auch ein Trick; aber jeden-
falls einer, bei dem man, anders als bei
Gaarder, gespannt ist, was er draus macht.
„Worauf kam es mir wirklich an? Ich hatte
aus Liebe geheiratet, ein Wunschkind ge-
zeugt, aber mit dem Schreiben – ich hatte
es lange für das Wichtigste gehalten – war
ich aus Unernst, Feigheit oder mangelnder
Veranlagung nie zu jener tiefer gehenden
Kreativität gelangt, die als Einzige zählte.“
Indem er es zugibt, hat er es irgendwie hin-
ter sich gelassen. Den eigenen Unernst ein-
zuräumen, ist eine ernste Sache, von der ei-
genen Feigheit zu sprechen, erfordert Mut.
Die mangelnde Veranlagung – ein gro-
ßer Stilist wird aus Martin/Simons vermut-
lich nicht mehr werden. Aber das Mittelmä-
ßige seines Duktus passt zum Unpatheti-
schen dieses Auftritts: dem eines Men-

schen, dem in seinem Leben noch nichts
wirklich Schlimmes passiert ist, etwas Au-
ßergewöhnliches freilich auch nicht, der
auch seinen Lieben gegenüber zu einer ge-
wissen Kälte neigt und von dem bald klar
ist, dass er seinen Schlaganfall wohl mehr
oder weniger heil überstehen wird.
Ein paar Ausrutscher gibt es, etwa wenn
er Hölderlin oder Rilke zitiert oder davon
spricht, die Zeit im Krankenhaus erscheine
ihm wie ein Wandeln auf dunklem Pfad;
aber insgesamt schreibt Simons mit
bemerkenswerter Konsistenz. Man glaubt
diesem Erzähler seine Gefasstheit am
Rande des Todes, gerade weil er daraus
kein Drama macht, sondern dem Leser das
deutliche Gefühl vermittelt, letztlich habe
solche Gemütsruhe ihren Grund in einer
gewissen Fantasielosigkeit (denn für To-
desangst braucht man Fantasie). Nein, ein
großes Buch ist bei „Jetzt noch nicht, aber
irgendwann schon“ nicht herausgekom-
men; aber doch das ehrliche Buch einer
kleinen Seele, und damit bedeutend mehr
als bei dem prätentiösen Gaarder.

Jostein Gaarder: Genau richtig. Die kurze Geschich-
te einer langen Nacht. Aus dem Norwegischen von
Gabriele Haefs. Hanser Verlag, München 2019.
125 Seiten, 16 Euro.
Martin Simons: Jetzt noch nicht, aber irgendwann
schon. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2019, 186 Sei-
ten, 20 Euro.

Der Fritz-Reuter-Literaturpreis geht an
die Schriftstellerin Anke Ortlieb für ihr
plattdeutsches Kinderbuch „Mäh! Maa!
Möh! Versteihst?“ (Demmler Verlag), in
dem drei „pfiffige und mutige Schafe“
nach dem Verschwinden ihres Bauern je-
manden mit Platt-Kenntnissen suchen,
weil sie Hochdeutsch nicht verstehen. Die
mit 2000 Euro dotierte Auszeichnung wür-
digt Prosa und Lyrik in niederdeutscher
Sprache, sprachwissenschaftliche Arbei-
ten oder die Förderung des Niederdeut-
schen würdigt. Sie wird seit 1999 am 7. No-
vember, dem Geburtstag Fritz Reuters,
vom Literaturmuseum und der Stadt Sta-
venhagen verliehen. dpa

Der Schauspieler und Autor Joachim Mey-
erhoff erhält den Bayerischen Buchpreis


  1. Wie die Staatskanzlei am Montag in
    München mitteilte, wurde Meyerhoff der
    Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsi-
    denten Markus Söder (CSU) zuerkannt.
    Meyerhoff, der 1967 in die Familie eines
    Psychiaters hineingeboren wurde, war
    nach dem Besuch der Otto-Falckenberg-
    Schule in München als Schauspieler und
    Regisseur in Berlin, Hamburg und Wien er-
    folgreich war. Seit Saisonbeginn gehört er
    zum Ensemble der Berliner Schaubühne.
    Sein autobiografischer Romanzyklus „Alle
    Toten fliegen hoch“, der aus einer Bühnen-
    produktion entstand, umfasst vier Bände.
    Der Ehrenpreis des Ministerpräsiden-
    ten ging bisher unter anderen an Cornelia
    Funke, Ruth Klüger, Tomi Ungerer und
    Christoph Ransmayr. Die mit dem Bayeri-
    schen Buchpreis ausgezeichneten deutsch-
    sprachigen Neuerscheinungen in den Kate-
    gorien Sachbuch und Belletristik werden
    erst am Verleihungsabend, dem 7. Novem-
    ber, von der Jury live in der Allerheiligen-
    Hofkirche der Münchner Residenz aus je
    drei Nominierungen ausgewählt. Verge-
    ben werden die Auszeichnungen vom Bör-
    senverein des Deutschen Buchhandels mit
    Unterstützung der Bayerischen Staats-
    kanzlei. kna


Der Dichter Rainer Maria Rilke riet, „die
Fragen selbst liebzuhaben“, vielleicht lebe
man dann „allmählich eines fernen Tages
in die Antwort hinein“. In seinem Buch
„Warum hat das Unglück mehr Phantasie
als das Glück?“ stellt Sven Michaelsen, Au-
tor für dasSZ-Magazin, dem Leser 800 Fra-
gen des Typs „Kennen Sie jemanden, der
von Ihnen denkt, wie Sie über sich den-
ken?“ oder „Könnten Sie sich ertragen,
wenn Sie so wären, wie die anderen Sie se-
hen?“. Nicht lautstark und selbstgewiss vor-
getragene Antworten führen zu Wahrheit
und Erkenntnis, so die These des Autors,
sondern das kurvige Fragezeichen. Als Fra-
ge formuliert: Sind Antworten nur die kur-
zen Momente, in denen man sich von den
Fragen ausruhen darf? sz

Sven Michaelsen: Warum hat das Unglück mehr
Phantasie als das Glück? Das Leben in 800 Fragen.
Residenz Verlag, Salzburg und Wien 2019. 136 Sei-
ten, 16 Euro

Mensch, vom Ende her gesehen


Größenwahn und Selbsterkenntnis: Jostein Gaarder und Martin Simons bringen ihre Erzähler in


Todesnähe. Bezeichnend, wie unterschiedlich sie sich zur ihrer Endlichkeit verhalten


Victor – der Name ist Programm.
Der Frankfurter Investmentbanker
brettert in seinem elektrischen
Porsche „Shere Khan“ über die
Siegerstraße des Lebens; wenn er
nicht gerade im 32. Stockwerk ei-
nes Büroturms an wichtigen „Pit-
ches“ herumformuliert, mit denen
er beim nächsten Meeting Unter-
nehmenschefs oder Minister von
Mega-Deals überzeugen will; wenn
er nicht gerade sein jährliches Ein-
kommen von zehn Millionen Euro
in 2400 Euro teure Weinflaschen
investiert. Doch Alexander Schim-
melbusch belässt es in seiner ätzen-
den Satire „Hochdeutschland“
nicht nur bei der Beschreibung
eines abgehobenen Finanzmilieus.
Gepeinigt von dem Wissen um die
Ungerechtigkeit des Turbokapitalis-
mus entwickelt ausgerechnet jener
Victor Ideen für eine bessere Gesell-
schaft, in der Reiche nur noch bis
zu 25 Millionen Euro besitzen dür-
fen – und so krempelt der Banker
mit dem Politiker Ali Osman, einem
alten Studienfreund, mal eben die
Republik um. Berauschend und
beängstigend übertourig röhrt
dieser Roman, den man als deut-
sches Pendant zu Houellebecqs
„Unterwerfung“ lesen kann, maxi-
malbeschleunigt dahin – bis zum
finalen Knall. antje weber

Fanny, ein schlichtes Herz, wächst
auf einem abgelegenen Hof in den
Bergen so idyllisch auf, dass äußere
Unbill kaum Eingang findet in ihr
Denken und Empfinden. Das macht
sie, die sich nie über andere erhe-
ben wollte, zu etwas Besonderem.
Die Jungen trauen sich kaum, ihr in
die Augen zu blicken. Sie lebt in
einer engen Symbiose mit Bruder
und Eltern – der Bruder fällt im
Krieg und der Vater lebt die innige
Nähe zuletzt zu ihren Lasten aus:
Als sei sie schuld am Schicksal des
Bruders. Die Gefühle des Vaters, die
Stimmungen der Mutter übertra-
gen sich auf sie. Die Ehe mit dem
Dorflehrer, ein Roter, nachdem in
Österreich die Braunen geherrscht
hatten, hebt sie endlich doch über
die Dorfgemeinschaft. Bis er stirbt.
Da zieht sie sich zurück und wird
wieder still. Laura Freudenthaler
erzählt aus der Sicht Fannys, sogar
das fragende Enkelkind, das ihr
Leben rekonstruiert, wird zu einer
Figur in Fannys Innenwelt. So ist es
der Autorin gelungen, durch die
Intimität, die Untertöne und Beweg-
gründe Fannys, die ein scheinbar
ereignisarmes, in der Seele aber
schwer erschüttertes Leben meis-
tert, ein hinreißend dichtes Frauen-
porträt der Nachkriegszeit zu schaf-
fen. rudolf von bitter

Kaum einer der großen, deutsch-
sprachigen Intellektuellen des XX.
Jahrhunderts lässt sich so wenig
festschreiben wie Walter Benjamin.
Sein undogmatisches Denken um-
fasste neben Sprachphilosophie,
Ästhetik und Geschichtsphiloso-
phie auch Literarisches, Zeitungsar-
tikel und Übersetzungen. Aufgrund
dieser gedanklichen Beweglichkeit
wuchern die Dissertationen und
Deutungskämpfe der Benjamin-
Forschung, die Aktualität seines
Denkens ist ungebrochen. Jean-Mi-
chel Palmier breitet in seiner monu-
mentalen, 1434-seitigen Biografie
seine lebenslange Beschäftigung
mit und über Benjamin aus. Leben
und Werk durchdringen sich hier
gekonnt, statt einer weiteren spezia-
lisierten Deutung wird der viel-
schichtige Benjamin ungemein
ausgewogen greifbar. Da dies lan-
gen Leseatem erfordert und zuwei-
len allzu ausführlich gerät, bietet
sich ein unakademisch ungezwun-
genes Überblättern mitunter gera-
dezu an. Dies ließe sich im Übrigen
auch über Benjamins fragmenta-
risch gebliebenes „Passagenwerk“
sagen, das zwar einen wichtigen
Schlüssel zum Verständnis bildet,
doch an dieser Stelle fehlt: Palmier
starb mitten in der Arbeit.
volker bernhard

Mit boshafter Präzision analysiert
Eike Christian Hirsch die Ausgebur-
ten des „neuen Deutsch“ – in einer
erschöpfenden Litanei aufgespießt
die Fundstücke lässiger bis schludri-
ger Sprech- und Sprachgewohnhei-
ten, wie sie sich eingebürgert ha-
ben in den Echoräumen der Medien
und der Politik, in Redensarten
vieler Menschen. Der Autor, mehr-
fach mit „Deutschkritik“ instruktiv
hervorgetreten, kann sich auf seine
durchweg beklemmende Beobach-
tung notorischer Sprachverklem-
mungen verlassen. Beispielsweise,
wenn er den Aufstieg des Begriffs
„authentisch“ mit dem Niedergang
von „echt“ kurzschließt, also im
Dunstkreis der Politiker: „Die sind
nur authentisch, wenn sie ein wah-
res, richtiges Leben führen. Etwas
viel verlangt. Unverstellt, ehrlich
und natürlich reicht nicht mehr.“
Der frühere Rundfunkredakteur
kennt die „radikale Übertreibung“
in den Werbesprachen: „Auto über-
schlägt sich: Insassen im Glück“ –
hat er einmal gelesen: Klar ist ihm
der hier verwischte Unterschied
von „Glück gehabt“ und „mein
Glück gefunden“. Die Engländer
besäßen dafür ja zwei Wörter: luck
und happiness. Sie tun sich, wenigs-
tens darin, leichter als die Deut-
schen. wolfgang schreiber

Eine besondere Form von Wetterfüh-
ligkeit: Schlag Zwölf bläst ein „böser
Wind“ in Zwirnegg die „gefährlichs-
ten Ideen“ in die Köpfe der Bewoh-
ner. Haralds Mutter wirft ihren
neuneinhalbjährigen Sohn kurzer-
hand hinaus: „Lass dich hier erst wie-
der blicken, wenn du ein Held gewor-
den bist.“ In Sibylle Lewitscharoffs
Geschichte zwischen Märchen und
Nonsense-Literatur, 1999 erstmals
erschienen und von der Sprachartis-
tin selbst mit feinem Strich illus-
triert, muss Harald fortan hinter
dem Seegebiet „Große Gardine“
Abenteuer zu Lande, zu Wasser und
in der Luft bestehen. Verwandlung
in ein Stück Papier, Folter, Zwangs-
verheiratung mit einem Halbfrosch
inklusive. Es geht animalisch zu, die
Tiere sind klüger als der Mensch.
„Menschen besitzen bekanntlich ei-
nen sehr geringen Verstand“, piepst
die Maus Sidonie-Grisaline. Weiter
skandiert sie auch noch mit ihren Ge-
schwistern: „Es lebe das Gute, das
Schöne, das Wahre ...“ Fast genauso
hat Lewitscharoff später ihre Frank-
furter und Zürcher Poetikvorlesun-
gen betitelt, dort heißt es: „Was am
Lesen entzückt? Schöpfungsspiele
auf dem Papier zu verfolgen und
nach Winken zu suchen, wie es im
Grab und danach weitergehen könn-
te.“ florian welle

Jean-Michel Palmier :
Walter Benjamin.
Aus dem Französischen
von Horst Brühmann.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2019.
1434 Seiten, 34 Euro.

Eike Christian Hirsch :
Ist das Deutsch oder kann
das weg? Die schönsten
Einfälle des neuen
Deutsch. C. H. Beck,
München 2019.
156 Seiten, 12,95 Euro.

Alexander Schimmel-
busch : Hochdeutschland.
Roman. Rowohlt Verlag,
Hamburg 2019.
224 Seiten, 12 Euro.

Laura Freudenthaler:
Die Königin schweigt.
Roman.
btb, München 2019.
208 Seiten, 10 Euro.

Arthur Conan Doyle: Sherlock Holmes'
Buch der Fälle. Neu übersetzt von Henning
Ahrens. Fischer Taschenbuch Verlag, Frank-
furt/M. 2019. 318 Seiten, 12 Euro.

Sibylle Lewitscharoff :
Der höfliche Harald.
Illustriert von der
Autorin. Piper Verlag,
München 2019.
120 Seiten, 11 Euro.

Den eigenen Unernst einräumen
ist eine ernste Sache, von
Feigheit sprechen erfordert Mut

Fritz-Reuter-Preis


für Anke Ortlieb


Bayerischer Buchpreis


an Joachim Meyerhoff


Sven Michaelsen stellt


Fragen an das Leben


Dem Protagonisten wird
zugemutet, sterbend die Wahrheit
über das Allgemeine zu ergründen

Martin Simons’ (links) Hauptfigur erklärt sich selbst zu einem schwachen Schriftsteller. Jostein Gaarder ist Bestsellerautor. FOTOS: JAN FRIESE ; JENS KALAENE / PICTURE ALLIANCE

(^12) LITERATUR Dienstag, 8. Oktober 2019, Nr. 232 DEFGH
Ideen eines
Investmentbankers
Stille
Königin
Ein Mann fürs Dramatische –
das „Buch der Fälle“ des Sherlock Holmes
Opulente
Bruchstücke
Deutsch
kann allemal weg
Hinter der
Großen Gardine
NEUE TASCHENBÜCHER
VON SZ-AUTOREN

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