Süddeutsche Zeitung - 08.10.2019

(Marcin) #1
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Esistkurzvor halbzwölf, als dieAktivisten
von „Extinction Rebellion“ die Siegessäule
in Berlin vorübergehend einnehmen. Auf
der Aussichtsplattform des Denkmals ent-
rollen fünf Leute ein großes Transparent.
„Rebels for Life“ steht darauf geschrieben,
RebellenfürsLeben.Mehrals1200 Protes-
tierende zu ihren Füßen klatschen und ju-
beln.„Whatdowewant?“,rufendieAktivis-
ten von oben. Und von unten schallt es zu-
rück: „Climate Justice.“ Die weltweit übli-
chen Sprechchöre der Klimabewegung.
Keine drei Minuten später beenden
zwei Ordner die Aktion, die Aktivisten ge-
hen mit ihrem Transparent zurück in die
Menge.Ebensogewaltfreiwarenindenfrü-
henMorgenstundendieerstenStraßenblo-
ckaden der Demonstranten verlaufen. Ge-
genvierUhrnachtshattenHundertevonih-
nen auf Decken sitzend und eingehüllt in
wärmende Rettungsfolien den Verkehr am
Knotenpunkt Großer Stern lahmgelegt,
der mehrspurig um die Siegessäule führt.
„Blockieren statt krepieren“ hieß es auf ei-
nem Transparent. Und nach diesem Motto
soll es weitergehen in Berlin. Mehr als
1000 Aktivisten aus ganz Deutschland und
Europa haben unweit des Kanzleramts ein
„Klima-Camp“bezogen.Siewollenvondie-
sem Montag an eine Woche lang Aktionen
undVerkehrsblockadeninBerlindurchzie-
hen.SiefordernunteranderemvonderRe-
gierung, sofort den Klimanotstand auszu-

rufen. Am Montagnachmittag blockierten
Demonstranten dann auch den Potsdamer
Platz, indem sie Blumentöpfe, Sofas, Ti-
sche und Stühle auf die Kreuzung stellten.
Vor dem Ministerium für Landwirtschaft
versammelten sich Demonstranten und
forderten eine Agrarwende von der Politik.

An der Siegessäule lässt die Polizei die
Demonstranten an diesem Vormittag ge-
währen.BerlinsInnensenatorAndreasGei-
sel (SPD) hatte da bereits ein Vorgehen
„mit Augenmaß“ gegen die Aktivisten an-
gekündigt. Die formieren sich in Sitzkrei-
sen, bemalen Plakate und hören Musik,
manche machen ein Schläfchen. Es gibt
kleine Konzerte, einen Kreis mit Qui Gong
und einen Workshop, wie man sich richtig
zusammenkettet, um eine Straße zu blo-
ckieren. Ein acht Meter hoher Ballon steigt
in die Luft mit der Aufschrift: „Free the
Air“. Die Protestaktion wirkt wie ein gro-
ßes friedliches Straßenfest – nur dass hier
kaum Alkohol getrunken wird.
Aber wer sind die Menschen, die hier
protestieren? An „Extinction Rebellion“
(XR) kamzuletzt auch immerwieder Kritik
auf. Es gibt Mutmaßungen, dass die Bewe-

gung mit Wirtschaftsunternehmen, die
die Klimabewegung manipulieren wollen,
kooperiere oder gar von ihnen finanziert
werde. Zudemheißtes, dieBewegungneh-
meauchradikaleLinkeundRechtebeisich
auf, solange alle die gleichen Klimaziele
verfolgten.
Doch an der Siegessäule ist von solchen
Einflüssen nichts zu erkennen. Es sind we-
der Steinewerfer noch Vermummte zu se-
hen, auch nicht die gängigen Symbole von
Autonomen und Rechtsradikalen. Zu er-
kennen ist stattdessen auf Hunderten
Transparenten, Fahnen und dem rasierten
Hinterkopf einer Aktivistin das Label der
Bewegung: eine Sanduhr, die sagen soll,
„uns rennt die Zeit davon“. Im Vergleich zu
„Fridays for Future“ protestieren hier auf-
fällig viele Erwachsene und deutlich weni-
ger Schüler. Es sind Menschen aus allen
sozialen Schichten und Berufsgruppen.
Fragt man in einem der Sitzkreise nach,
melden sich eine Psychotherapeutin, eine
Köchin, eine Pädagogin, ein Ingenieur und
ein Grafikdesigner. Andere weisen sich als
Künstler, Studenten oder Rentner aus.
Sie alle verbindet, dass sie Zukunfts-
ängste in sich tragen und überzeugt davon
sind, dass die Politik nur noch durch zivi-
len Ungehorsam wie Straßenblockaden
zum Handeln gebracht werden kann. Der
Rentner Wolfgang Hengel, 72, der früher
bei den Grünen war, erzählt, dass er end-

lich wieder eine Bewegung gefunden habe,
die wegen der Missstände auf die Straße
zieht.Odereine54-jährigeÄrztinausNürn-
berg, die anonym bleiben will, spricht von
„innerer Arbeit“, die man gemeinsam leis-
ten müsse, um eine Veränderung zu errei-
chen. „Es geht um eine Vision, die wir zu-
sammen leben könnten.“ Gerade die älte-
ren Aktivisten verfolgt das Schuldgefühl,
dass ihre Generation für die Klimaproble-
me verantwortlich sei und die Zukunft der
nachfolgenden Generationen gerade zer-
störe. Junge Menschen wie die 16-jährige
Zoë wiederum schöpfen „Kraft und Hoff-
nung“ausdemZusammengehörigkeitsge-
fühl dieser Bewegung. Als die junge Frau
aus voller Kehle „Extinction“ in die Menge
ruft, brüllen darauf Hunderte Menschen
„Rebellion“ zurück.
Ein Bankkaufmann sagt später: „Die
meistenvonunswärenauch bereit,fürun-
sere Sache ins Gefängnis zu gehen.“ Es ist
das, was XR wohl am besten charakteri-
siert:dieBereitschaft, für seineSache auch
Gesetze zu brechen. Am frühen Nachmit-
tag tritt die Seenotretterin Carola Rackete
dannansMikrofon.AuchdieBundesregie-
rungmache sich mit ihrer Klimapolitik der
Beihilfe zum Mord schuldig, sagt sie. „Es
ist meine persönliche Verpflichtung, ge-
gen die zerstörende Politik zu rebellieren.“
Und die Menge jubelt.
benjamin emonts

von markus balser,
cerstin gammelin und
claudia henzler

W


ie bedrohlich die Lage ist? Bun-
deskanzlerin Angela Merkel
(CDU) bekommt am Montag im
badischen Sinsheim Anschauungsunter-
richtinSachenKlima.Inderneuen„Klima-
Arena“ dreht sich ein Globus, auf den die
Besucher die Folgen von Klimaszenarien
projizieren lassen können. Merkel sieht
ihnamMorgenbeimRundgangmitBaden-
Württembergs Ministerpräsident Win-
friedKretschmann(Grüne)intiefesRotge-
taucht. Die Animation zeigt, wie stark die
Temperaturen steigen, wenn die Emissio-
nen nicht zurückgehen.
Die Kanzlerin weiht an diesem Morgen
bei Heidelberg ein Klima-Erlebniszen-
trum ein, das ein privater Finanzier dort
aufgebaut hat. Der rote Globus wirkt nach.
Merkel und Kretschmann unterhalten sich
beim Gang zur nächsten Station angeregt
über Permafrost – ein Thema, das Klima-
schützer derzeit umtreibt. Dass der Boden
in der Arktis Jahrzehnte früher auftaut als
erwartet,werteteauchMerkelalsAlarmzei-
chen. Beim Festakt wird die Kanzlerin
nochdeutlicher:„GeradeindiesemJahrha-
ben wir von der Wissenschaft aufrüttelnde
Nachrichten bekommen. Dass der Klima-
wandel schneller stattzufinden scheint, als
wir das noch vor ein paar Jahren gedacht
hätten.“DieRegierung wolledasumstritte-
ne Klimaschutzgesetz nun so schnell wie
möglich auf den Weg bringen – voraus-
sichtlich noch diesen Mittwoch.
Kern des Gesetzes sind jährliche
ObergrenzenbeimAusstoßvonTreibhaus-
gasen für einzelne Bereiche wie Verkehr,
Industrie, Gebäude oder Landwirt-
schaft. Was Angela Merkel im nordbadi-
schen Sinsheim nicht sagt, ist der Um-
stand, dass ihr persönlicher Einsatz für
den Klimaschutz, freundlich ausgedrückt,
in den Reihen der Union nicht überall ge-
schätzt wird. Da ist etwa der Streit um den
Kontrollmechanismus für die Klimaziele.
Weil die Emissionsminderungen vor allem
unionsgeführte Ministerien treffen und
die Union sowieso alles verhindern will,
was nach Einschränkungen aussieht, ist
derWiderstandgegensektorgenaueEmis-
sionszieleund deren jährliche Abrechnung
noch immer enorm.

Und zwar so groß, dass man am Montag
bei der SPD noch nicht darauf setzen will,
dass das Bundeskabinett die Pläne auch
wirklich an diesem Mittwoch beschließen
kann. Das Klimaschutzgesetz werde „ver-
mutlich am kommenden Mittwoch, viel-
leichtaucherstinderKabinettssitzungda-
nach“ auf den Weg gebracht, sagt Jochen
Flasbarth, Staatssekretär bei Umweltmi-
nisterin Svenja Schulze (SPD). Klarheit, so
heißt es in Berlin, bringe erst ein Treffen
imKanzleramt,dasfürdenNachmittagan-
gesetzt war. In der sogenannten Runde der
Staatssekretäre aus den Ministerien sollte
entschieden werden, welche Vorhaben so-
weit abgestimmt sind, dass sie vom Bun-
deskabinett beschlossen werden können.
Damit wird klar: Auch nach monatelan-
gen Verhandlungen ist eine abschließende
Einigung noch immer nicht in Sicht. Um
pünktlich liefern zu können, hatten die
Beamten dabei sogar mal wieder das Wo-

chenende ausfallen lassen. Im Umweltmi-
nisteriumhattemandas180 Seitenumfas-
sende „Klimaschutzprogramm 2030“ so
gut wie fertiggestellt. Weitgehend fertig,
hießeszudem,seienauchdieVereinbarun-
genmitdengeplantenSteuererleichterun-
gen, etwa für Elektro-Dienstwagen. Strit-
tig aber blieb die Frage, wie scharf jetzt die
Emissionsziele und deren Überprüfung
für die Bereiche Verkehr, Landwirtschaft
und Gebäude gefasst werden sollten – we-
gen anhaltender Kritik aus der CSU.
Mitten hinein in das harte Ringen um
das Klimaschutzgesetz platzt am Montag
die Nachricht, die Koalition plane, das
Klimaschutzgesetz substanziell abzu-
schwächen. Im aktuellen Entwurf des
Klimaschutzgesetzes seien entsprechende
Passagen geändert worden. So fehle etwa
das CO 2 -Minderungsziel für 2040. Dass

Deutschland2050klimaneutralwirtschaf-
te,wolledieRegierungnichtmehrverspre-
chen, sondern nur noch als Ziel „verfol-
gen“. Außerdem solle es möglich sein, dass
Energie, Verkehr, Gebäude und Landwirt-
schaftuntereinanderihreCO 2 -Mengenver-
schieben könnten. Staatssekretär Jochen
FlasbarthweistdenVorwurf,diePlänewür-
den so aufgeweicht, umgehend als „unzu-
treffend“zurück.ManschaffedieStruktu-
ren, mit denen die Klimaziele vollständig
erreicht werden könnten.
Doch Umweltschützer sind von der Re-
gierungsarbeit in Sinsheim und Berlin
noch lange nicht überzeugt. „Das Pariser
Klimaabkommen ist so nicht erreichbar“,
kritisiert etwa der BUND-Vorsitzende
Hubert Weiger. „Bis das Gesetz greift, sol-
len noch zwei bis drei Jahre ins Land ge-
hen.“ Grünen-Chef Robert Habeck sagt,
Deutschland brauche ein Klimapaket mit
echtenMinderungenbis2025,„anstattKli-
maschutz ab 2026 zu versprechen“. Die
Deutsche Umwelthilfe bezeichnet das Re-
gelwerk gar als „zahnlosen Tiger“, da „jed-
wede Sanktionsmöglichkeit für diejenigen
Sektoren und Branchen fehlt, die ihre Zwi-
schenziele nicht erreichen“. Die sind zwar
tatsächlich in den vergangenen Monaten
entfallen.DasUmweltministeriumsetztje-
doch darauf, dass die drohenden Kosten
durch den dann nötigen Zukauf von Emis-
sionsrechten genug Druck innerhalb der
Regierung entfalten, um die Ziele dennoch
zu erreichen. Den leichtfertigen Umgang
mit Steuergeldern wolle sich schließlich
kein Minister vorhalten lassen.
Auch Umweltschützer sehen immerhin
einen Erfolg der Entwürfe. Zum ersten Mal
werde mit den Klimaplänen der Regierung
den einzelnen Sektoren überhaupt ein Kli-
maziel und eine Verantwortung für dessen
Erreichen übertragen, sagt etwa der Nach-
haltigkeitsforscher und Chef des Deut-
schen Naturschutzrings, Kai Niebert. Da
falle manche Aufweichung bei den Lang-
fristzielen weniger ins Gewicht.
Die Kanzlerin ahnt aber offenbar, dass
dieDiskussionenvorallemumdieKontrol-
len der Klimaziele bis zum Mittwoch wei-
tergehen. Sie erlebe im Augenblick eine
große Nervosität in der Diskussion, sagt
Merkel in Sinsheim bei ihrem Auftritt und
zieht damit wohl auch für die eigenen Rei-
hen eine rote Linie ein: Die Überwachung
werde im Klimaschutzgesetz verankert
sein. „Ansonsten werde ich nicht zulassen,
dass wir das verabschieden.“

(^2) THEMA DES TAGES Dienstag, 8. Oktober 2019, Nr. 232 DEFGH
Wenn sich Ärzte und Banker auf die Straße setzen
In Berlin blockieren Klimaaktivisten den Verkehr. Mit dabei sind Leute, die man nicht unbedingt erwartet hätte
Hand
am Schalter

Noch immer ringen Union und SPD hart
um das Herzstück des Klimaschutzgesetzes
Am Montagmorgen ging an der Berliner Siegessäule gar nichts mehr. Die Gruppe „Extinction Rebellion“ hatte zum Protest aufgerufen. FOTO: EMMANUELE CONTINI / IMAGO
Für viele Umweltschützer
ist das geplante Regelwerk
ein „zahnloser Tiger“
Offenkundig sind den
Christsozialen die
Emissionsziele zu ehrgeizig
An „Extinction Rebellion“
hatte es zuletzt
immer wieder Kritik gegeben

Streit über den KlimaschutzMonatelang hatten CDU, CSU und SPD verhandelt, bis Ende September das Klimapaket geschnürt war.
Vielen geht das Konzept der Bundesregierung nicht weit genug, trotzdem wollen Teile der Union die Pläne nun weiter abschwächen.
Und das ausgerechnet jetzt, da Aktivisten sich nicht mehr zufriedengeben mit Demonstrieren oder Schuleschwänzen
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