Süddeutsche Zeitung - 08.10.2019

(Marcin) #1
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SeinenLandsleutenwar AntónioCostaals
stets leutseliger Regierungschef bekannt,
derdankseinesCharmesauchinverfahre-
nen Situationen immer noch einen politi-
schen Kompromiss zustande brachte.
DochvoreinigenTagenlerntensieihnan-
ders kennen: fauchend und pöbelnd. Sei-
neLeibwächtermusstenCostazurückhal-
ten, als er bei einem harmlos begonnenen
Gespräch mit einem Rentner am Rande
einer Wahlkampfveranstaltung die Be-
herrschung verlor. Der Mann hatte ihm
vorgeworfen, fürdiegroßeBrandkatastro-
phe im Norden des Landes vor zwei
Jahren mitverantwortlich zu sein. Er habe
alsRegierungschefdieMittelfürdieInfra-
struktur im ländlichen Raum drastisch
zusammengestrichen, auch auf Kosten
der Feuerwehr. Costa explodierte: „Alles
Lüge!“EinFilmschnipselmitseinemWut-
ausbruch ging im Internet viral, die kon-
servativeOppositionfrohlockte:„Nunhat
er sein wahres Gesicht gezeigt!“ Doch auf
das Ergebnis der Parlamentswahlen am
Sonntag wirkte sich die Szene nicht aus:
Die von Costa geführten Sozialisten ge-
wannen sie mit großem Vorsprung, er
wird weiter im Amt bleiben.
Im politischen Lissabon weiß man seit
Langem, dass der stets frohgemut auftre-
tende Regierungschef hinter den Kulis-
sen eisenhart sein kann. Meist aber muss
er seine Härte nicht zeigen, er kommt mit
seiner Verbindlichkeit zumZiel.DieKom-
mentatorennennen ihndengroßenKom-
munikator, dem es fast immer gelingt,
mit seiner Jovialität sogar seine Gegner
zuumgarnen. Dahinterstecktauchpoliti-
sches Kalkül: Er weiß, dass die Oppositi-
on keine beständige Gegenfront aufbau-
enkann,wennersiepunktuellimmerwie-
der einbindet.

Costas Politikstil hat ihn zum erfolg-
reichsten Sozialdemokraten in der Euro-
päischen Union gemacht. Er hat es ge-
schafft, gleichzeitig vom Internationalen
Währungsfonds, der Portugal ein hartes
Sanierungsprogramm auferlegt hat, und
von dessen Gegnern in der europäischen
Linken gelobt zu werden. Seinen Lands-
leuten hat er immer wieder erzählt, dass
sein Kabinett die harte Sparpolitik hinter
sichgelassenhabe;inderTathaterBeam-
tengehälter, Renten und den Mindest-
lohn anheben lassen. Dafür aber wurde
kräftig bei den öffentlichen Investitionen
gespart, sodass in der Bilanz der Staats-

haushalt fast ausgeglichen ist. Intern hat
er keine Zweifel gelassen: Sein sozialisti-
scher Vorvorgänger an der Spitze der Re-
gierung, José Sócrates, habe mit überbor-
denden Staatsausgaben seinen Teil zur
schweren Wirtschaftskrise beigetragen,
die Portugal 2011 an den Rand des Staats-
bankrotts gebracht hatte. Dies dürfe sich
nicht wiederholen.
So hat er sich als Pragmatiker profiliert


  • und auch ideologisch von seinem Vater
    abgesetzt, dem bekannten kommunisti-
    schen Schriftsteller Orlando da Costa, der
    aus einer zum Katholizismus konvertier-
    ten indischen Brahmanen-Familie aus
    der damaligen portugiesischen Kolonie
    Goa stammt. Nach seinem Jurastudium
    hatte der Sohn zunächst seinen Wehr-
    dienst absolviert, um sich anschließend
    ganzderPolitikzu widmen.FürdieSozia-
    listenwurdeererstindenStadtratvonLis-
    sabon,danninsParlamentgewählt.Zusei-
    nen politischen Ziehvätern gehörte Antó-
    nio Guterres, der jetzige UN-Generalse-
    kretär, er berief Costa vor genau 20 Jah-
    ren in sein Kabinett und betraute ihn mit
    dem Justizressort. Landesweit populär
    als engagierter Kümmerer, der gleichzei-
    tig nie um einen guten Witz und eine
    schlagfertige Antwort verlegen ist, wurde
    Costa in seinem nächsten Amt als Ober-
    bürgermeister von Lissabon. Von dort ge-
    lang ihm vor vier Jahren der Sprung an
    die Regierungsspitze, obwohl seine Partei
    die Parlamentswahlen 2015 verloren hat-
    te. Doch konnte er die Kommunisten und
    Neomarxisten im Parlament, die traditio-
    nelldieSozialistenals„VerräterderArbei-
    terklasse“ ansahen, dazu bewegen, sein
    Minderheitskabinett zu stützen. Alles
    sprichtdafür,dassesbeidieserKonstella-
    tion bleibt. thomas urban


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von andrian kreye

W


ennmandieRegelndesStart-up-
Wesens kennt, das der Techni-
schen Universität München an-
sonsten sehr am Herzen liegt, dann ist der
Oktober 2019 ein denkbar ungünstiger
Zeitpunkt, um ein Institut für künstliche
Intelligenz und Ethik zu eröffnen, das die
FirmaFacebookfinanziert.DenndieStart-
up-Gesetze besagen, dass der Zeitpunkt
eines„launches“ fürdenErfolgnochwich-
tiger ist als Produkt, Personal und Marke-
ting. Und so liegt jetzt schon ein Schatten
über dem „Institute for Ethics in Artificial
Intelligence“ (IEAI) der TU.
Denn ausgerechnet in diesen Wochen
zerfleischtsichdieamerikanischeWissen-
schafts- und Technologieszene in einer
Debatte über die Finanzierung von For-
schung und Lehre. Auslöser war der Fall
des New Yorker Investors Jeffrey Epstein,
der hinter seiner Fassade als charmanter
und großzügiger Förderer der Wissen-
schaften ein Massenvergewaltiger, Mäd-
chenschänder und Menschenhändler
war.SeitseinemSuizidinUntersuchungs-
haft im August gibt es reihenweise An-
schuldigungen und Selbstbezichtigun-
gen, wer denn alles Geld von ihm genom-
men hatte. Doch jenseits des abgründigen
Einzelfalles stellen sich amerikanische
Wissenschaftler viele überfällige Fragen,
die sich in Deutschland bisher erübrigten,
weil Forschung hierzulande weitgehend
von Bund und Ländern finanziert wird:
Was für Geld kommt denn da herein? Und
was bezwecken die Geldgeber damit?
Der ehemalige Mathematiklehrer Jeff-
reyEpsteinerkauftesichmitseinenSpen-
den gesellschaftlichen Status. Aber was
wollen beispielsweise die amerikanischen
Streitkräfte mit ihren Spenden und Pro-
jektfinanzierungen? Die Industrie? Die
Geldgeber aus dem Nahen Osten und Asi-
en, die oft nicht nur Projekte finanzieren,
sondern gleich ganze Universitätsfilialen

aufbauen, mit denen die Mutterinstitute
in den USA viel Geld verdienen?
Nun hat an der TU München am Mon-
tag das IEAI eröffnet. Die Anschubfinan-
zierung von 7,5 Millionen Dollar hatte die
Facebook-ChefinSherylSandbergimver-
gangenen Januar auf großer Bühne bei
der Münchner Digitalkonferenz DLD ver-
kündet.DasKonzeptdesIEAIisthochmo-
dern – die interdisziplinäre Erforschung
all der Fragen rund um künstliche Intelli-
genz,dieTechnik-undNaturwissenschaf-
ten nicht beantworten können. Weil Ethik
eben nicht messbar ist.

Bei Facebook weiß man allerdings, auf
wen man sich einlässt. Auf den Musterfall
der ethischen Probleme mit künstlicher
Intelligenz. Die Algorithmen der sozialen
Netzwerke Facebook, Whatsapp und
Instagramwarenmitschuld,dassderpoli-
tischeDiskursweltweiterodierte,Populis-
ten wie Trump und Bolsonaro an die
Macht kamen, dass Lynchmobs unter an-
dereminMexikoundIndienMordebegin-
gen und dass die Rohingya in Myanmar
vertrieben und massakriert wurden.
Facebook will bis heute kaum Verant-
wortung übernehmen. Mark Zuckerbergs
Anhörung vor dem US-Parlament im ver-
gangenenJahrwareineFarce.Undvorwe-
nigen Tagen stellte er seine Verachtung
für demokratische Prozesse erneut unter
Beweis, als er seine Mitarbeiter zum
KampfgegendieAnwärterinauf diePräsi-
dentschaftskandidatur der Demokraten,
ElizabethWarren,mobilisierte.Facebook-
GeldfüreinKI-Ethik-Institutwirktdeswe-
gen,alswürdedieTabakindustrieeinLun-
gensanatorium finanzieren. Ein paar ein-
zelne Fälle werden sicherlich geheilt wer-
den. Das Grundproblem wird bleiben.

D


ie einzig wirksamen Anreize, da-
mit Klimaziele eingehalten wer-
den,sindansonstendrohendeVer-
tragsstrafen.DasweißauchdieBundesre-
gierung. Die Europäische Union hat sich
verbindliche Klimaziele gegeben. Länder,
die sie permanent verfehlen, müssten da-
für zur Kasse gebeten werden. Es würde
teuer für Deutschland, keine Frage. So
weit die Theorie.
Nun weißaberjeder Bürger,dasses mit
der EU und den Strafen so eine Sache ist.
MandrohtunwilligenMitgliedstaatenda-
mit, wenn nichts mehr hilft. Aber, und das
ist die Praxis, verhängt hat man sie noch
nie.Bestes Beispielsind diejährlichenDe-
fizitverfahren gegen Länder, die sich wie-

derholt nicht an die Regeln des Stabili-
täts- und Wachstumspaktes halten. Den
Regeln zufolge müssten diese Staaten ir-
gendwann Strafen zahlen. Tatsächlich
aber sind diese Strafen nie verhängt wor-
den. Klar, wie soll man auch einem Land,
das ohnehin knapp bei Kasse ist, noch
mehrGeldabknöpfen?Undaußerdemwä-
re es schlecht fürs Miteinander in Europa.
Was bedeutet das für die Klimaschutz-
ziele? Der Erfahrung nach wird es nie da-
zu kommen, dass Brüssel jene Länder be-
straft, die ihre Emissionsbudgets nicht
einhalten.DamitaberstehtdasAnreizsys-
tem der Bundesregierung zur Reduktion
der Treibhausgase von Anfang an auf
tönernen Füßen. cerstin gammelin

I


n Kosovo haben die Menschen mit ih-
rem Wahlzettel gleich einen doppel-
ten Denkzettel verteilt. Der erste ging
bei der Parlamentswahl am Sonntag an
die bisher dominierenden Politiker mit
KampferfahrungausderaltenBefreiungs-
armee UÇK, die zugunsten jüngerer und
frischerer Oppositionskräfte abgewählt
wurden.Derzweiteging andieinternatio-
naleGemeinschaft, die aus Gründen einer
vermeintlichen Stabilität bislang stets auf
diese zwielichtigen Kräfte aus Kriegsta-
gen gesetzt hatte.
Diese Wahl könnte nun, eine erfolgrei-
che Regierungsbildung der Wahlsieger
vorausgesetzt,eineZäsurbedeutenfürKo-
sovo.Zuvörderst ginges denWählerndar-

um, die Korruption zu beenden, durch die
der junge Staat zu einem Selbstbedie-
nungsladenderherrschendenCliquenge-
macht wurde. Solche Strukturen haben
auch jeden wirtschaftlichen Aufschwung
bereits im Keim erstickt. Doch Hoffnung
auf eine bessere Zukunft kann in Kosovo
erstgedeihen,wennderGrundkonfliktge-
löst, also ein Ausgleich mit Serbien gefun-
den wird.
HiersindnundieVertreterderEUgefor-
dert, am besten im Verbund mit den USA.
Sie müssen Serben und Kosovo-Albaner
zu einem Abkommen bewegen, und dazu
braucht es vor allem einen starken Anreiz:
die klare Perspektive einer EU-Mitglied-
schaft. peter münch

U


S-Präsident Donald Trump hat
den Abzug diesmal nicht per Twit-
ter verkündet, das Weiße Haus gab
einedürreErklärungheraus.DochdieFol-
gen werden ungleich verheerender sein –
für die Kurden in Syrien, für die Stabilität
in der Region, für Europa. Trump hat dem
türkischen Präsidenten Recep Tayyip Er-
doğan de facto einen Freibrief dafürgege-
ben, in Nordsyrien einzumarschieren und
einen Streifen von 30 Kilometern Tiefe
entlang der Grenze zu okkupieren.
Bevor dort syrische Flüchtlinge aus der
Türkei angesiedelt werden, wie Erdoğan
vorgibt,werdenersteinmalTausendeZivi-
listen getötet und verletzt werden und
Hunderttausende fliehen. Direkter Profi-

teur ist die Terrormiliz Islamischer Staat,
die in Syrien wie im Irak neue Keimzellen
hat. Gestärkt werden dadurch letztlich
das syrische Regime, Iran und Russland –
nicht gerade Amerikas engste Verbünde-
te. Dem US-Präsidenten ist das, wie er auf
Twitter demonstriert, egal.
Blanke Heuchelei ist es, wenn das Wei-
ße Haus die Zustimmung zu der (völker-
rechtlichkaumzurechtfertigenden)Inva-
sion durch die Türkei damit begründet,
Europahabesichgeweigert,inhaftierteIS-
Kämpferzurückzunehmen,unddieVerei-
nigten Staaten seien nicht bereit, dafür
Steuergeld auszugeben. Es sind die Kur-
den,dieTrumpjetztfallenlässt,diesiege-
fangen halten. paul-anton krüger

E


s ist gar nicht so einfach, in
Deutschland Ungehorsam zu
zeigen, wenn die Polizei nett ist
und auch noch Herbstferien
sind in Berlin. Bis Montag-
abend blieb es friedlich und bunt, als die
FrauenundMännervonExtinctionRebel-
lion frühmorgens die Straßen rund um
die Siegessäule besetzten, um gegen die
Erderhitzung zu protestieren. Die Staus
hielten sich in Grenzen, die Rebellen ge-
gen das Aussterben lobten die eigene Dis-
ziplin und die Zusammenarbeit mit den
Behörden. Als kürzlich einige Aktivisten
in Hamburg zum Beweis des Ernstes der
LageKunstblutausschütteten,sollenPoli-
zisten ihnen erklärt haben, dass man sol-
cheAktionenproblemlosanmeldenkönn-
te.DieRebellenhättenkleinlautgeantwor-
tet, dann sei es ja kein Ungehorsam mehr.

Spott beiseite: Zum Glück vereint die-
ser Protest gegen die menschengemachte
Ausrottung der Arten Zorn und Radikali-
tät in der Sache sowie Freundlichkeit in
der Form, verbindet Jugendliche mit
Großeltern, Protest-Profis mit Leuten, die
sich erstmals einfach auf eine Straße set-
zen. Zum Glück kommt er anders daher
als die dumpfe und mörderische Wut von
rechts, die dem Andersdenkenden die
Menschenwürde abspricht. Und zum
GlückknüppeltkeineStaatsgewaltdenbe-
grenzten Regelbruch nieder, wie es vor ei-
ner Generation noch die Regel war und
auch danach geschah. Bleibt das die ganze
Wocheso,wäredaseinZeichen demokrati-
scher Reife auf beiden Seiten, auch wenn
mancher Rebell enttäuscht sein dürfte,
dass er nicht im Gefängnis gelandet ist.
Trotzdes freundlichenGesichtsderBe-
wegung bleiben ihre Formen und Forde-
rungen hinterfragbar. Ziviler Ungehor-
samnötigtgrundsätzlichandereneinThe-
ma auf, das den Protestierern so wichtig
ist,dasssieStraßen, Kasernentore,Eisen-
bahnschienen blockieren. Extinction Re-
bellion tut das, weil aus Sicht der Bewe-
gung die Menschheit akut in ihrer Exis-
tenz bedroht ist. Sie will so lange stören,
bis der Klimanotstand ausgerufen ist. Ob
sie dann aber auf den von ihr vorgeschla-
genen„Bürgerversammlungen“dieDeut-
schen tatsächlich dazu bringen würde, so
zu leben, dass die Treibhaus-Emissionen
bis 2025 auf Netto-Null sinken, kann man
getrost bezweifeln. Und dann? Nimmt
mandieForderungenernst,drohtdiefröh-
lich bunte Öko-Diktatur.
Es muss aber auch nicht jede Bewe-
gung eine widerspruchsfreie Komplettlö-

sung für das Problem anbieten, dessen
Dramatik sie sichtbar machen möchte.
Auch Heinrich Böll, derSchriftsteller,hat-
tesienichtparat,als ersich1983mitande-
renProminentenvordasTordes„Mutlan-
gen Army Airfield“ setzte, aus Protest ge-
gen die Nato-Nachrüstung; Böll altersbe-
dingt auf einem Klappstuhl. Keine der
Frauen, keiner der Männer musste als
BundeskanzlerinoderMinisterdieForde-
rung nach der Auflösung von Nato und
Bundeswehr umsetzen. Doch gerade ihre
Radikalität und ihre symbolische Unbe-
dingtheit, die Bereitschaft, eine Strafe auf
sich zu nehmen, veränderten die politi-
sche Kultur. Was tust du gegen den Atom-
tod?DaswurdeauchzurFragefürjenePo-
litiker, die eine andere Antwort hatten als
die Blockierer vor dem Kasernentor.
AusdieserKraftdesZeichenslebtderzi-
vileUngehorsam.Erist,wieJürgenHaber-
mas 1983 schrieb, „ein moralisch begrün-
deter Protest, dem nicht nur private Glau-
bensüberzeugungen oder Eigeninteres-
senzugrundeliegendürfen“.EristdieVer-
letzung einer Rechtsnorm, um den Ge-
rechtigkeitssinn und das Gewissen mög-
lichstaller aufzurütteln.2011 hatdasBun-
desverfassungsgericht festgestellt, dass
gewaltfreieBlockadenTeil derpolitischen
Willensbildung und deshalb nicht straf-
barseinkönnen.DieEntscheidunghältei-
nen Lernprozess fest: Der zivile Ungehor-
sam der Anti-Atomkraft- und der Frie-
densbewegung, der Protestierer in Wa-
ckersdorf hat, in seiner gewaltlosen Form,
dieDemokratie undden Rechtsstaatnicht
ausgehöhlt, sondern gestärkt. Der Geist
von Mahatma Gandhi und Martin Luther
Kingist einzutiefstdemokratischerGeist.
Der demokratische Staat braucht den
symbolischenUngehorsamradikalerMin-
derheiten, sonst erstarrt er und entwi-
ckelt blinde Flecken. Er braucht den Zorn
der Rebellen wider die Selbstausrottung,
samtApokalypse-Pathosundunausgego-
renen Forderungen – damit auch die, die
weniger radikal denken, merken: Die Er-
derhitzung ist ein Menschenexperiment
mit ungewissem Ausgang, das wir viel-
leicht so nicht weiterlaufen lassen sollten.
DerUngehorsamderExtinctionRebelli-
on bleibt eine Gratwanderung. Es droht
der Absturz ins Banale, in den Aktionis-
musund dieBeschwörung des Weltunter-
gangs gleich übermorgen, bis es keiner
mehr hören kann. Und es droht der Ab-
sturzindieGewalt,wennüberraschender-
weise die Bundeskanzlerin dann doch
nicht auf alle Forderungen der Rebellen
eingeht – so, wie es mit einem Teil der An-
ti-Globalisierungs-Bewegung geschah.
Zum Glück aber gibt es Menschen, die
diese Gratwanderung wagen. Und denen,
die an den Kompromissen feilen, sagen:
Leute, das reicht noch nicht.

Die Atmosphäre der Erde
besteht zu etwa 21 Prozent
aus Sauerstoff, der unent-
behrlich ist für die meisten
Lebensvorgänge auf diesem
Planeten. Sauerstoff istdieSubstanz, von
der ein Mensch am meisten braucht und
ohne die man am kürzesten überlebt.
Pflanzen und Bakterien produzieren das
Lebenselixier. In der Luft ist das Element
meist gasförmig im molekularen Doppel
aus zwei Sauerstoffatomen (O 2 ) unter-
wegs. Im Organismus gehen die beiden
Molekülhälften gerne Verbindungen mit
anderen Substanzen ein. Tiere brauchen
zum Beispiel Sauerstoff, um die in Nah-
rung gespeicherte Energie dem Körper
zugänglich zu machen. Zugleich kann ein
Zuviel davon auch gefährlich werden für
Zellen, weil ungebundener Sauerstoff
äußerst aggressiv reagiert und dann Mo-
leküle im empfindlichen Zellapparat an-
greift. Weil die drei Zellforscher William
Kaelin,GreggSemenzaundSirPeterRat-
cliffe dieses komplizierte Verhältnis zwi-
schenchemischemElementundmensch-
lichemKörpernähererforschthabenund
dabei zentrale molekulare Mechanismen
aufgespürthaben,hatihnendasNobelko-
miteeamMontagdendiesjährigenNobel-
preis für Medizin zuerkannt. Ihre Entde-
ckungenhelfenheute,PatientenmitSau-
erstoffarmut zu behandeln, sie kommen
aber auch Menschen mit anderen Leiden
und Krebserkrankungen zugute. hach

von moritz baumstieger

M


eist dauert es nicht lange, bis
das Wort „Bürgerkrieg“ fällt,
wenn über den Irak gesprochen
wird. Die Erinnerung an die Jahre nach
der Invasion 2003 ist noch frisch, als die
USA Saddam Hussein gestürzt hatten:
Schiiten übernahmen die Macht von den
bis dahin dominanten Sunniten, von de-
nen sich einige mit Morden und Anschlä-
genrächten.EinTeilvonSaddamsScher-
gen lief zu den sogenannten Gotteskrie-
gernüber,derenIdeologiemitdemKnow-
how des Unterdrückungsapparats eine
tödliche Kombination bildete – was sich
zuletzt beim Aufstieg des IS zeigte, der
den Irak fast kollabieren ließ.
Nach einer Woche von Massenprotes-
ten, bei denen mehr als hundert Men-
schen getötet und mehr als 6000 verletzt
wurden, warnen wieder manche vor ei-
nem Bürgerkrieg. Doch das Erklärungs-
muster des Iraks als religiöses Pulverfass
passt diesmal nicht: Junge Schiiten de-
monstrieren in Bagdad und anderen
Städten gegen eine schiitisch dominierte
Regierung. In den sunnitisch und kur-
disch geprägten Gebieten ist es ruhiger,
hier haben viele Angst, als IS-Anhänger
oder Separatisten abgestempelt zu wer-
den, wenn sie auf die Straße gehen. Doch
nach allem, was man trotz gekappter
Internetleitungen aus diesen Regionen
hört,drückendortvieledenDemonstran-
ten die Daumen.
Sie alle eint der Ärger über ihren Staat,
der auf vielen Ebenen dysfunktional ist:
Die Regierung, die täglich Öl im Wert von
300 Millionen Dollar fördert, ist nicht in
der Lage, allen Bürgern fließendes Was-
ser und Strom zu bieten. Ihr Land, das zu
den reichsten der Region zählen könnte,
hat jetzt schon eine Jugendarbeitslosig-
keitvon20Prozent–undmusswegensei-
nes Bevölkerungswachstums jedes Jahr
700000 Jobsuchende mehr versorgen.

Dass an ihrer schlechten persönlichen
Situation die jeweils andere Glaubens-
gruppe, die andere Ethnie schuld sein
soll, lassen sich die Demonstranten nicht
längererzählen.Jetzt,woderKrieggegen
den IS geschlagen ist, stünde einem Auf-
schwung nichts im Weg. Doch er bleibt
aus,weil das System bisins Markkorrupt
ist. Transparency International führt den
Irak auf Platz 168 von 180.
DiePolitikerinBagdadhabenkonfessi-
onelle Konflikte undden Krieg gegen den
Terror allzu lange als Ausrede benutzt,
um ihre Unfähigkeit oder ihren Unwillen
zu Reformen zu kaschieren. Das zeigen
nicht nur die Ursachen der aktuellen
Proteste, sondern derUmgangmit ihnen:
DieeigentlichdemokratischgewählteRe-
gierung hat keine Idee, wie sie ihren Bür-
gern begegnen könnte, verhängt Aus-
gangssperren, lässt Fernsehsender stür-
men und knipst das Internet aus. Das
kennt man sonst nur aus Diktaturen.

Der Sicherheitsapparat, der im Kampf
gegen Terroristen große Fortschritte ge-
macht hat, erweist sich im Umgang mit
Unbewaffneten als unfähig – schießt im
besten Fall mit Tränengas auf Demons-
tranten, im schlechtesten mit scharfer
Munition. Und anscheinend ist er der
Kontrolle der Regierung entglitten: Wäh-
rend sich am Wochenende der Premier
umDialogbemühte,starbenwenigeStra-
ßen weiter immer noch Demonstranten.
Zugleich wechselten die ersten Soldaten
dieSeiten,liefensamtWaffenzudenPro-
testierenden über. Eine solche Situation
muss nicht in einem Bürgerkrieg enden,
kann jedoch leicht eskalieren. Vor allem,
wennderPolitik alteDenkmusterwichti-
ger sind als die Probleme ihrer Bürger.

(^4) MEINUNG Dienstag, 8. Oktober 2019, Nr. 232 DEFGH
FOTO: ARMANDO FRANCA/AP/DPA
WISSENSCHAFT


Falsche Gönner


KLIMASCHUTZ

Auf tönernen Füßen


KOSOVO

Die EU ist gefragt


SYRIEN

Blanke Heuchelei


sz-zeichnung: sinisa pismestrovic

KLIMAPROTEST


Fruchtbarer Zorn


von matthias drobinski


AKTUELLES LEXIKON


Sauerstoff


PROFIL


António


Costa


Sozialist und
portugiesischer
Regierungschef

Mit dem Anti-Terror-Krieg
kaschierte die Regierung zu
lange ihre eigene Unfähigkeit

IRAK

Gefangen im alten Denken


Bei Facebook weiß man,
auf wen man sich einlässt – den
Musterfall ethischer Probleme

Die Demokratie braucht immer
wieder den symbolischen
Ungehorsam der Bürger

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