Süddeutsche Zeitung - 08.10.2019

(Marcin) #1
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Extinction Rebellion (XR) legt diese Woche
in London, Berlin und anderen Großstäd-
ten „mit massenhaftem, zivilem Ungehor-
sam“ den Verkehr lahm. Die ursprünglich
aus Großbritannien stammende Protest-
bewegung für eine effektive und gerechte
Klimapolitik ist überzeugt, dass „reguläre
politische Mittel wie Demos oder Wahlen“
nicht mehr ausreichen, um die Klimakatas-
trophe zu verhindern. Aber was ist erlaubt?
Ein Gespräch mit dem britischen Philoso-
phen und Aktivisten Rupert Read.

Wie sollte ziviler Widerstand heute ausse-
hen?
Rupert Read : Genau das zeigen wir diese
Woche, in London, in Berlin und vielen an-
deren Städten. Das ist die Art, wie man ge-
winnen kann. Wir orientieren uns an Grup-
pen wie Otpro in Serbien, People Power auf
den Philippinen, Martin Luther King und
Gandhis Unabhängigkeitsbewegung.

EsgabdenVorwurf,dassExtinctionRebel-
lion (XR) Trittbrettfahrer der Fridays for
Future-Bewegung sind.
XR und Fridays for Future sind Alliierte. Je-
den Freitag steht die Generation unserer
Kinder auf der Straße mit der elementaren
Bitte darum, dass man ihnen nicht ihre Le-
bensgrundlagen entzieht. Es ist eine Schan-
de für unsere Zivilisation, dass die Kinder
überhaupt dazu gezwungen sind, das zu
tun. Ich sehe Extinction Rebellion als Bewe-
gung, die auf diesen Hilferuf reagiert.

Wiegroß ist in IhrenAugen die Gefahr der
Radikalisierung innerhalb der beiden
Gruppen?
Wir versuchen breiten öffentlichen Druck
aufzubauen, so dass die politischen Partei-
en sich gezwungen sehen zu reagieren.
Wenn nach unseren Protesten immer noch
kein Wandel einsetzt, fürchte ich, dass eini-
ge Teilnehmer zu drastischeren Maßnah-
men greifen werden, wie etwa Hunger-
streiks. Ich fände das furchtbar, also lasst
uns jetzt handeln.

Ihrer Bewegung wurden antidemokrati-
sche Tendenzen vorgeworfen.
Das ist einfach Blödsinn. XR steht für die
Stärkung der Demokratie. Wir haben drei
zentrale Forderungen an unsere Regierun-
gen: Sagt die Wahrheit über das Ausmaß
der ökologischen Krise! Handelt endlich
dementsprechend! Und drittens: Lebt eine
neue Form von Politik, indem Bürgerver-
sammlungen einberufen werden. Wir
möchten, dass die Bürger mit einbezogen
werden in den ökologischen Transformati-
onsprozess. Schließlich ist unsere reprä-
sentative Demokratie schlichtweg daran
gescheitert, auf den ökologischen Not-
stand zu reagieren. Wir wollen mehr Demo-
kratie, nicht weniger.

Der Grünen-Politiker Boris Palmer sagte
in Richtung der XR-Proteste, natürlich
müsse mehr für das Klima getan werden,
dabei dürfe aber „der Rechtsstaat nicht
über Bord geworfen werden“.
Jeder weiß, dass man manchmal Dinge tun
muss, die wider das Gesetz sind, um Ge-
rechtigkeit zu erringen, wenn die Gesetze
selbst falsch sind. Martin Luther King und
die amerikanische Bürgerrechtsbewegung
haben gesetzwidrig gehandelt und hatten
trotzdem Recht mit dem was sie taten. So
ist es auch mit allen, die jetzt das Gesetz
brechen (oder die Schule bestreiken), um
die Gesetze dahingehend zu ändern, dass
die Menschheit sich nicht selbst zerstört.

Ist Gewalt in irgendeiner Form in diesem
Kampf erlaubt?
Nein. XR ist absolut gewaltfrei. Das ist
auch das Geheimnis unseres bisherigen Er-
folgs. Gewalttätigen Widerstand kann die
Polizei leicht handhaben. Er gibt ihr einen

Anlass, hart dagegen vorzugehen. Massen-
hafter gewaltfreier Widerstand ist schwe-
rer zu bekämpfen. Wir sind tausende ganz
normale Leute, die mit ihrem Körper für ei-
ne gerechte Sache einstehen. Wer dabei Ge-
walt anwendet, gehört nicht zu XR.

Sie haben kürzlich einen Gesprächsband
veröffentlicht. „This civilization is finis-
hed“, so der thesenhafte Titel. Kommt die
Apokalypse also so oder so?
Eben nicht! Ich sage nicht, es wird keinerlei
Zivilisation mehr geben. Ich sage, diese Zi-
vilisation, wie wir sie kennen, kommt an
ihr Ende. Und es muss sich alles extrem
schnell ändern, damit nicht Millionen,
wenn nicht Milliarden von Menschen ster-
ben. Andere Autoren sagen, es sei mittler-
weile zu spät, der Nachhaltigkeitsforscher
Jem Bendell schreibt in „Deep adaptation“,
der Kollaps sei unausweichlich und wir
müssten anfangen uns darauf vorzuberei-
ten. Ich aber glaube, wir haben noch eine
kurze Zeitspanne, in der wir den Zusam-
menbruch verhindern können. Für diese
Möglichkeit das Ruder doch noch herumzu-
reißen, muss unbedingt gekämpft werden.

Was muss als Erstes geschehen?
Wir brauchen einen riesigen Umbau in vie-
lerlei Hinsicht. Das gesamte Energiesys-
tem muss innerhalb weniger Jahre trans-
formiert werden. Zum einen weg von den
fossilen Energieträgern und der Nuklear-
energie. Zum anderen ist es absurd darauf
zu hoffen, dass unsere Zivilisation einfach
1:1 auf erneuerbare Energien umsteigt. Wir
werden mit viel weniger Energie auskom-
men müssen. Zweiter Aspekt, eng damit zu-
sammenhängend: Wir brauchen lokalere
Strukturen. Weniger Verkehr auf allen Ebe-
nen. Die zentrale Frage ist, kollabieren wir
chaotisch in solch eine Zukunft hinein
oder schaffen wir den geordneten Umbau?

Sie sprechen in diesem Zusammenhang
von tiefer und oberflächlicher Anpas-
sung. Was meinen Sie damit?

Ein Beispiel: Der Meeresspiegel wird über
einen langen Zeitraum ansteigen, Wetter-
extreme werden zunehmen. Oberflächli-
che Anpassung besteht darin, höhere Däm-
me zu bauen oder Häuser aufzubocken. Sol-
che Maßnahmen sind in sich schon extrem
energieintensiv und befördern also einen
weiteren Meeresspiegelanstieg. Und sie

tun nichts gegen die eigentlichen Ursa-
chen. Man versucht damit ja alles beim Al-
ten zu belassen und einfach so weiterzuma-
chen wie bisher. Tiefe Anpassung würde
bedeuten, Mangrovenwälder aufzufors-
ten, Marschland anzulegen, kurzum mit
der Natur zu arbeiten statt gegen sie.

Sie sagen, wir befänden uns in einem Zu-
standderkollektivenVerleugnungdesKli-
madramas. Aber wird nicht enorm viel
über die Erderwärmung geredet?
Ja, aber nicht auf die Art wie Jem Bendell
oder David Wallace-Wells das diskutieren,
Leute die uns ungeschönt sagen, wie tief
die Krise mittlerweile ist und was für dra-

matische Folgen die Erderwärmung bald
schon für uns alle haben wird. Die Tempe-
raturen würden die nächsten 40 Jahre
über selbst dann weiter steigen, wenn wir
alle Emissionen radikal runterfahren wür-
den. Aber das passiert ja nicht. Die briti-
sche Regierung hat sich vorgenommen,
dass Großbritannien bis 2050 klimaneu-
tral wird. Das britische Parlament hat nach
unseren Protesten im April den Klimanot-
stand ausgerufen. Sie geben also selbst zu,
dass wir einen Notstand haben, sagen aber
gleichzeitig, wir machen diesen Notstand
bis zum Jahr 2050 noch schlimmer. Das ist
eine dramatische Leugnung der Situation.

Wenn die Zukunft tatsächlich so düster
ist, wie schafft man es darüber zu spre-
chen ohne die Menschen zu sehr zu ver-
schrecken?
Die Umweltaktivisten haben viel zu lange
drumherum geredet, wie schlimm es wirk-
lich wird. Immer hieß es, da deprimieren
wir die Leute, wir müssen optimistisch
und konstruktiv klingen. Also wurde es im-
mer wieder mit einem positiven Framing
versucht. Die Wahrheit ist aber nunmal,
dass es wahrscheinlich katastrophal wird.
Dass wir uns auf ein Massenaussterben zu-
bewegen, das krasser wird als die bisheri-
gen Massenaussterben der Erdgeschichte.
Für vier der fünf großen Massensterben in
der Erdgeschichte war der Anstieg von Koh-
lendioxid die Ursache. Nie aber ist die
CO2-Konzentration in der Luft so schnell
gestiegen wie momentan. Der Punkt ist
aber nun: Obwohl wir von XR diese radika-
len Wahrheiten aussprechen, waren wir in
Großbritannien erfolgreicher als alle Um-
weltgruppen der letzten 30 Jahre.

Inwiefern?
Wir haben London im April für zwei Wo-
chen lahmgelegt, 1200 Leute wurden ver-
haftet, das war der größte zivile Wider-
stand in der Geschichte Großbritanniens.
Meinungsumfragen zeigen, dass danach
zwei Drittel der Bevölkerung überzeugt wa-

ren, dass wir uns in einer dramatischen Si-
tuation befinden. Die Regierung hat nach
unseren Protesten den Klimanotstand aus-
gerufen. Insofern ist XR der lebende Be-
weis dafür, dass dieser Ansatz, die Leute
bloß nicht zu verschrecken, falsch ist.

Sie bezeichnen die Aktionen in London
und Berlin nicht als Protest, sondern als
Rebellion. Was ist der Unterschied?

Er besteht darin, dass wir eine Regierung,
die uns in Richtung Abgrund führt, nicht
akzeptieren. Wir steuern mit den Geset-
zen, die wir momentan haben, auf den Kol-
laps zu, also müssen die Gesetze dringend
geändert werden.

Neonazis sagen auch, wir akzeptieren den
Staat und sein Gewaltmonopol nicht.
Das Gewaltmonopol achten wir sehr wohl,
wenn wir selbst keine Gewalt anwenden.
Und wir achten die Demokratie. Sobald der
Staat konsequente Klimapolitik macht,
wird unser Protest aufhören.

In Ihrem recht düsteren Gesprächsbuch
gibt es eine helle Stelle, an der Sie von ei-
ner „wunderschönen Koinzidenz“ spre-
chen. Worin besteht die?
Das, was wir tun müssen, um den Kollaps
zu verhindern ist im Grunde auch das, was
wir tun müssen, um unser aller Lebensqua-
lität zu verbessern: Gemeinschaften stär-
ken, lokale Strukturen aufbauen, die Ein-
kommensunterschiede verringern. Ex-
trem verkürzt gesagt: Wir können unser Le-
ben verbessern, indem wir den Energiever-
brauch runterfahren.

interview: alex rühle

„Sobald der Staat konsequente
Klimapolitik macht,
wird unser Protest aufhören.“

„XR ist absolut gewaltfrei.
Das ist auch das Geheimnis
unseres bisherigen Erfolgs.“

Rebellion statt Protest


Der Philosoph und Aktivist Rupert Read über „Extinction Rebellion“, zivilen Ungehorsam und die kollektive Leugnung des Klimawandels


von johan schloemann

D


ie amerikanische Philosophin
Judith Butler, bekannt besonders
als Gender-Theoretikerin, reiht
sich bereitwillig in eine Männer-WG ein.
Am Sonntag hielt sie am Deutschen Litera-
turarchiv Marbach den Eröffnungsvortrag
zu der Ausstellung „Hegel und seine Freun-
de“. Es war lange nicht mehr so voll auf der
Schillerhöhe in Marbach, viele wollten die
weltberühmte Denkerin sehen und hören;
sie sprach freundlicherweise auf Deutsch.
Ihr Vortrag lief auf die Botschaft hinaus,
im Rückgriff auf das Werk von Georg Wil-
helm Friedrich Hegel, dessen Geburtstag
sich im kommenden Jahr zum 250. Mal
jährt, könne und müsse man zuversicht-
lich in die Zukunft schauen, trotz aller be-
gründeten Krisengefühle unserer Gegen-
wart. Es war ein zum Teil anspruchsvoller,
zum Teil ernsthaft rührender Vortrag.
Vorher aber kam Judith Butler mit auf
einen Rundgang durch die Ausstellung im
dazugehörigen Literaturmuseum der Mo-
derne. Diese Hegel-Schau ist aus zwei
Gründen als – systematisch unaufgeräum-
te – Wohngemeinschaft konzipiert: Ers-
tens hat Hegel einst mit dem gleichaltrigen
Friedrich Hölderlin (der ebenfalls als Jubi-
lar nächstes Jahr groß gefeiert wird) und
dem fünf Jahre jüngeren Friedrich Wil-
helm Joseph Schelling ein Studentenzim-
mer geteilt, im Wintersemester 1790/91 im
Evangelischen Stift in Tübingen. Dies war
eine Urszene des deutschen Idealismus:
Die drei jungen Herren, die der Theologie
entliefen, berauschten sich dort an einem
jugendlichen Manifest zur Verbindung
von Vernunft und Schönheit.

Und zweitens arbeitet man in Marbach
mit dem Bild der WG, weil das dortige
Archiv nur wenige Hegel-Originale besitzt
(das Meiste liegt in Berlin), dafür aber viele
Zeugnisse von Schülern und späteren
Schriftstellern, die sich auf Hegel beziehen
und gleichsam in seine Wohnung des Geis-
tes eingezogen sind, zumindest auf Zeit.
Darum läuft man nun in der Ausstellung
durch ein spielerisch möbliertes Durchein-
ander mit diversen Mitmach-Elementen,
um in eine Art Küchengespräch über die
Jahrhunderte einzutreten, soweit man
überhaupt in der Küche über einen Philoso-
phen reden kann, der Sätze geschrieben
hat wie: „Bei einem Begriffe ist nichts wei-
ter zu denken als der Begriff selbst.“
So stößt man bei der Begehung etwa auf
ein vielsagendes handschriftliches Kreuz:
Der „Junghegelianer“ David Friedrich
Strauß, der bald mit seiner kritischen
Jesus-Geschichte Furore und Ärger ma-
chen sollte, setzte das Zeichen auf die letz-
te Seite seiner Mitschrift der Berliner Vorle-
sungen Hegels, als der Meister 1831 starb.
Einen Tisch weiter sieht man die Einla-
dung des Theologen und Philosophen Paul
Tillich zu einer dialektischen Kostümparty
in Frankfurt aus dem Februar 1933, kurz
nach der Machtergreifung der Nazis und
wenige Monate vor Tillichs Abschied ins
amerikanische Exil. Die Gäste dieser Party
sollten sich unter dem Motto „Durch
Spruch und Widerspruch zur Einheit“ als
Gegenteil dessen verkleiden, als was sie
sich selbst sahen. Als die Kuratorin Heike
Gfrereis erzählt: „Adorno kam als Napole-
on“, da muss Judith Butler laut lachen.
Und dann steht Butler, die seit längerem
an der Universität von Kalifornien in Berke-

ley lehrt, vor einem Exponat ihrer selbst.
Es ist eine Seminararbeit in englischer
Sprache über das Wort „ist“ in Hegels Lo-
gik aus dem Jahr 1981, die Butler damals
als 25-jährige Gaststudentin in Heidelberg
geschrieben hat, bei dem nicht minder be-
deutenden Philosophen Hans-Georg Gada-
mer. Dessen handschriftliche Bemerkun-
gen sind gut zu erkennen:good,schreibt Ga-
damer einmal lobend an den Rand. Wie es
sich anfühlt, derart als Teil der Geistesge-
schichte musealisiert zu werden, darüber
schweigt Judith Butler lieber.
Dafür sagt sie dann in ihrem Vortrag,
der gute Hegel wäre womöglich mit man-
chem, was sie heute vertrete, nicht einver-
standen, etwa zur Überwindung nationa-
ler und biologischer Grenzen. Aber er blei-
be „der Ausgangspunkt meines Denkens“.
Mit Hegel, so Butler, könne man weiterhin,
jetzt erst recht, geschichtsphilosophische
Überlegungen gegen den Fatalismus an-
stellen. Sie wolle die „Desorientierung“, ja
den „Schock“ über eine politische Regressi-
on der Gegenwart, über eine Krise der De-

mokratie nicht kleinreden. Sie empfinde
auch so. Aber man könne doch von Hegel
her Hoffnung schöpfen, nicht unbedingt
mehr direkt anhand seiner historisch-poli-
tischen Überlegungen zum „Fortschritt im
Bewusstsein der Freiheit“, sondern mit sei-
ner Entfaltung der Selbsterkenntnis in der
„Phänomenologie des Geistes“.

Daraus nämlich, sagt Judith Butler, kön-
ne man (um ihr Argument – wie immer,
wenn es um Hegel geht, ungebührlich – ab-
zukürzen), die Erkenntnis gewinnen: „Das
da drüben ist auch mein Leben.“ Gegen die
kantianische Weiterentwicklung der He-
gelschen Vorstellung von Anerkennung,
wie sie der Philosoph Axel Honneth vertritt


  • also reziproke normative Achtung des An-
    deren –, wendet Butler ein, dies sei schon
    viel zu erwachsen gedacht: „Man kann


nicht von Anfang an auf eigenen Beinen ste-
hen.“ Mit Hegel erkenne man eher, „dass
wir schonvorder Anerkennung zueinan-
der gehören.“ Schon aus dieser Einsicht in
die wechselseitige Abhängigkeit der Men-
schen, die auch die Möglichkeit der Aggres-
sion nicht ausschließt, folge dann der stän-
dige Auftrag zur Organisation von Gleich-
heit, Sozialstaat, Umweltschutz und ähnli-
chen Verbesserungen. Darin liegt also ge-
wissermaßen eine anthropologische Grun-
dierung vor allen Identitätskämpfen, mit
denen man den Namen Judith Butler
schlagwortartig verbindet. Am Ende ihres
Vortrags stand dann die „Verheißung,
durch das Fremde verändert zu werden“.
Kehrt man nach so großen Worten wie-
der zurück in die Hegel-WG (die übrigens
ohne Karl Marx auskommen muss), kann
einem die Marbacher Ausstellung etwas
läppisch vorkommen. Aber das herausfor-
dernde Abenteuer der Hegel-Lektüre kann
uns eine Ausstellung ohnehin nicht abneh-
men, dafür bietet das kommende Jubilä-
umsjahr hoffentlich (wieder) Gelegenheit;

bald erscheint auch eine neue, 800-seitige
Biografie.
Bis dahin wird man durch vieles neugie-
rig gemacht und erfährt auch Entlastung
durch typischen WG-Humor, wie ihn die
philosophische Lektüre immer wieder an-
geregt hat: Robert Gernhardt suchte die Di-
alektik im „Hegel-Stübchen“ (unser Bild).
Und der Philosoph Odo Marquard dichtete
in den Fünfzigern in Münster diese Arie,
die ein Kollege singen musste: „Und wir
streichen nicht die Segel, / selbst in noch so
dürft’ger Zeit, denn wir haben ja den He-
gel, / und der Hegel weiß Bescheid. / Her-
kunft kann zusammenstehen / Mit der Zu-
kunft ohne Krach. / Hegel hat das scharf ge-
sehen, / und wir sehen es ihm nach: (...) /
Und die Zeit ist in den Fugen, / und die
Welt ist wunderschön. / Und wir alle sind ja
Bürger, / die am Freitag hegeln gehen.“

Hegel und seine Freunde. Eine WG-Ausstellung.
Literaturmuseum der Moderne, Marbach. Bis 16. Fe-
bruar 2020. Info: http://www.dla-marbach.de.

DEFGH Nr. 232, Dienstag, 8. Oktober 2019 9


Zur dialektischen Kostümparty
kam Adorno als
Napoleon verkleidet

Am Ende von Butlers Vortrag
stand die „Verheißung, durch
das Fremde verändert zu werden“

Rupert Read lehrt Philosophie an der Uni-
versity of East Anglia, ist Mitglied der bri-
tischen Grünen und ein Sprecher von Ex-
tinction Rebellion. FOTO: RAMA, CC-BY-SA-2.0-FR

Feuilleton
Rambo war gestern – die
Schauspielerin Sigourney Weaver
wird 70 Jahre alt 11

Literatur
Jostein Gaarder und
Martin Simons bringen ihre
Erzähler in Todesnähe 12

Wissen
Keime in Lebensmitteln: Die Zahl der
Infektionen wächst. Warum sind
Listerien so gefährlich? 14

 http://www.sz.de/kultur

Idealistentreff


Die Ausstellung „Hegel und seine Freunde“ in Marbach läutet das kommende Hegel-Jahr ein.


Zur Eröffnung verbreitete die Philosophin Judith Butler Hoffnung auf die Zukunft, trotz allem


Die tschechische Schauspielerin und
frühere Dissidentin Vlasta Chramostova
ist tot. Sie starb am Sonntag im Alter von
92 Jahren. Chramostova war eine der
ersten Unterzeichnerinnen der Petition
Charta 77 von Vaclav Havel gegen die
Menschenrechtsverletzungen in der
damaligen Tschechoslowakei. Die sozia-
listischen Machthaber belegten sie mit
einem jahrelangen Berufsverbot. „Sie
war eine tapfere Frau und eine außerge-
wöhnliche Schauspielerin“, sagte der
Schriftsteller Milan Uhde. Kulturminis-
ter Lubomir Zaoralek kündigte an, dass
Chramostova ein Begräbnis mit staatli-
chen Ehren erhalten werde. dpa

Der Ehrenpreisträger des Deutschen
Filmmusikpreises 2019 heißt Enjott
Schneider. Der 69-jährige Komponist
erhalte die Auszeichnung am 8. Novem-
ber in Halle, teilten die Veranstalter mit.
Schneider habe sowohl den Spielfilm als
auch den Dokumentarfilm bereichert,
hieß es zur Begründung. Mehr als 600
Film-Kompositionen stammten aus
seiner Feder – unter anderem schuf er
die Musik zu „Schlafes Bruder“, „Herbst-
milch“ und „Stauffenberg“. Der Deut-
sche Filmmusikpreis wird bei den zwölf-
ten Filmmusiktagen Sachsen-Anhalt im
Steintor-Varieté Halle verliehen, die von


  1. bis 9. November stattfinden.dpa


Die französische Schriftstellerin Annie
Ernaux, 79, wird mit dem Prix de l’Acadé-
mie de Berlin geehrt. Die Auszeichnung
ist mit 5000 Euro dotiert. Verliehen wird
sie jedes Jahr an Menschen, Institutio-
nen oder Projekte, die „zur Belebung
und Vertiefung der Beziehungen zwi-
schen Deutschland und Frankreich bei-
tragen“. Ernaux, Autorin von „Die Jahre“
und „Erinnerung eines Mädchens“, ist
für ihre autobiografischen Erzählungen
bekannt. Die Akademie lobte ihre „hoch-
moderne, gewagte, meisterlich kompo-
nierte Literatur, die von Klassenkämp-
fen, den Zumutungen kultureller Diffe-
renz und der Emanzipation der Frauen
erzählt“. Der Preis wird am 26. Novem-
ber in Berlin verliehen.dpa

FEUILLETON


„Theke, Antitheke, Syntheke“: Robert Gernhardts Zeichnung „Im Hegel-Stübchen“, 1984.FOTO: DLA MARBACH

HEUTE


Vlasta Chramostova tot


Ausgezeichnete Filmmusik


Académie ehrt Annie Ernaux


KURZ GEMELDET


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