National Geographic Germany - 10.2019

(vip2019) #1
KENIA

AFRIKA

ASIEN

EUROPA

INDI-
SCHER
OZEAN

Ol-Pejeta-
Reservat

EXPLORER | ARTENSTERBEN


KARTE: NGM MAPS

noch einmal hinter dem Ohr zu kraulen. Sudan legte
seinen schweren Kopf an den von Wachira. Ich foto-
grafierte die beiden Freunde ein letztes Mal.
Diese letzten Augenblicke waren still – der leise
fallende Regen, ein einzelner zeternder Lärmvogel
und der gedämpfte Kummer von Sudans Pflegern.
Dabei zusehen, wie ein Lebewesen stirbt, zudem das
letzte seiner Art, das möchte ich nie wieder erleben.
Mir war, als sähe ich unserem Niedergang zu.
Aber noch gibt es einen schwachen Hoffnungs-
schimmer für das Nördliche Breitmaulnashorn. Zwei
Weibchen leben noch, und es gibt Pläne für In-
vitro-Fertilisationen (siehe Seite 162).
Für mich ist das mehr als eine Ge-
schichte. Alle Nashornarten werden
noch zu unseren Lebzeiten aussterben,
wenn sich das Töten fortsetzt – mit
unabsehbaren Folgen für das Öko-
system, in dem sie leben.
Diese Riesen gehören zu einer komple-
xen Welt. Ihr Überleben ist mit unserem
verflochten. Ohne Nashörner und Elefanten
und andere Wildtiere erleiden wir einen Verlust von
Staunen, von wunderbaren Möglichkeiten. Und
wenn wir uns wieder als Teil der Natur verstehen,
erkennen wir, dass es bei der Rettung der Umwelt in
Wirklichkeit darum geht, uns selbst zu retten.
Das ist es, was Sudan mich lehrte. N
Aus dem Englischen von Susanne Schmidt-Wussow

Flora International, Back to Afrika und das Lewa
Wildlife Conservancy arbeiteten unermüdlich daran,
den Umzug zu ermöglichen. In einer frostigen De-
zembernacht verließen die vier Nashörner den Zoo
Dvůr Králové in der Tschechischen Republik in
Richtung Ol Pejeta Conservancy in Kenia.
Die Geschichte von Sudan ist entsetzlich und
mutmachend zugleich. Einerseits sorgte mensch-
licher Irrsinn für die Ausrottung dieser wunderbaren
Tierart. Andererseits führte dieser Umstand eine
Gruppe ganz unterschiedlicher Menschen in dem
Versuch zusammen, etwas Einzigartiges zu schüt-
zen, das nie wiederkehren würde, wenn es
erst einmal verschwände.
Die Begegnung mit Sudan veränderte
mein Leben. Heute konzentriere ich
mich auf Geschichten über die Natur,
unsere Zukunft und die gegenseitige
Abhängigkeit aller Formen des Lebens.
Neun Jahre nach dem Lufttransport
bekam ich einen Anruf: Ich solle schnell
nach Kenia kommen. Mit 45 Jahren lag Sudan
im Sterben. Seine letzten Jahre hatte er in den Step-
pen seiner Heimat verbringen dürfen, wenn auch
immer in Begleitung bewaffneter Wächter, die ihn
vor Wilderern beschützten. Und er war berühmt
geworden – als „begehrtester Junggeselle der Welt“,
wie man ihn liebevoll betitelte.
Sudan war alt geworden, sein Sterben kam nicht
unerwartet, und doch berührte es viele Menschen.
Als ich eintraf, umgaben ihn jene, die ihn geliebt
und beschützt hatten. Joseph Wachira, einer seiner
hingebungsvollen Wildhüter, ging zu ihm, um ihn

Ami Vitale wurde durch ihren intensiven Fotojournalismus inter-
national bekannt. Ihre jüngste Arbeit für NATIONAL GEOGRAPHIC
war über Giraffen. Sie finden sie ab Seite 96.

Zarte Bande: Sudan (l.) mit einem der letzten weiblichen Nördlichen Breitmaulnashörner in Kenia.

36 NATIONAL GEOGRAPHIC
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