Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1
DIE ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR


NEUER LEHRPLAN GLOBALE ERWÄRMUNG

Muss man heute noch den »Faust« gelesen haben, um seine


Reifeprüfung zu bestehen? VON ANNA-LENA SCHOLZ


Die heikle Prüfung beim Klimaschutz: Es betrifft auch Generationen,


die weit nach unseren Enkeln geboren werden VON STEFAN SCHMITT


Goethe, mir graut’s Ende der Trägheit


K


ann man ein gebildeter Mensch
sein, ohne Faust gelesen zu haben?
Ja, sagt das Schulministerium von
Nordrhein-Westfalen. Ab dem Jahr
2021 gehört Goethes Tragödie
nicht mehr zum Prüfungsstoff für
das Deutsch-Abitur. Reifeprüfung ohne Meister-
dichter. Auch in anderen Bundesländern ist die
Faust-Lektüre nicht mehr verbindlich. Mal liest
man Lessing, mal Schiller, mal Kleist, einen von
den Großen halt. Man wolle regelmäßig die »Fo-
kussierung wechseln«, argumentiert das Ministe-
rium. Der Aufruhr folgte sogleich. Der Deutsche
Lehrerverband empörte sich: Frevel am Kanon!
Faust sei zeitlos, Faust sei für alle, ohne Faust
drohe Kulturverlust für die Abiturienten der
Zukunft.
Die Beschäftigung mit Literatur soll, so steht
es im Lehrplan, das Ȋsthetische und literar-
historische Bewusstsein« erweitern. Das klingt
blechern, meint aber etwas Großes: Literatur
kann unseren Horizont aufreißen. Wer liest,
wächst über sich hinaus, und der Wortschatz
gleich mit. Figuren auf Papier werden zu Freun-
den im Kopf. Literarische Texte kann man lie-
ben, sie können einen langweilen und ärgern,
manche scheinen zeitlos, andere veralten. Im
schönsten Fall öffnet sich im Deutschunterricht
die Tür zu dieser Welt. Goethes Faust, veröffent-
licht 1808, war lange ein solcher Türöffner.
Doch ist er das auch heute noch?

Goethes Drama ist nicht nur Schullektüre –
es ist Exportschlager, schafft Identität

Für viele ist Faust mehr als nur ein gelbes Reclam-
Bändchen. Kein Gelehrter war je ratloser als
dieser Tor in seiner Stube. Kein Teufel charman-
ter als jener, der »stets das Böse will und stets das
Gute schafft«. Goethes Werk ist ein Export-
schlager, man kennt es auf der ganzen Welt. Die
Schullektüre ist identitätsstiftend: unser Goethe,
unsere Weltliteratur, unsere Kulturnation. Wen
es schmerzt, dass dieses Werk vom Regalbrett
rutscht, der betrauert aber den Verlust von etwas
anderem. Faust verbindet Eltern-, Lehrer- und
Schülergenerationen – oder tut zumindest so:
Nicht hinter jeder kleinen memorierten Sentenz
(»des Pudels Kern«) verbirgt sich große Goethe-
Kenntnis. Macht aber nix, denn dieser Text ist so
etwas wie der bildungsbürgerliche Superkleber
für eine partikulare, auseinanderstrebende Gesell-

schaft. Tröstlich die Vorstellung, dass alle irgend-
wann einmal den gleichen Text gelesen haben.
Dass alle ihn kennen: den Zweifel darüber, was
die Welt im Innersten zusammenhält.
Daran kann man sich klammern. Oder man
versetzt sich in eine 17-jährige Schülerin und liest
den Text mit ihrem Blick. Die Handlung ist so
lala. Älterer promovierter Herr (Dr. Heinrich
Faust), so gebildet wie gelangweilt (Mid life- Cri-
sis), schließt einen großen Deal mit dem Teufel.
Er tauscht sein Seelenheil gegen jugendliche
Manneskraft, schwängert ein junges Mädchen
aus bildungsfernem Milieu (#MeToo), das am
Ende stirbt. Der Doktor schlägt sich fortan voller
Schuldgefühle mit Hexen und Göttern herum
(Faust II). Zu polemisch? Vielleicht nur ein ak-
tueller Blick auf einen alten Stoff. Monumental
und auch ein bisschen fremd steht der Faust heute
in der aufgepeitschten Gegenwart herum.
Lessings Aufklärungsdrama Nathan der Weise
(1779) – der Text, den das Schulministerium
stattdessen zur Pflichtlektüre bestimmt hat – be-
sticht dagegen durch Aktualität. Hier treffen ein
Jude, ein Christ, ein Muslim aufeinander. Die
Handlung ist verwickelt, denn nach und nach
stellt sich heraus, dass alle irgendwie miteinander
verwandt sind oder einander adoptiert haben.
Eine Patchwork-Geschichte mit Happy End, die
jeder nationalstaatlichen und religiösen Vorherr-
schaft den Boden entzieht: »Unter stummer
Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der
Vorhang.« Eine Regieanweisung, wie man sie für
die globale Weltgemeinschaft des 21. Jahrhun-
derts herbeisehnt. Wäre man gezwungen, sich zu
entscheiden – Goethe oder Lessing, Faust oder
Nathan – ja, dann ist natürlich Letzterer die
wichtige Figur für unsere Zeit.
Doch muss man sich überhaupt entscheiden?
Wer Werke gegeneinander ausspielt, der beför-
dert, was er zu vermeiden sucht: dass der Bil-
dungs kanon schrumpft. Eng und starr wird er
aber vor allem dann, wenn man so tut, als seien
diese Texte eine Zumutung, die Schülerinnen
und Schülern in kleiner, gezielter Dosis verab-
reicht werden müsse. Dahinter steht eine allzu
verzagte Vorstellung von Literatur. Als sei sie
keine Lust, kein Glück. Die Frage lautet nicht,
ob Goethe noch gelesen werden muss. Sondern
ob die Schule dazu verführt, überhaupt zu lesen,
ein Leben lang, vielleicht sogar den Faust.

A http://www.zeit.deeaudio

B


eim Streit über den Mangel an
einem Klimaschutz, der diesen
Namen halbwegs verdient, sind
dreierlei Zeitmaße stets präsent:
Erstens die drei Jahrzehnte des
Nichtstuns, seitdem der Klima-
wandel von den UN zum Menschheitsthema
erklärt wurde. Zweitens das Jahr 2100, das als
Marke sowohl für zunehmend bedrohliche Prog-
nosen (Vier-Grad-Welt) als auch für international
bindende Vereinbarungen dient (Paris-Ziel).
Drittens die politische Zeitspanne zwischen einer
mäßig ambitionierten Ankündigung der Bundes-
regierung bis zu dem Moment, da diese von der-
selben Regierung öffentlich unterboten wird.
Die Zeitspanne dazwischen wird dann routi-
niert überbrückt mit Ausweichdebatten übers
Schuleschwänzen wie zu Jahresbeginn, über die
Plötzlichkeit des »Klimathemas« wie nach der
Europawahl im Mai oder eben über die Verhält-
nismäßigkeit zivilen Ungehorsams wie ange-
sichts der Protestaktionen von Extinction Rebel-
lion in dieser Woche. Von denen war bei Redak-
tionsschluss noch nicht absehbar, wie sie ausge-
hen würden – wenigstens das hatten sie mit den
Klimaplänen der Bundesregierung gemein.

Nie war mehr Verursachung als jetzt,
und darum war nie mehr Verantwortung

Es wirkt paradox, wenn man diese drei Zeitmaße
nebeneinanderlegt: unvereinbar und doch gleich-
zeitig. Vielleicht gehört das zum Wesen des Klima-
wandels dazu, der einfach nicht ins gewohnte
Format politischer Herausforderungen passt.
Auf jeden Fall aber können damit Jahre ins Land
gehen, ja Legislaturperioden.
Diese widersprüchliche Gegenwart, was wird
sie für die Menschen von morgen bedeuten? –
Beschränken wir den Blick voraus einmal nicht
wie üblich auf die zwei oder drei kommenden
Generationen, die man womöglich noch per-
sönlich kennenlernen könnte. Schauen wir statt-
dessen auf die ganze Reichweite der Gegenwart
in die Zukunft:
Tausend Jahre dauert es, bis sich im Ozean
ein neues Gleichgewicht eingestellt hat. So lange
braucht die Wärme bis in den letzten Winkel der
Tiefsee. Diese Trägheit steckt in der Natur. Und
selbst an der Oberfläche wirkt das unmittelbare
Schwellen der Pegel über viele Jahrzehnte nach.
Gegenwärtig beschleunigt sich der Anstieg des

Meeresspiegels. Auch er besitzt eine Trägheit
über den Jahrhundertwechsel hinaus. Gelingt es
wenigstens, wenn das Zwei-Grad-Ziel erreicht
wird, den Anstieg zu verlangsamen? Für die
Menschen der Zukunft, die Sperrwerke bezahlen
und Umzüge organisieren müssen? Womit wir
vom Bestfall sprechen. Der Worst Case bei wei-
ter zunehmenden Emissionen: Noch in diesem
Jahrhundert geraten Gletscher in der Antarktis
unumkehrbar ins Rutschen – einer der gefürch-
teten Kipppunkte des Klimasystems –, und dann
verändern sich die Küstenlinien durchs gesamte
Jahrtausend hindurch dramatisch. Die Strände
von heute werden Menschen von morgen dann
nicht mehr kennen.
Gleichzeitig erfährt die Natur gerade ein
Arten sterben von geologischem Ausmaß, das
von der globalen Erwärmung noch verschärft
wird. Forscher sprechen längst von der »sixth
mass extinction«, dem sechsten Massenausster-
ben, in Anlehnung an das fünfte große Arten-
sterben der Erdgeschichte, das vor 65 Millionen
Jahren die Dinosaurierzeit beendete. Womit die
Menschheit in den Rang jenes Meteoriten käme,
der damals die Dinos auslöschte. Aus der Prähis-
torie weiß man, dass es Hunderttausende Jahre
dauern kann, bis eine neue natürliche Vielfalt
entsteht – nach menschlichen Maßstäben ewig.
Da würde schon ein bisschen weniger Natur-
verlust einen großen Unterschied machen. Ge-
nauso wie etwas weniger globale Erwärmung
und ein langsamer steigender Meeresspiegel.
Dieser verstörende Fernblick gehört dazu,
wenn über Kompromisse (Klimapaket) oder
Ruhe störung (Extinction Rebellion) diskutiert
wird. Weil heute die Lebensbedingungen von
einst vorbestimmt werden. Und er zeigt, warum
gerade jetzt ein weiteres Jahrzehnt des Nichtstuns
eines zu viel wäre: weil nie mehr Verursachung
war als gerade. Und mehr Verantwortung.
Denn von all dem überschüssigen CO₂, das
sich seit der Industrialisierung in der Lufthülle
angesammelt hat, wurden zwei Fünftel seit 1990
ausgestoßen. Fast jedes dritte Molekül stammt
aus dem noch jungen 21. Jahrhundert. Und die
Emissionen steigen noch immer. Zur jetzigen
Auf-die-lange-Bank-Schieberei gehört dazu, dass
ein Großteil des Schadens aus einem ziemlich
überschaubaren Zeitraum stammt. Nennen wir
diesen Zeitraum die teure Gegenwart.

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Titelillustration: Monja Gentschow für DIE ZEIT


Der schwedische König Carl XVI.
Gustaf hat den Nachkommen sei-
ner beiden jüngeren Kinder den
Titel »Königliche Hoheit« entzo-
gen. Lediglich die zwei Kinder der
ältesten Tochter, Kronprinzessin
Victoria, tragen nun die Last der
Repräsentation. Die anderen fünf
Enkel sind davon befreit und dür-
fen sich auf ein normales Leben
freuen. »Froh zu sein bedarf es we-
nig«, heißt der Kanon, »und wer
froh ist, ist ein König.« GRN.

Frohe Enkel


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ZEITLiteratur-Cover: Elena Zaucke für DIE ZEIT;
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