Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

STREIT


»Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.« HELMUT SCHMIDT


DIE ZEIT: Herr Pappermann, Herr Richter, es ist
ziemlich genau 30 Jahre her, dass Sie sich begeg­
net sind.
Frank Richter: Es war am 8. Oktober 1989, und
ich muss sagen, etwas Wichtigeres ist mir im Le­
ben nicht passiert. Mal abgesehen davon, dass ich
mich verliebt und geheiratet habe.
Detlef Pappermann: Da gebe ich dir recht, Frank.
Wenn ich an diesen Tag denke, jagt es mir einen
Schauder über den Rücken.
ZEIT: Dass Sie mal so etwas sagen würden, war
damals nicht zu vermuten. Sie standen auf zwei
verschiedenen Seiten, Sie waren sogar Gegner ...
Richter: Ich war 29 Jahre alt und Kaplan an der
katholischen Hofkirche in Dresden ...
Pappermann: ... und ich war 31 und gehörte zu
den Neunern, das war die Diensteinheit IX, ein
Spezialeinsatzkommando für Geiselnahme, Ent­
führung und bewaffnete Täter.
ZEIT: Gemeinsam haben Sie, Pfarrer und Polizist,
zu einer friedlichen Revolution in der DDR bei­
getragen. Zumindest haben Sie innerhalb von zwei
Stunden den ersten Dialog zwischen Staatsmacht
und Bürgern organisiert. Und das, obwohl es einige
Tage zuvor massive Ausschreitungen gegeben hatte,
als die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen aus
Prag über Dresden gen Westen fuhren.
Pappermann: Als wir Neuner hörten, dass die
Züge über Dresden gehen sollten, haben wir ge­
sagt: Sind die da oben noch bei Troste? Wir hatten
dann die Aufgabe, mit 150 Mann den Bahnhof
vor Tausenden von Menschen abzuschirmen. Vor
dem Bahnhof gab es kleine Fliesenpflaster, sieben
Zentimeter mal drei Zentimeter mal drei Zenti­
meter, und ein Mädchen inmitten einer Gruppe
von Jugendlichen warf den ersten Stein, und dann
ging es los, immer hin und her.
ZEIT: Sie haben die Steine zurückgeworfen?
Pappermann: Logisch, das ging zwei Stunden so.
Das war bis dahin völlig unbekannt in der DDR,
eine ungenehmigte Demo. Sogar Wasserwerfer
mussten wir einsetzen, das kannte man nur aus
dem Westen. Und in den nächsten Tagen gingen
die Demonstrationen weiter, dabei waren die Züge
längst weg ...
Richter: Ich war jeden Abend auf der Straße. Einige
Male sah ich dort blanke Gewalt. Ich beobachtete,
wie Uniformierte Demonstranten einkesselten, mit
Schlagstöcken schlugen und in Militärfahrzeugen
abtransportierten.


ZEIT: Herr Pappermann, wie ging es Ihnen in
diesen Tagen?
Pappermann: Man lernt, nicht auf die Emotionen
zu achten, man kann das richtig trainieren. Ein
Polizeibeamter, der erfüllt seinen Auftrag. Er tut
einfach, was ihm aufgetragen wird. Eine unange­
meldete Demo wird aufgelöst, das war die Rechts­
lage, und nach der Rechtslage wurde gehandelt.
ZEIT: Haben Sie nicht darüber nachgedacht, ob
diese Tausende von Menschen vielleicht Grund
haben zu demonstrieren?
Pappermann: Wenn man einer Spezialeinheit an­
gehört, wird man theoretisch auch in Situationen
geschickt, in denen man sterben kann. Wenn man
anfängt, darüber nachzudenken, kann man gleich
aufhören, und deshalb denkt man nicht nach.
Aber klar, unter uns Neunern, da haben wir schon
Sachen gesagt wie: »Die Chinesen, die haben doch
nicht mehr alle Latten am Zaun.«
ZEIT: In Peking hatte sich im Juni 1989 das Massa­
ker auf dem Platz des Himmlischen Friedens ereig­
net, und die DDR­Führung hatte das Vorgehen der
chinesischen Machthaber für gerechtfertigt erklärt.
Und unter diesen Vorzeichen trafen Sie beide am


  1. Oktober auf ein an der ...
    Richter: Es war eine bedrohliche Situation. An den
    Tagen zuvor hatte ich beobachtet, was passierte,
    wenn Menschen eingekesselt waren. An diesem
    Abend war ich selbst plötzlich von Polizisten um­
    geben. Sie trugen Schlagstöcke und Schilde, Hunde
    bellten ... Aber ich hatte mir schon davor vorge­
    nommen: In so einer Situation würde ich wenigs­
    tens versuchen, mit den Polizisten zu reden.
    ZEIT: Wie kamen Sie darauf, dass man mit Wor­
    ten etwas ausrichten konnte?
    Richter: Ich kann nicht jeden Tag in der Kirche
    von Frieden und Versöhnung predigen und so et­
    was dann nicht wenigstens probieren. Also sprach
    ich die Polizisten der Reihe nach an, von links nach
    rechts, und alle schauten auf die Erde, keiner wollte
    mich ansehen. Ich hatte es bestimmt bei 20 Polizis­
    ten versucht, bis ein kleiner, etwas beleibter Mann
    auf mich zukam.
    Pappermann: Das war der Oberstleutnant, der war
    mit seinen Leuten aus Halle angereist, weil wir an
    unser Limit gekommen waren. Der meinte dann
    zu mir, ob ich vielleicht mit Frank reden wolle.
    ZEIT: Was war Ihr erster Eindruck von ein an der?
    Pappermann: Na, man sah gleich: Das ist ein
    Geistlicher – Frank trug ja eine Soutane.


Richter: Nein, um Gottes willen, nur ein schwar­
zes Hemd mit weißem Kragen. Aber es stimmt,
ich war klerikal gekleidet.
Pappermann: Dein Freibrief.
Richter: Ein gefühlter Schutz. Bevor sie einen
Pfarrer verprügeln ... Ich will hier nicht den Ge­
fühlsbolzen raushängen, aber als ich dich sah,
wusste ich sofort: Mit dem kannst du reden.
ZEIT: Und was genau haben Sie zu Herrn Papper­
mann gesagt?
Richter: Das waren nur wenige Sätze: Ich glaube,
Sie wollen keine Gewalt, und die Leute hier wollen
auch keine. Lassen Sie die Demonstranten ihre
Forderungen formulieren. Rufen Sie Oberbürger­
meister Wolfgang Berghofer an, und ich rede so­
lange mit den Demonstranten.
Pappermann: Das mit Berghofer, das war aber
meine Idee.
Richter: Tja, das ist eine Sache, in der sich unsere
Erinnerungen unterscheiden.
Pappermann: Na ja, auf jeden Fall habe ich gesagt:
Gut, dann geh mal zurück und sag mir dann, was
genau die Forderungen der Demonstranten sind.
Richter: Und dann passierte etwas Märchenhaftes.
Ich bin auf einen Brunnen gestiegen, der laut
rauschte, aber sobald ich anfing zu sprechen, hörte
das Wasser auf zu fließen. Da gab es den ersten
Applaus. Ein irrer Moment. Ich habe das später
beim Grünflächenamt recherchiert. Es war wohl
20.30 Uhr, und da schaltete sich dieser Brunnen
immer automatisch ab. An diesem Abend war das
eine tolle Symbolik. Mein Freund Andreas Leusch­
ner und ich haben schnell eine Gruppe für das Ge­
spräch mit dem Oberbürgermeister gebildet, die
später die Gruppe der 20 genannt wurde. Da wa­

ren Junge und Alte, Frauen und Männer und
Menschen mit möglichst verschiedenen Berufen.
Und dann haben wir Themen gesammelt. Das
Erste, was ich hörte, war wie ein einziger lauter
Schrei: Reisefreiheit! Das hat die Menschen am
meisten bewegt. Aber dann kamen auch Pressefrei­
heit, Demonstrationsfreiheit, Freilassung der poli­
tischen Gefangenen. Von wegen, die Leute wollten
nur die Banane. Ich werde stinksauer, wenn ich das
höre. Die Leute wollten bürgerliche Freiheitsrech­
te. Klar, die Banane wollten sie auch, aber es war
nicht nur eine Wohlstandsgeschichte.
ZEIT: Und am nächsten Morgen hat diese Gruppe
der 20 ihre Forderungen dem Dresdner Ober­
bürgermeister vorgetragen. Weil in den Tagen zu­
vor viele Demonstranten festgenommen worden
waren, war das erste Zusammentreffen dieser Art
umso ungewöhnlicher.
Richter: Dazu wäre es nie gekommen, wenn es
nicht auf der anderen Seite der Barrikade, bei den
Polizisten, vernünftige Leute gegeben hätte.
ZEIT: Damit meint er wohl Sie, Herr Pappermann.
Es ist schon erstaunlich. Andere haben geknüppelt,
und Sie ...
Pappermann: ... ich habe einfach meine Aufgabe
erfüllt.
Richter: Du hast mal gesagt, dass du die Schnauze
voll hattest.
Pappermann: Ja, das hatte ich auch. Wenn man je­
den Tag hin und her düst, in der Dienststelle schläft
und das Wort Familie nur noch aus dem Duden
kennt, dann hat man irgendwann die Graupen di­
cke, das ist sächsisch für: Ich habe keinen Bock
mehr. Und da kommt mit einem Mal so eine Mög­
lichkeit ... Die Option, die Menge aus ein an der zu­
trei ben, die hatten wir ja weiterhin, aber ich wollte
diesen friedlichen Weg zumindest versuchen.
ZEIT: Ihr Zusammentreffen bezeugt, dass es sich
lohnt, Feindkontakt aufzunehmen. Heute gibt es
sehr viele unversöhnliche Lager, und Verständi­
gung scheint fast unmöglich.
Richter: Die DDR litt als Staat darunter, dass öf­
fentlicher Streit unterdrückt war. Die heutige Ge­
sellschaft leidet darunter, dass öffentlicher Streit
hemmungslos geworden ist.
Pappermann: Dafür ist das Verhältnis zwischen
Politikern und Bürgern besser geworden. Heute
reagiert man auf Menschen, die unzufrieden sind,
geht hin, hört zu. Das war in der DDR nicht so,
da hat man die Bürger einfach ignoriert. Demo­

kratie ist nicht einfach, aber Diktatur war noch
schlimmer.
ZEIT: Was hat Ihnen damals geholfen, eine Ebene
mit ein an der zu finden?
Richter: Ich glaube, wir waren schon damals zwei
ziemlich starke, in sich ruhende Persönlichkeiten,
die keine Angst davor hatten, auf den anderen zu­
zugehen.
Pappermann: Ein Wagnis ist es immer, mit ein an­
der zu streiten. Viele verstehen ja nicht mehr, was
das bedeutet. Beide Seiten müssen dem anderen
wirklich zuhören, seine Gedanken aufnehmen
und davon ausgehen, dass er vielleicht gar nicht so
unrecht hat.
Richter: Wir leben alle in unseren argumentativen
Heimaten. Dort fühlen wir uns gedanklich sicher.
An dem Punkt, wo wir uns fremden Argumenten
öffnen, setzen wir uns einer anderen Welt aus. Das
ist anstrengend und macht gelegentlich Angst.
Aber ich glaube: Auch wenn ich nicht mit jedem
über jedes Thema reden kann, ist es mir doch
möglich, mit fast jedem Menschen bei einer güns­
tigen Gelegenheit über ein gemeinsam gefundenes
Thema zu reden.
Pappermann: Ich hatte damals eigentlich nur ein
Problem: Wie erkläre ich es meinen Chefs?
ZEIT: Manche sagen, Sie hätten einen Bürgerkrieg
in Dresden verhindert und den weiteren Gang der
Ereignisse entscheidend beeinflusst.
Pappermann: Das kann schon sein.
Richter: Es lag aber nicht allein an uns. Wolfgang
Berghofer hat auch eine wichtige Entscheidung
getroffen. Bei ihm saßen zur selben Zeit der evan­
gelische Bischof und zwei Pfarrer im Büro und
versuchten, ihn zu überzeugen. Das haben wir
aber erst später erfahren. Das ist das Schöne an
diesem 8. Oktober in Dresden, dass an völlig ver­
schiedenen Orten völlig verschiedene Menschen,
ohne von ein an der zu wissen, nahezu zeitgleich be­
gannen, etwas Neues zu versuchen.
Pappermann: Wie unglaublich es ist, was an die­
sem Tag passiert ist, habe ich erst so richtig ver­
standen, als sich die Demo auflöste, Demonstran­
ten und Polizisten aus ein an der gin gen und es
plötzlich keine Trennung mehr zwischen uns gab.
Meine Söhne sagen mir heute noch: Papa, das war
der Hit, was du am 8. Oktober gemacht hast.

Moderation:
Verena Friederike Hasel und Doreen Reinhard

Frank Richter war 1989 Kaplan in Dresden. Er wollte Versöhnung nicht nur predigen.
Deshalb ging er auf einen Polizisten zu. Heute sitzt er für die SPD im Sächsischen Landtag

Detlef Pappermann war in der DDR Polizist bei einem Spezialeinsatzkommando.
Er wollte nicht auf die eigenen Bürger schießen – und sprach mit dem Pfarrer

Fotos: Gene Glover für DIE ZEIT; kl. Foto: David Adam

Im Oktober 1989 droht in Dresden die Friedliche
Revolution in Gewalt umzukippen

Dresden im Herbst 1989: Ein Pfarrer und ein Polizist stehen sich


als Feinde gegenüber. Dann passiert etwas Unerhörtes


»Etwas Wichtigeres ist mir im


Leben nicht passiert«


10 10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42

Free download pdf