Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

6 DIE ZEIT 42/19


Mein Norwegisch wird alt, ich bin aus der Zeit
gefallen, mein ganzes Norwegen existiert
nicht mehr. Englische Begriffe und englische
Grammatik haben sich in das heutige Norwe-
gisch eingeschlichen. Norweger sehen Filme
und Serien ohne Synchronisierung. Das Land
hat sich gewaltig verändert.
ZEIT: Was hat sich verändert?
Hustvedt: Meine Eltern trafen sich um 1950
an der Uni von Oslo, im Amerikanischen
Club. Damals dachten Norweger, alle Ame-
rikaner seien reich. Die norwegische Kultur
war hartherzig und viel gleichförmiger als
heute.
ZEIT: Heute leben viele Migranten dort.
Hustvedt: Aber im alten Norwegen? Ha! Ich
erinnere mich an eine einzige schwarze Ame-
rikanerin, die mit einem Norweger verheiratet
war. Die Kultur ist heute internationaler, viel-
seitiger, und das Land ist sehr viel reicher. Die
Menschen sind dicker. In meiner Kindheit
waren Norweger dünn.
ZEIT: Wir müssen über Karl Ove Knausgård
reden.
Hustvedt: Müssen wir.
ZEIT: Sie haben hier oder da Witze über
Knausgård gemacht.
Hustvedt: Ich kenne ihn nicht. Also, ich bin
eine Bewunderin.
ZEIT: Wirklich?
Hustvedt: Nun ja, nicht von allem, was er
schreibt. Das liegt in der Natur des Projektes:
Wenn jemand so viel schreibt, über alles
schreibt, was ihm widerfährt, kann nicht alles
toll sein. Einiges muss schrecklich sein. Und
manchmal posiert er auch bloß als Philosoph.
Es gibt jedoch Passagen, etwa im letzten Band,
als er das Haus seiner Mutter aufräumt, die
atemberaubend sind.
ZEIT: Sie hätten gekürzt?
Hustvedt: Es ist automatisiertes Schreiben.
Die Idee ist: nicht zu überarbeiten, nicht zu
redigieren. Alles muss hinaus aufs Papier,
nichts wird zensiert. Und dann steht da eben,
dass es unmännlich sei, einen Koffer zu rollen.
Wer hätte das gedacht? Ich wäre nicht darauf
gekommen, so sensibel zu sein, eine der größ-
ten Erfindungen der modernen Zeiten außer-
halb moderner Maskulinität einzuordnen.
ZEIT: Verstehe ich Sie richtig: Eine Frau hätte
diese sechs Bücher nicht geschrieben?
Hustvedt: Eine wunderbare Kollegin von mir
hat zehn Jahre lang gearbeitet, um am Ende
einen schmalen, bezaubernden Roman zu
voll enden – während ihr ständig irgendwelche
Männer 1000-Seiten-Werke zu lesen gaben.
Ja, Frauen zähmen sich.
ZEIT: Weil sie nur dann eine Chance haben?
Hustvedt: Weil sie ansonsten bestraft werden
und beschuldigt werden, narzisstisch oder ag-
gressiv zu sein. Wenn eine Frau ihren Kopf

eben nordische. Ich liebte die nordische My-
thologie, die mich aus dem gewöhnlichen
Leben forttrug.
ZEIT: Beschlossen Sie aufgrund der norwegi-
schen Literatur, Schriftstellerin zu werden?
Hustvedt: Ich beschloss es in Island, aber ich
kam gerade aus Norwegen. Ich war zwölf
Jahre alt und in der siebten Klasse der Steiner-
Schule, da klickte etwas. Jane Austen und
Charles Dickens kamen in mein Leben. Ich las
nächtelang David Copperfield und stand in
Reykjavík an meinem Fenster und wusste,
dass ich schreiben wollte. Erinnerungen sind
bewegliche Dinge, aber ich erinnere mich
exakt an die Schatten in jenem Raum.
ZEIT: Sie mögen Fenster wirklich sehr, nicht
wahr? Schon in der Verzauberung der Lily
Dahl, einem Ihrer frühen Romane, ist der
Blick aus dem Fenster wichtig.
Hustvedt: Fenster begrenzen den Blick, wie
die Rahmen von Gemälden. Ja, ich mag
Fens ter.
ZEIT: Ihr Vater war Ibsen-Experte. Waren
auch die Dramen Henrik Ibsens Teil Ihrer
Kindheit?
Hustvedt: Ja. Als Teenagerin war mir vieles
von diesem norwegisch-amerikanischen Kultur-
zeugs zu bombastisch ... aber Ibsen war immer
da. Was für ein außerordentlicher Autor! Diese
Fähigkeit, all diese Dimensionen in sehr wenig
Zeit auf sehr engem Raum zu entwerfen!
ZEIT: Ihr liebstes Ibsen-Stück?
Hustvedt: Hedda Gabler. Als mein Vater
starb, wollte er mit mir über Hedda Gabler
sprechen.
ZEIT: Was für ein Charakter; ich meine
Hedda Gabler.
Hustvedt: Ja, die Kraft, die Zerstörung. Ibsen
konnte Frauen entwerfen. Es gibt viele große
männliche Autoren, die keine Frauenrollen
schreiben können. Nehmen Sie Dickens: Jedes
Mal, wenn er über eine aufregende Frau
schreibt, wird’s fürchterlich, dann zerfällt der
Meister in 1000 Stücke.
ZEIT: Wer steht für Sie neben Ibsen?
Hustvedt: Der Maler Edvard Munch und der
frühe Knut Hamsun. Ich bin kein großer Fan
der triefend romantischen späten Hamsun-
Romane, aber Hunger ist das Werk eines Ge-
nies. Und Olav H. Hauge ist mein liebster
norwegischer Dichter. Er war ausgebildeter
Gärtner, man kann ihn kaum übersetzen:
Hauge ist zu subtil, er mixt archaisches Nor-
wegisch mit Dialekten.
ZEIT: Und doch ist eines seiner Gedichte zum
Motto der Buchmesse geworden: »Das ist der
Traum, den wir tragen, dass etwas Wunder-
bares geschieht.«
Hustvedt: Oh, das wusste ich nicht. Es ist
eines seiner berühmten Gedichte: Det er den
draumen. Das Deutsche klingt vielleicht ja


ähnlich musikalisch wie das Norwegische und
kann Verse wie »at tidi skal opna seg« aufneh-
men: »dass die Zeit sich öffnet«.
ZEIT: Lesen Sie norwegische Gegenwarts-
autoren?
Hustvedt: Einige. Ich habe gerade Linn Ull-
manns Roman Das Verschwiegene gelesen und
sehr gemocht. Ich verehre das Eis-Schloss von
Tarjei Vesaas, das ist aber über 50 Jahre alt.
Wenn die norwegische Sprache exzellent ein-
gesetzt wird, ist ihr Rhythmus traumgleich.
ZEIT: Sie sind die Tochter einer Norwegerin
und eines Amerikaners, der norwegische Ge-
schichte und Literatur lehrte. Haben Ihre El-
tern das mit Leichtigkeit hingekriegt: die
zweisprachige Erziehung?
Hustvedt: Es war ein bisschen kompliziert.
Meine Mutter sagt, dass ich Englisch wieder
vergessen hätte, als wir in Norwegen lebten. Als
ich zum zweiten Mal in Norwegen war, kam
dann das Norwegische einfach zu mir zurück,
es war magisch. Erst nach diesem zweiten Trip
habe ich beide Sprachen gepflegt und geliebt.
Und hier kommt der lustige Teil: Heute bin ich
64 Jahre alt ... (sie pausiert, kichert)
ZEIT: ... ja, bitte?
Hustvedt: Ich glaube das noch gar nicht. 64?
Also (nun laut und entschlossen), ich bin 64.

SIRI HUSTVEDT
wurde 1955 in Minnesota als Tochter einer
Norwegerin und eines amerikanischen
Professors für norwegische Geschichte
geboren. 1982 heiratete sie den
Schriftsteller Paul Auster; sie lebt in New
York. Zu ihren bekanntesten Romanen
gehören »Die unsichtbare Frau« (1993),
»Die Verzauberung der Lily Dahl« (1997)
und »Was ich liebte« (2003)

Foto: Spencer Ostrander
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