DIE ZEIT 42/19 7
reckt, wird er schnell abgeschlagen. Meine
Kühnheit des Alters liegt in diesem einen Satz:
Schlagt ihn ab!
ZEIT: Und wahre Kunst ist Verdichtung?
Hustvedt: Es gibt diese Momente seltener Ge-
schenke, wenn eine Passage sofort stimmt und
leuchtet: So wie sie ist, genauso muss sie sein.
Meistens aber ist es anders.
ZEIT: Hat Knausgårds Weltruhm Norwegens
Literatur verändert?
Hustvedt: O ja, es gab keine Tradition der
Lebens- oder Elendsbeichten, die Norweger
schätzen Diskretion, Wortkargheit, auch Ta-
bus. Es war keine Gesellschaft der Offenheit,
eher eine Schamkultur. Und nun, plötzlich:
ein Geständnis nach dem anderen, Inzest, Sex,
Familiendramen – weil alle Autoren wie
Knausgård sein wollen.
ZEIT: Sind gute dabei?
Hustvedt: Natürlich, meine Bemerkung
sollte kein Qualitätsurteil sein. Eine Tür
ist geöffnet worden: Knausgård hat die
Schamkultur offengelegt. Für Norwegen
waren seine Bücher wie ein Mann, der in den
Park kommt, sich auszieht und zu heulen
beginnt.
ZEIT: In Deutschland ist Jostein Gaarder sehr
bekannt. Nehmen Sie den ernst?
Hustvedt: Ich habe Sofies Welt gelesen, es war
ein Welterfolg, Philosophie für Kinder, sehr
charmant.
ZEIT: Wir haben vorhin über die Verände-
rung Norwegens gesprochen. Was hat sich
nicht verändert?
Hustvedt: Das moderne Norwegen wurde in
der Ära der Romantik gegründet. Das hatte
mit Natur zu tun, Norwegens Wäldern, Ber-
gen und Schluchten, den Seen, dem Meer,
und all das ist wichtig für die norwegische
Identität geblieben: Die Menschen wandern,
fahren Ski, gehen spazieren. Das Licht im
Juni lässt deinen gesamten Körper leuchten,
und auch die Finsternis der Winter wirkt auf
die Menschen. Damals, als ich Schülerin war,
hörte im Winter meine Periode auf. Der Arzt
sagte: Das ist die Dunkelheit. Wenn das
Licht zurückkommt, wird alles wieder gut
sein. Es stimmte. Wenn das Licht zurück-
kommt, gibt es wilde Beeren, und Feste wer-
den gefeiert.
ZEIT: Ist Norwegen ein robustes, ein selbst-
bewusstes Land in diesen fragilen Zeiten?
Hustvedt: Das Gefühl der Ordnung, der
Stabilität ist da. Und die Investitionen in das
kollektive und öffentliche Leben sind sehr viel
größer als in den Vereinigten Staaten. Norwe-
gen fühlt sich warm an.
ZEIT: Gesünder als Donald Trumps USA?
Hustvedt: O ja, viel gesünder. Es ist ja in
vielen Studien bewiesen worden, dass eine un-
gleiche Gesellschaft wie in den USA oder
Großbritannien, verglichen mit den gerechtes-
ten Gesellschaften in Skandinavien, sehr viel
ungesünder ist – für alle Menschen. Der
Stress-Level, wenn man 2019 in den USA lebt,
ist hoch ... sehr, sehr hoch.
ZEIT: Ist Norwegen Heimat für Sie?
Hustvedt: Es ist der Ort der Erinnerungen
meiner 96-jährigen Mutter. Auch der meiner
eigenen Erinnerungen.
ZEIT: Ihre Mutter lebt hier, in den USA?
Hustvedt: Ja, und wenn sie stirbt, möchte sie
verbrannt werden, und sie wünscht, dass ich
die Hälfte ihrer Asche nach Norwegen bringe;
und die andere Hälfte soll in Amerika neben
meinem Vater bestattet werden.
ZEIT: Was für eine Aussage.
Hustvedt: Nicht wahr? Das sagt, wer wir sind.
Ich habe immer gefühlt, dass ich Zugang zu
einer Art doppelten Bewusstseins hatte, zu
mehr als einer Kultur. Es gibt viele Sicht-
weisen, und es gibt in jeder Sprache Wörter,
die in anderen Sprachen nicht existieren.
ZEIT: Können Sie das erklären?
Hustvedt: Du kannst in der einen Sprache
etwas sagen, wofür es in der anderen Sprache
nur Schweigen gibt. Im Deutschen gibt es
wundervolle philosophische Wörter: Zeit-
geist, Weltschmerz. Und im Norwegischen
gibt es ein Wort, das beschreibt, wie ein
Mensch ist, dem ich begegnet bin: vesen. Die
inneren Eigenschaften des Menschen und die
Seele sind gemeint.
ZEIT: Das Wort haben wir auch: Wesen. Es
meint den Charakter, nicht Äußerlichkeiten.
Denken Sie manchmal darüber nach, nach
Norwegen auszuwandern?
Hustvedt: Als Trump gewählt wurde, dachte
ich, wir müssen kämpfen. Nun müssen wir
die kommende Wahl abwarten. Sagen wir es
vorläufig so: Norwegen ist ein wundervolles
Land.
ZEIT: Und ist es in Ihrem Leben ständig
präsent?
Hustvedt: Immer. Ich habe reiche Erinnerun-
gen: Ich erinnere mich an den Duft warmer
Orangen, die im Winter in einer Schale lagen;
und ans Skifahren in den Bergen, überhaupt an
den ganzen Schnee. Und, ach ja, an Essen. Es
gibt ein Gericht namens Bolle, das war ein sü-
ßes, rundes Gebäck mit Rosinen – es rührt
mich zutiefst, wenn ich eine Bäckerei betrete
und den Geruch wiederentdecke. Meine Fami-
lie feierte den 17. Mai, der für die Unterzeich-
nung der ersten norwegischen Verfassung steht.
ZEIT: Ein großer Feiertag in Norwegen?
Hustvedt: O mein Gott, Sie haben ja keine
Ahnung. Wenn Norwegen ein großes Land
wäre, wäre sein Chauvinismus nicht auszu-
halten. Aber so geht’s. Dieses Land, das jahr-
hundertelang unter dänischer, dann unter
schwedischer Kontrolle war, hat sich 1905
selbst auf friedliche Weise von Schweden fort-
gezogen. Da Norwegen nun einmal nicht
Amerika ist, macht das bisschen Stolz sogar
Freude.
ZEIT: Umfasst Norwegens Stolz auch seine
Literaturnobelpreisträger?
Hustvedt: Selbstverständlich.
ZEIT: Können Sie sie alle benennen?
Hustvedt: Mir fällt Sigrid Undset ein, die
1928 gewann. Wer noch?
ZEIT: Ich weiß es nur, weil ich die Frage vor-
bereitet habe: zwei weitere noch.
Hustvedt: Oh, Knut Hamsun natürlich.
ZEIT: Ja, 1920 für Segen der Erde. Und
Bjørnstjerne Bjørnson, 1903.
Hustvedt: Ja, klar. Bjørnson ist noch immer
eine große Figur und zählt mit Ibsen und Jonas
Lie und Alexander Kielland zu den Übervätern
der norwegischen Literatur, sie heißen »die
großen Vier«.
ZEIT: Ist Literatur wichtig in Norwegen?
Hustvedt: Wichtiger als in Amerika, zweifel-
los. Die Zeitungen haben noch Kulturteile.
Norwegens Büchereien kaufen 1000 Exem-
plare jedes Buchs eines norwegischen Autors.
Das fördert die Autoren, das ist ein Grund-
stock ihres Einkommens. In den USA garan-
tiert niemand dir irgendetwas, die Armut ge-
hört hier zur Natur des Künstlers.
ZEIT: Ihre Tochter, Sophie Auster, ist eben-
falls Künstlerin, sie macht Musik. Wahrt sie
das Familienerbe, spricht sie Norwegisch?
Hustvedt: Nein. Aber sie kann wunderschöne
norwegische Lieder singen.
»Wenn Norwegen ein großes Land wäre, wäre sein
Chauvinismus nicht auszuhalten. Aber so geht’s«
SIRI HUSTVEDT