Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

BELLETRISTIK


Der vergessene Sohn


Komisch und tragisch zugleich: David Wagner erzählt in seinem Roman von


der Demenzerkrankung eines einst starken, nun schwachen Vaters


VON HUBERT WINKELS

W


as machst du denn
hier, Freund?«, »Auf-
stehen, Freund!«,
»Wo her kommst du,
Freund?« – in solch
wörtlicher Rede be-
ginnen fast alle der
neun Kapitel im neuen Buch von David Wag-
ner. Es spricht der Vater in seinem Zuhause am
Rhein, erst noch im großen Haus in Mecken-
heim bei Bonn, später im Altenpflegeheim di-
rekt am großen Fluss, mit Blick auf den Dra-
chenfels. Die sozialen Verhältnisse sind kom-
fortabel, man kann sich alles erlauben, was es
braucht, um kleinere Beschädigungen des Al-
ters abzufedern.
Das Buch setzt nach der Beerdigung der
zweiten Frau des Vaters ein, Claire, mit der
er dreißig Jahre verheiratet war. Sein Sohn,
der Icherzähler, der David heißen darf, bringt
ihn zurück in sein Haus. Der Vater hebt an zu
sprechen, der Sohn trägt dem Vergesslichen
die fehlenden Teile seiner Erinnerung nach.
Von der direkten Rede lebt der Roman ganz
und gar, vor allem von der dementen Rede
des Vaters. Sie erzeugt eine elementare seman-
tische Unschärfe, die aus klassischen Fehl-
leistungen besteht: Verwechseln, Auslassen,
Wiederholen. Anders als in früheren Büchern
von David Wagner muss die flackernde Kon-
sistenz der Welt nicht aus ihrer scheinbaren

Stabilität herausgearbeitet werden, sondern
der Erzähler vergewissert Vater und sich selbst
der elementaren Fakten und Bedeutungen:
»So war das, Papa!«
In dieser Hinsicht haben wir es mit einem
gezielten Zurückdrehen der Wagnerschen
Erzählschraube zu tun. Vom ersten Roman
Meine nachtblaue Hose (2000) bis hin zu den
dinglich-seriellen Exerzitien über die Auslagen
eines Supermarkts (Vier Äpfel, 2009) oder
über Hotelzimmer in aller Welt (Ein Zimmer
im Hotel, 2016) dienten die immer genaueren
Beschreibungen der Dinge auch der Geschich-
te, die in ihnen gefangen ist – sowie dem per-
sönlichen Assoziationsraum, den sie öffnen.
Im Vergesslichen Riesen nun muss zunächst die
Welt des Vaters sachlich stabilisiert, müssen
Raum und Zeit identifiziert werden, und bei
Ausflügen in die Vergangenheit werden die
Erinnerungen von Vater und Sohn gesprächs-
weise abgeglichen. Der Demenzroman ent-
puppt sich dabei als unterhaltsam, manchmal
spannend und vor allem komisch.
Wie kommt das? Zunächst daher, dass
David Wagner den krankheitsinduziert be-
schädigten Diskurs widerspiegelt. Er lässt die
Irrtümer und Abseitigkeiten der Rede stehen,
und vor allem nutzt er die vom Vergessen er-
zwungene Wiederholung der immer gleichen
Vater-Äußerungen als strukturierendes Form-
prinzip seiner Prosa. Und bald hat er den Le-

ser so weit, dass der schon zu wissen glaubt,
was der Vater, ein gebürtiger Dublany, gleich
sagen wird, zum Beispiel wenn er wieder der
Vergesslichkeit überführt wird: »Tante Gretl
hat gesagt, die Dublany sind sehr intelligent,
im Alter aber werden sie alle blöd.«
Gut zwanzigmal lesen wir diese Karika-
tur einer Selbstreflexion und würden sie leise
mitsingen, wenn wir nicht verhalten lachen
müssten – auch deshalb übrigens, weil man
zwischen Belustigung, Respekt und Pietäts-
gefühlen schwankt. Schon diese Spannung
macht die Lektüre zu einer sozialpsycholo-
gischen Einübung in den Umgang mit de-
menten Menschen, die wir in einer immer
älter werdenden Gesellschaft brauchen. Bei
Arno Geigers Der alte König in seinem Exil
hatten wir es mit der Aufgabe zu tun, einen
schwereren Fall von pathologisch gestörter
Kommunikation aus der Perspektive des
Sohnes staunend auf seine insularen mensch-
lichen Exzentrizitäten abzuhören. Bei David
Wagners Demenz verarbeitender Prosa blei-
ben wir näher an der sprachlichen Fassung
der Alltagserfahrung und damit an einer bei-
nahe schon üblich werdenden sprachlichen
und kognitiven Realitätsverzerrung im Alter,
deren Auffälligkeiten man gelegentlich als
antiorthodox bejahen möchte.
Sohn David reist im Verlauf der vier, fünf
Jahre, von denen er erzählt, achtmal nach

Familievergeht nicht.


EinemitfeinerIronieerzählteFamiliengeschichte,


diedieunsereseinkönnte.ÜberdenKonflikt


zwischenBabyboomern undMillennials,über


dieKraft vonfamiliärenBanden,
überGlaubeundVernunft,
Privi legienundPolitik–
und überdieFrage,
waseskostet,einguter
Menschzusein.

An drew Ridk er kommtauf Leser eise:
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24.Oktober, Salzburg,Li te raturhaus
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Li te rarischesZentrum

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die die unsere sein könnte. Über den Konfl ikt


zwischen Babyboomern und Millennials, über


die Kraft von familiären Banden,


über Glaube und Vernunft,


Privilegien und Politik –


und über die Frage,


was es kostet, ein guter


Mensch zu sein. Ro


man

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it en

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