Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1
Bonn, mal kommt er aus Berlin, mal aus Is-
tanbul, mal muss er weiter nach China. Meist
kommt er im Hochsommer und in der Weih-
nachtszeit. Er hat ein dem Vater fernes eigenes
Leben, von dem wir wenig erfahren. Wenn er
beim Vater ist, ist er ganz für ihn da. Er hört
zu und korrigiert ihn sanft und geduldig. Das
klingt kaum einmal pädagogisch herablassend
und zeugt eher von stiller Zuneigung. Auf
diese Weise kommen Vater und Sohn ein gan-
zes Stück voran in Organisation und Bewälti-
gung des Alltags. Vieles läuft übers Essen und
über kurze Reisen in vertraute Gegenden wie
Andernach oder Maria Laach in der Eifel. Und
sie erobern dabei auch Bruchstück für Bruch-
stück die eigene Familiengeschichte bis in ihre
historischen Dimensionen hinein.
Nach und nach verschiebt sich so der
Schwerpunkt der Lektüre. Wie nebenbei er-
fahren wir von der Nazi-Begeisterung der
aus Österreich stammenden Großeltern, der
wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte des Groß-
vaters, eines Hitler-Vertrauten, seiner Gefan-
genschaft in Nürnberg, wir lesen von seinen
neun Kindern und deren Kindern.
Intensiver noch schält sich ein anderer
Schwerpunkt heraus: die Beinahe-Nicht-
existenz der Mutter des Erzählers, der ersten
Frau des schwach gewordenen Vaterriesen.
Diesem gelingt es so gut wie nie, die Mutter
seines Sohnes zu erinnern, nicht mal an ih-
rem Grab stehend, zu stark wirken zeitliche
Nähe und spezifisches Gewicht seiner zweiten
Frau Claire. An diesen Punkten spürt man
deutlich, dass der Erzähler-Sohn mit seinem
eigenen Leben, seinen Wünschen und Erin-
nerungen stärker ins diskursive Spiel kommt:
Schön und gut und großartig ist ihm, gegen
die Ignoranz des Vaters, die eigene Mutter, die
er als Jugendlicher durch eine Krebskrankheit
verloren hatte.

David Wagner:
Der vergessliche Riese
Rowohlt, Hamburg 2019;
272 S., 22,– €, als E-Book 19,99 €

Hier zeigt das Buch, von dem David
Wagner im Gespräch sagt, der Verlag habe
versäumt, »Roman« auf den Umschlag zu
schreiben, seine meisterliche Machart. Ster-
bend hatte die Mutter ihre beste Freundin
mit ihrem Mann in die Oper geschickt, zu
Tristan und Isolde. Im zweiten Aufzug dann
passierte, worauf sie es wohl abgesehen hat-
te: Der Frauenschwarm verfiel der Freundin

Claire. Der in Bayreuth aufgewachsene Vater,
gerne Wagner-Verse singend, vollzog den
Frauentausch so perfekt, dass der Erzähler
später nicht mehr mit ihm zusammen zur
leiblichen Mutter vordringt. Ein Drama, zu
dem ein weiteres hinzukommt: Niemals in-
teressierte sich der väterliche Riese für die
Familie des Sohnes. Ganz am Ende des Buchs
erhält dieser Schmerz doch noch einen star-
ken Ausdruck. Eine Weile nach der Ankunft
des Sohnes im Pflegeheim sagt der Vater mit
Blick auf einen Zettel, der den Besuch seines
Sohnes ankündigt:
»Sieh an, ich bekomme also Besuch, wie
schön!«
»Er ist schon da, dein Besuch, ich bin dein
Besuch. Ich bin dein Sohn!«
»Stimmt. Du bist das ja. Hatte ich kurz
vergessen«, sagt er und schaut mich an, als ob
er sich nicht ganz sicher wäre.
Und kurz darauf die letzten Sätze des
Buchs, Sohn und Vater in einem schwimmen-
den Chinarestaurant auf dem Rhein:
»Das Wasser ist so schwarz. Alles so dun-
kel da draußen.«
»Wie heißt der Fluss noch mal? Und jetzt
weiß ich wieder, was ich dich fragen wollte,
Freund: Wer sind eigentlich deine Eltern?«
Das ist das letzte Wort des Vaters, der
seinen Sohn an hundert Stellen nie anders als
mit »Freund« angesprochen hatte. Die stille
Komik dieses Vaterromans ist genauso groß
wie seine stille Tragik.

»Mein Vater, bisher


war er still, wundert


sich über die Route,


die der Taxifahrer


eingeschlagen hat,


und verdächtigt ihn,


Umwege zu fahren«


DAV I D WAGN E R

Foto: Linda Rosa Saal

43 2Seiten.Gebunden mitLesebändchen
AuchalsE-Book.hanser -l iteraturverlage.de

JACKIE


THOMAE


SHORTLIS T–

DEUTSCHER BUCHPREIS

»Brüderist wirklicheine große deutsche
Neuigkeit:Ein Roman, dervonHerkunftund
nicht-weißer Identität erzählt, ohne seine
Formen undFragenvondiesem Thema
abhängig zu machen.«
Marie Schmidt,Süddeutsche Zeitung


Foto:©UUUrbanZintel HANSERBERLIN
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