DIE ZEIT 42/19 15
Dath: Ja. Literaturkritik versteht etwas falsch,
wenn sie sagt: In der Dystopie wird gewarnt und
gemahnt. Es geht um die pure Freude daran, zu
wissen: Ein Teil von dem, was ich hier erfinde,
ist schlecht und kaputt!
Berg: Ich glaube, mein Roman ist in der Sci-
ence-Fiction-Sparte eh falsch. Teile spielen in
der Gegenwart oder in der nahen Vergangen-
heit, manches ist sogar schon wieder überholt,
was ich schildere. Beim Schreiben habe ich
viele technische oder wissenschaftliche Se-
quenzen gestrichen, weil ich geahnt habe, dass
sie bei der Veröffentlichung bereits überholt
sein würden. Ein Hoch auf die exponentielle
Beschleunigung!
Dath: Für mich ist Science-Fiction gar nicht
Zukunft, sondern die Frage: Was könnte eigent-
lich alles sein? Was ist variabel an dem Zustand
der Welt, wie er jetzt ist, und was ist womöglich
invariant? Sibylle, in deinem Buch steht der
geilste Satz überhaupt, ich hätte mir echt die
letzten vierhundert Seiten meiner Theorie spa-
ren können, wenn ich den schon gekannt hätte:
»Nach dem Brexit war ein wenig Ruhe gewe-
sen.« Das ist super, weil die Zeit hier durch ein-
an der ge bracht wird. Das liest ja jemand, als
noch gar kein Brexit war, vielleicht kommt auch
gar keiner mehr. Das ist Science-Fiction: Diese
Kompliziertheit der Zeitverhältnisse, die nicht
so linear sind, wie manche das gerne hätten.
Im September trafen wir
Dietmar Dath und Sibylle Berg
in Zürich zum Gespräch