Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

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BELLETRISTIK


DIE ZEIT 42/19

ZEIT: Frau Berg, was hat Sie daran gereizt, sich
in Ihrem Buch den Verfall der westlichen Welt
auszumalen? War das auch Angstlust?
Berg: Angstlust ist so was wie Schmerzlust bei
Tattoosüchtigen, das ist nicht meins. Ich habe
aber Freude daran, wenn man sieht, was sonst
immer verdeckt wird. Das Verdeckte macht mir
Angst. Mich lassen zum Beispiel Männer in uni­
formen Anzügen schaudern, mit Gesichtern, bei
denen es ihnen selber schwerfällt, sich wieder­
zuerkennen, falls sie verloren gehen. Und ich
entspanne mich, wenn ich Kunst sehe, die den
Menschen als im Grunde unberechenbar und
böse zeigt, im guten Fall kontrolliert von einer
Moral, auf die wir uns geeinigt haben. Aber wie
schnell all das wegbricht, sehen wir jetzt. Darauf
möchte man doch vorbereitet sein und nicht mit
Kunst geistig ruhiggestellt werden, mit Ver­
deckungsliteratur, innerem Rotweinschnalzen
und Schwurbelsätzen. Könnt ihr mir folgen?
Dath: Als Marxist würde ich da widerspre­
chen: Die Leute sind gar nicht tief drin unten
Bestien und schlimm und so – das waren im­
mer die Stellen in deinem Buch, wo ich dachte:
Ich weiß nicht genau. Ich würde eher sagen:
Niemand ist viel schlimmer, als sie oder er
glaubt, sein zu müssen, und da liegt das Pro­

blem. Was du über Verdeckungsliteratur sagst,
finde ich aber völlig richtig: In der Literatur­
haus­Literatur darf man über all diese Sachen
nur reden, wenn man in die Dritte Welt oder
ins Problemviertel geht, wo es ganz schlimm
ist, aber alle sind letztlich genauso versöh­
nungsbedürftige Kleinbürgerherzen wie wir,
bloß in dreckig. Da wird ge tröstet: Ist nicht so
schlimm, wir sind alle Menschen. Aber solche
Tröstungen sind billig, echter Trost sagt: Doch,
es ist sehr schlimm.
ZEIT: Was nennen Sie Literaturhaus­Literatur?
Dath: Diese Bücher, die im Imperfekt irgend­
welche Zustände von Kleinbürgern schildern
und deren Sorgen. Das ist der Betrieb, und selig
sind die wenigen Ausnahmen, von Clemens Setz
über Ann Cotten bis Sharon Dodua Otoo. Har­
lan Ellison hat mal geschrieben ...
Berg: Wie merkst du dir das denn alles?
Wer da irgendwas geschrieben hat ...
Dath: It’s my life, it’s all I am.
Berg: Oh my God.
Dath: Jedenfalls hat der Science­Fiction­ Autor
Harlan Ellison geschrieben: Diese Fik tionen, wo
die Leute vor Schreck weglaufen, der verrückte
Poe unter Drogen, der Baude laire: These are the
only moments of truth in a life of endless lies.

Berg: Das ist wunderbar, jetzt weiß ich, warum
mir das so gefällt.
ZEIT: Herr Dath, Sie schreiben über Science­
Fiction, die wisse, »was ich als kleiner Junge
lernte, sobald mir auffiel: Meine Ängste vor
dieser oder jener Zukunft sind zumindest inso­
fern nicht ernst zu nehmen, als es zwar manch­
mal schlimm kommt, manchmal schlimmer,
aber nie wie ausgemalt.« Schreibt man Dystopien,
weil man hofft, dass es dann so nicht kommt?
Dath: Das war noch die Kinderidee, inzwischen
habe ich zumindest eine pubertäre, die ist ein
bisschen weiter. Es geht nicht darum, dass das,
was ich in der Kunst machen kann, nicht pas­
sieren wird, sondern dass ich weiß: Immerhin
kann ich noch Kunst machen. Ich bin nicht im
Luftschutzbunker, solange ich einen Roman
über einen Luftschutzbunker schreibe.
Berg: Ich freue mich auch täglich, wie wunder­
bar es ist, dass ich noch irgendwas machen kann
und nicht im Keller eingesperrt bin. Du hast in
deiner Jugend Science­Fiction gelesen, ich in
meiner Kindheit Edgar Allan Poe. Ich wollte
immer wissen, was kommt. Und was bei allen
kommt, ist der Tod. Der Weg dahin kann un­
terschiedlich unangenehm sein. Auch bei GRM
ging es mir darum: eine Einordnung der Über­

»Ich denke schon, dass man


das Menschsein


radikal verändern kann«


DIETM AR DATH

Dietmar Dath arbeitet als Redakteur im Feuilleton der »FAZ«,
er schreibt Romane und Sachbücher. 2008 war er mit »Die
Abschaffung der Arten« für den Deutschen Buchpreis nominiert

Foto: Christian Grund für ZEIT Literatur
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