Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

H


elle Morgenruhe. Im


  1. Arrondissement in
    Paris spazieren die
    Schulkinder in Zweier-
    reihen durch die alten
    Straßen des Universi-
    tätsviertels, wunderbar
    unordentlich, ein Ausflug, vorbei an den Buch-
    läden, an den Hörsälen, an den Zeitung lesen-
    den Alten auf den Trottoirs vor den Cafés. Das
    soll die entgeisterte und bedrohliche Gegen-
    wart sein, die alle beklagen? Eine Metropole
    kann alteuropäischer kaum wirken als das Pari-
    ser Quartier Latin in der dörflichen Ruhe dieses
    Septembermorgens, und für einen Moment
    kann man tatsächlich meinen, es komme noch
    auf Gedanken an.
    In einem der Häuser hier, so war erst am
    Vorabend zu erfahren, solle das Gespräch mit
    Charlotte Casiraghi und Robert Maggiori über
    beider Buch Archipel der Leidenschaften statt-
    finden. Ein Lehrer und seine ehemalige Schü-
    lerin: Sie haben diese Philosophie der Gefühle
    verfasst, vierhändig, wie sie es nennen. Er, das
    ist der 72-jährige Philosoph Robert Maggiori.
    Er war Gymnasiallehrer in Fontaine bleau,
    ist angesehen als Kritiker der Tageszeitung
    Libération, Autor vielfach übersetzter phi-
    losophischer Bücher und sitzt der Jury des Prix
    Monaco vor, eines der wichtigsten Preise für
    Philosophie. Sie, das ist Charlotte Casiraghi,
    studierte Philosophin. Die 33-Jährige hat den


Prix Monaco 2016 ins Leben gerufen und auch
die Philosophischen Begegnungen, ein öffent-
liches Kolloquium, durch das sie die Welt der
Gedanken zugänglich machen will. Und weil
sie zudem die Tochter der Prinzessin von Han-
nover, also von Caroline von Monaco, ist, die
Enkelin von Fürst Rainier und Grace Kelly,
sollten ein paar Regeln für unser Gespräch
vorab verabredet werden: Keine privaten Fra-
gen. Bitte zuvor ein paar Notizen, wovon das
Gespräch handeln soll.
Robert Maggiori, ein kräftiger Mann,
grauhaarig, dunkle Jeans, Rucksack, randlose
Brille, wartet schon vor der Tür des Hauses.
Er klingelt. Es öffnet, als sei nichts natür-
licher, Charlotte Casiraghi persönlich, weiße
Bluse, Jeans, Turnschuhe, und bittet herein,
zwei kleine Räume, überall Bücher, »ent-
schuldigen Sie mich noch für ein kurzes Tele-
fonat«. Also macht Maggiori zunächst einen
starken Kaffee. »Die Presse kann sich kaum
von den Äußerlichkeiten lösen, von ihrem
neuen Haarschnitt und dem Hochzeitskleid«,
bemerkt er. »Als hätten wir nicht ein ernst-
haftes Buch über Philosophie verfasst.« Wie
aber könnte es anders sein, bei dieser jungen
Frau, die im Nebenraum noch telefoniert und
aus einem schillernden Fürstenhaus stammt?
Sie ist tatsächlich von verwirrender Schönheit
und nebenbei Unternehmerin, Turnierreiterin,
zweifache Mutter, Model. Nun ist sie frisch
verheiratet mit dem Regisseur Dimitri Rassam,

während ihr Bruder Pierre mit Greta Thun-
berg Richtung New York in See stach – seit
Jahren ist all dies ein das Hochglanzpapier
füllender Stoff. Da kommt sie ins Zimmer,
setzt sich, und für die Zeit des Gesprächs
verströmt sie nun eine zugewandte Zurück-
haltung, die offener und angenehmer nicht
sein könnte. Das Buch der beiden liegt vor
uns, jeder nimmt es gelegentlich zur Hand,
um zu blättern.

DI E Z E IT: Warum ein Buch? Bücher zu
schreiben kann einem doch vorkommen, als
füge man den Meeren an Gedrucktem nur ein
paar weitere Tropfen hinzu.
Robert Maggiori: Aber nein! Das Buch ist
das widerstandsfähigste Medium. Es hat eine
große Zukunft vor sich, weil es so einfach ist
und beständig.
Z E IT: Sie sind vier Jahrzehnte jünger, Char-
lotte, empfinden Sie es ähnlich?
Charlotte Casiraghi: Ist das wirklich eine
Generationenfrage? Ich lebe seit meiner Ju-
gend mit Büchern, und ich hatte früh das
Bedürfnis zu lesen, um einer inneren Unruhe
zu begegnen. Viele Gleichaltrige fragen mich
nach Lesetipps, wollen über Bücher reden, und
das wundert mich nicht. Die Gegenwart ist so
f lüchtig und f lüssig, alles entgleitet uns, aber
Bücher lassen uns innehalten, sie verschaffen
uns Zeit, öffnen Erfahrungsräume, schon al-
lein, weil sie Seiten haben, die wir berühren

Inseln im Meer


des Begehrens


38 DIE ZEIT 42/19


Eine Vermessung der Leidenschaften, verfasst von einem ungewöhnlichen Duo:


Charlotte Casiraghi ist Philosophin und Tochter von Caroline von Monaco.


Ihr Co-Autor Robert Maggiori war ihr philosophischer Lehrer. Ein Gespräch über


Liebe, Güte und die Kunst des vierhändigen Schreibens


VON ELISABETH VON THADDEN

Foto: Ed Alcock/M.Y.O.P./laif
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