Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

BUCH


45 DIE ZEIT 42/19


Langweilig sei es in Berlin gewesen,
erklärte Christopher Isherwood
dem neugierigen jungen Mann,
und wenn die Stadt in seinem
Berlin-Buch dennoch so wild und
aufregend wirke, so vergäßen die
Leute dabei, »dass ich ein sehr guter
Geschichtenerzähler bin!«. Das war
1976 in Los Angeles, als Isherwood
von jenem jungen Mann namens
David Bowie ausgefragt wurde; ab-
schrecken konnte er ihn aber nicht.
Ein halbes Jahr später machte sich
Bowie auf nach Berlin-Schöneberg,
und es begannen seine mythischen
Jahre, keine zwei Kilometer von
jener Adresse entfernt, die am Be-
ginn von Isher woods Ruhm mehr
als vierzig Jahre zuvor stand: Nol-
lendorfstraße 17, 2. Stock.
Isherwood, 1904 in England
geboren, hatte eine Weile wenig
erfolgreich in Cam bridge studiert,
bis er von 1929 bis 1933 in Berlin
lebte, wohin er seinem Freund W.
H. Auden gefolgt war. Diese Zeit
spiegelte er 1939 in Good bye to Ber-
lin, das 1972 mit anderen Isher-


So klingt Untergang: Christopher Isherwoods


»Leb wohl, Berlin« als Hörspiel mit Originaltönen der Zeit


HÖR


wood- Tex ten remixt als Verfil-
mung unter dem Namen Cabaret
mit Liza Minelli in der Hauptrolle
der Sally Bowles ein Welterfolg
wurde. Egal, wie wild und ver-
rucht es tatsächlich zuging: Isher-
wood steht am Anfang des Berlin-
Mythos, der seither junge Pilger
aus aller Welt in jeder Generation
auf den preußischen Asphalt
treibt. Der überraschende Erfolg
der TV-Serie Babylon Berlin nach
Volker Kutschers Kriminalroma-
nen ist ohne Isherwood-Funda-
ment nicht denkbar.
Ein Grund der Anziehungs-
kraft: »Berlin meant boys«, er-
innerte sich ein anderer Isher-
wood-Gefährte, der Schriftsteller
Stephen Spender. Es gab den rela-
tiven Freiraum für eine vom Para-
grafen 175 bedrohte Homosexuali-
tät, durch die Schwulenszene um
den Nollendorfplatz war schon der
Dichter Stefan George geschweift.
Das ästhetische Programm von
Isherwoods Berlin-Buch klingt
immer noch radikal modern: »Ich

bin eine Kamera mit offenem Ver-
schluss, ganz passiv, ich nehme auf,
ich denke nicht.« Walter Benjamin
hätte das nicht schöner formulie-
ren können. So streift Christopher,
der Erzähler des Leb wohl, Berlin-
Buches, das 2014 von Kathrin
Passig und Gerhard Henschel neu
übersetzt wurde, durch die Exzesse
der Goldenen Zwanziger, macht
die Nacht zum Tag, zwischen
Elend, Glamour, Dekadenz und
Nazi-Uniformen.
Und hören kann man den
Tanz auf dem Vulkan jetzt auch:
Leonard Koppelmann, der preis-
gekrönte Komponist und Hör-
spielregisseur, hat sich in die
Epoche gestürzt, zwischen Gru-
newald und Halleschem Tor, und
ein meisterhaftes akustisches Ge-
sellschaftsporträt geschaffen. Mit
zahlreichen Tondokumenten von
damals erzeugt er den Klang-
teppich einer Epoche (zum Bei-
spiel hört man zwischendrin einen
Dialog aus dem Blauen Engel mit
Marlene Dietrich oder die gei-

fernden Ansprachen Hitlers), es
wird kräftig berlinert, Zeitungs-
jungen rufen die Schlagzeilen des
Tages aus, während Prostituierte
verhandeln und der Englisch-
lehrer Christopher durch Berlin
taumelt. Musikalisch mischen
sich Swing, Zwölfton, Operette,
Saxofon und Piano. Das Spre-
cherensemble ist glänzend, allen
voran Laura Maire als Sally, die
diese Rolle ganz anders als Liza
Minelli interpretiert: zart, fragil,
ein verführerisches Mädchen mit
etwas Gretchen-Seele und heller
Stimme, das nach oben will. 1933
ist der Traum vorbei, und Kop-
pelmanns Kunst schafft es, dass
man das düstere Ende bereits in
allen Tönen und Stimmen ahnt.
Alexander Cammann

Christopher
Isherwood:
Leb wohl, Berlin
Hörspiel; Hörverlag,
München 2019;
4 CDs, 24,– €

IMPRESSUM ZEIT LITERATUR


Herausgeber:
Ulrich Greiner
Redaktionsleiter:
Dr. Adam Soboczynski
(verantwortlich)
Chefin vom Dienst:
Iris Mainka (verantwortlich)
Redaktion:
Iris Radisch (verantwortlich),
Alexander Cammann,
Thomas E. Schmid,
Lars Weisbrod
Redaktionsassistenz:
Tanja Kemna, Ildiko Felbinger

Art-Direktion:
Haika Hinze
(verantwortlich)
Gestaltung:
Annett Osterwold
Bildredaktion:
Amélie Schneider (verantw.),
Jutta Schein (stellv.), Navina Reus
Mitarbeit: Micaela Calabresi
Dokumentation:
Mirjam Zimmer (verantwortlich)
Korrektorat:
Thomas Worthmann
(verantwortlich)
Schlussredaktion:
Imke Kromer

Verlag und Redaktion:
Zeitverlag Gerd Bucerius
GmbH & Co. KG,
Buceriusstraße, Eingang
Speersort 1, 20095 Hamburg
Telefon: 040/32 80-0
Fax: 040/32 71 11
E-Mail: [email protected]
© Zeitverlag Gerd Bucerius
GmbH & Co. KG, Hamburg
Geschäftsführer:
Dr. Rainer Esser
Marketing und Vertrieb:
Nils von der Kall
Unternehmens kommunikation
und Veranstaltungen:
Silvie Rundel

Herstellung/Schluss grafik:
Torsten Bastian ( verant wortlich),
Oliver Nagel
Druck:
Mohn Media
Mohndruck GmbH
Gütersloh
Für unverlangt eingesandte
Manu skripte und Bilder
übernimmt der
Verlag keine Haftung.
Anzeigenleitung:
DIE ZEIT,
Áki Hardarson

Sonderpreisliste 2019

Anzeigen struktur:
Ulf Askamp
Leserbriefe:
Zeitverlag Gerd Bucerius
GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
E-Mail: [email protected]
Fax: 040/32 80-404
Artikelabfrage aus
dem Archiv:
E-Mail: [email protected]
Fax: 040/32 80-404
Free download pdf