Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

46 DIE ZEIT 42/19


Die aktuelle Bestsellerliste ist eine,
die sich in Teilen vertonen ließe.
Ich denke da an Aufschrei der
Meere von Hannes Jaenicke und
Ina Knobloch, an den Roman Der
Gesang der Flusskrebse von Delia
Owens oder auch den Kinder­
flüsterer von Alex North, der aller­
dings gegen all die schreienden
Meere und die vielen stimm­
gewaltigen Flusskrebse – vermut­
lich Tenöre – einen schweren
Stand haben dürfte. Aber viel­
leicht bahnt sich mit Anna Ruhes
Duftapotheke eine Wende ins Ol­
faktorische an. Die Fortsetzungen
könnten bei Owens und Jaenicke
deshalb Die Witterung der Tiefsee­
welse und Der Schweiß der Flüsse
heißen.
Auch der schreibende Förster
Peter Wohlleben bleibt titelmäßig
in der Erfolgsspur, auf Das gehei­
me Leben der Bäume folgt Das ge­
heime Band zwischen Mensch und
Natur. Allerdings kommt mir
das neue Geheimnis nicht mehr
ganz so geheim vor. Phänomene
wie Schnupfen, Haarausfall oder
Stuhlgang haben bei vielen schon
längst den Verdacht keimen
lassen, dass es zwischen Mensch
und Natur eine Art Band geben
könnte. Die großartige Dörte
Hansen aber sei dafür gepriesen,
dass sie auf ihren Bestseller Altes
Land nicht etwa so was wie Der
Himmel bleibt jung folgen lässt,
sondern den Titel Mittagsstunde.

MARTEN


Wie wichtig es ist, bei der Titelei
auf jedes Detail zu achten, lehrt
auch Ferdinand von Schirachs
Hit Kaffee und Zigaretten. Hieße
der Titel Kaffee, Korn und Ziga­
retten, würde das Buch sofort eine
eher proletarische Zielgruppe an­
locken, die mit Schirachs Gedan­
ken gar nichts anfangen kann.
Ich lese gerade den Pflicht­
stoff für Medienschaffende,
nämlich Juan Morenos Tausend
Zeilen Lüge über den Spiegel­
Reporter Claas Relotius, der
seine Geschichten weitgehend er­
funden hat. Sehr unterhaltsam.
Wenn ein Reporter des Spiegels

per Mail einen Auftrag kriegt, in
diesem Fall von seiner Chefin Öz­
lem Gezer, liest sich dies so: »Mo­
reno, so von Kanake zu Kanake,
kannst du dir vorstellen, für uns
eine Geschichte zu schreiben?«
Dafür, dass die Feuilletonredak­
tion der ZEIT bei Mails an ihre
Mitarbeiter eine andere Tonlage
wählt, bin ich als alte Kartoffel
sehr dankbar.
Interessant ist, dass der Res­
sortleiter Matthias Geyer dem
Reporter schon vor Beginn der
Recherche vorgeschrieben hat,
worauf seine Geschichte hinaus­
zulaufen hat, unter anderem »die

Abkehr der USA von dem, was
wir unter Demokratie verstehen«.
Das entlastet Relotius, denn eine
Demokratie sind die USA ja
immer noch. Um diesen Stoff zu
liefern, musste er doch lügen.
Thomas Gottschalks Erin­
nerungen Herbstbunt nehmen
durch Bescheidenheit und kriti­
sche Selbstreflektion für sich ein.
»Am Ende des Buches«, schreibt
Gottschalk, »werden Sie nicht
klüger sein, aber sich schlauer
fühlen.« Das reicht völlig. Zum
Dauerseller hat sich Das In te­
gra tions para dox von Aladin El­
Mafaalani entwickelt, den ich bei
einer Lesung erlebt habe. Dieser
Mann kann sich als sympathi­
scher Entertainer mit Gottschalk
messen. Und seine These leuchtet
ein: Wenn die Integration von
Zuwanderern gelingt, gibt es
erst mal nicht weniger Konflikte,
sondern mehr. Der Autor erzählt,
dass in seiner Ruhrpott­Schule
früher Frauen mit Kopftüchern
die Klos geputzt haben. An denen
störte sich niemand. Wenn aber
der gleiche Frauentypus studiert
und Lehrerin wird, ein Integra­
tionserfolg, dann gehen die Dis­
kussionen los. El­Mafaalani hält
das für unvermeidlich und ist
generell gegen die Angst vor tabu­
armem Streit. Wer sich im Meer
der Weltuntergangsprosa auf eine
Insel des Optimismus retten will,

Foto: Benne Ochs ist hier richtig.


STEIN


Der Bestsellererfolg hängt am Titel. Nicht gut wäre zum


Beispiel: »Auf einen Korn mit Ferdinand von Schirach«

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