Herzinfarkt, Schlaganfall, Blutarmut,
Wundheilung: In vielen Bereichen ist die Ent-
deckung, die 2019 mit dem Medizinnobel-
preis geehrt wird, für die Forschung zentral.
Eine Dis zi plin scheint besonders angetan: die
Sportmedizin. Was die beiden US-Amerikaner
William Kaelin und Gregg Semenza sowie der
Brite Peter Rat cliffe herausgefunden haben, ist
ein zentraler Mechanismus des Lebens – und
der individuellen Leistungsfähigkeit. Die For-
scher konnten erklären, wie der Körper auf
Sauerstoffbedarf reagiert. Sie fanden den
Schalter (oder Sensor), der zwischen dem ak-
tuellen Angebot von Sauerstoff und dem Be-
darf im Gewebe vermittelt. Besteht in den
Zellen ein Mangel, wird der Stoffwechsel ange-
passt und das Wachstum von Blutgefäßen an-
geregt. Außerdem kurbelt der Körper die Pro-
duk tion von Erythropoetin (Epo) an – mehr
rote Blutkörperchen entstehen. Hypoxie-indu-
zierter Faktor 1 Alpha (HIF-1-alpha) heißt das
Molekül, ohne das im Körper nichts läuft.
In China ist ein HIF-Medikament gegen
Anämie seit diesem Sommer zugelassen. Das ist
heikel. Einerseits ist Sauerstoffmangel schädlich,
umgekehrt kann üppige Sauerstoffversorgung
Tumoren wuchern lassen. So könnte die HIF-
Stimulation gegen Blutarmut Krebswachstum
fördern. Die Entdeckung des Faktors bringt zwar
Licht in komplexe Regelkreisläufe – aber das
Molekül selbst ist vielleicht nicht die ideale Stell-
schraube für Therapien.
Manche experimentieren trotzdem mit ihm.
Der Faktor wirkt noch stärker als Epo, so lässt
sich damit Blutarmut bekämpfen – oder dopen.
Erste Fälle sind bereits bekannt. Um gegenzu-
steuern, fordern Experten der Kölner Sporthoch-
schule Nachweisverfahren für sogenannte HIF-
Stabilisatoren. Wer sauberen Sport wünscht,
muss sich beeilen. HARRO ALBRECHT
I
Weitere Informationen zu den aktuellen
Nobel preisen unter http://www.zeit.de/nobelpreis
Der Nobelpreis ehrt eine
Erkenntnis mit Potenzial –
zum Heilen oder Dopen
Sensor
für den
Sauerstoff
Bei der Behandlung von
Hörsturz und Tinnitus
werden Patienten oft
Therapien von zweifelhafter
Wirkung angeboten. In
einem anonymen Gespräch
diskutieren ein HNO-Arzt,
eine Musiktherapeutin
und ein Psychosomatiker
über die Ursachen dieses
Missstands und erklären, was
wirklich hilft – etwa der
frühzeitige Einsatz eines
Hörgeräts. Hier nachzulesen:
http://www.zeit.de/hoergesundheit
Unter http://www.zeit.de/doctor
finden Sie Texte und
Themen rund um die
Gesundheit
ZEIT Doctor – alles, was der Gesundheit hilft
»Wenn es in den Ohren wehtut, ist es mit Sicherheit auch nicht gut fürs Gehör«,
sagt der HNO-Arzt Christoph Meinecke
Fotos: Rafael Heygster für DIE ZEIT; Your Photo Today (u.)
Itz-itz-itz-itz
- piep
So klingt es in den Ohren von FRITZ HABEKUSS,
wenn er in Clubs zu hammerlauter Musik tanzt.
Nun sorgt er sich um sein Gehör. Zu Recht?
U
nd dann war da wieder dieses
Pfeifen. Die Nacht war vor-
bei, man hatte getanzt, in ei-
nem Raum voller schwitzen-
der Menschen, umgeben von
Türmen aus schwarzen Laut-
sprecherboxen. Dieses dump-
fe Klingeln, das sich einstellte, sobald man nach
draußen getreten war und das immer ein, manch-
mal auch zwei Tage lang blieb. Ich machte mir
Sorgen und begann zu recherchieren.
Das Ohr ist ein faszinierendes Organ. Es ist in
der Lage, das Chaos unserer akustischen Umwelt
so aufzubereiten, dass unser Gehirn etwas Sinn-
volles damit anfangen kann. Schallwellen gelangen
durch den Gehörgang ans Trommelfell, das zu
schwingen beginnt und so drei aneinanderhän-
gende Knöchelchen anregt: Hammer, Amboss,
Steigbügel. Die verstärken das Signal und über-
tragen den Schall dann in die sogenannte Cochlea.
Sie erinnert an das Haus einer Schnirkelschnecke,
ist mit einer Flüssigkeit gefüllt und trägt im Inneren
das Corti-Organ. Das ist das eigentliche Sinnes-
organ im Innenohr, auf ihm sitzen die Rezeptoren
für den Schall, die Haarzellen.
»Die heißen so, weil sie Fortsätze tragen, die
genau so aussehen wie kleine Haare«, sagt Christoph
Meinecke. Er ist HNO-Arzt am Asklepios Klini-
kum Heidberg Nord in Hamburg. Die Gehör-
knöchelchen geben die Schallwellen über ein
dünnes Häutchen an die Flüssigkeit weiter, sie wird
bewegt, und die Bewegung wiederum lässt die rund
16.000 Härchen, die wie kleine Bäumchen aus-
sehen, ausscheren. Das führt zu einem Nerven-
impuls, der dann in Richtung Hirn geleitet wird.
Meinecke hat eine Mikroskop-Aufnahme auf
seinem Handy. Sie zeigt Haarzellen, nachdem sie
zu lange lauter Musik ausgesetzt waren. Viele
dieser Bäumchen sind angeknickt, sie sehen lä-
diert und mitgenommen aus, als wäre ein Sturm
über sie hinweggefegt. Sahen meine sensiblen
Hörrezeptoren so aus? Wie viele meiner Freunde
hatte ich mir jahrelang keine Gedanken darum
gemacht – genau diese Egal-Haltung ist Teil des
Reizes beim Feiern. Sie kann aber Folgen haben.
»Grundsätzlich gilt: Härchen, die einmal weg
sind, bleiben weg. Aber man kann sich laute
Musik nicht wie eine Sense vorstellen, die einmal
kommt und alles unwiederbringlich zerstört.
Viele Haarzellen sind nur temporär geschädigt
und können sich erholen«, sagt Meinecke.
Lärmschwerhörigkeit kennt jeder, der schon
einmal bei einem Festival oder Popkonzert in der
ersten Reihe gestanden hat. Was genau dabei im
Ohr passiert, ist noch nicht komplett verstanden.
Erst vor wenigen Monaten stieß ein schwedisches
Forscherteam der Linköping-Universität auf einen
Zusammenhang zwischen temporärem Hörverlust
und einer Membran im Ohr. In ihr werden Kalzium-
Ionen gespeichert. Diese positiv geladenen Teilchen
sind wichtig für die Weiterleitung von Nerven-
signalen. Hat man lange laute Musik gehört, ist der
Speicher von Kalzium-Ionen irgendwann leer,
Signale gelangen dann zeitweise nicht mehr so leicht
vom Ohr ans Gehirn.
Je häufiger und länger man sich bedenklichen
Lärmpegeln aussetzt, desto wahrscheinlicher ist es,
dass das Gehör bleibende Schäden davonträgt. Die
amerikanische Bundesbehörde für arbeitsmedizi-
nische Forschung hat eine Tabelle veröffentlicht mit
Schallwerten und der Dauer, wie lange man sich
ihnen aussetzen kann: Ein Küchenmixer schafft
85 Dezibel und wäre ab acht Stunden Beschallung
problematisch; ein Presslufthammer mit 97 Dezibel
sollte höchstens 30 Minuten lang ausgehalten
werden; die maximale Lautstärke eines Handys mit
Kopfhöreranschluss liegt bei 103 Dezibel. Länger
als siebeneinhalb Minuten sollte man sich dieser
Lautstärke nicht aussetzen.
Der erste Walkman kam Ende der Siebziger-
jahre auf den Markt, damals schon warnten Ärzte
vor den Folgen für das Gehör der vor allem jüngeren
Nutzer. Ob sich die Warnungen bestätigt haben,
ist schwer zu sagen, die Studienlage ist nicht ein-
deutig. Amerikanische Daten zeigen allerdings: Der
Anteil von Jugendlichen mit Gehörverlust zwischen
1988 und heute ist um 31 Prozent gestiegen. Und
im Jahr 2016 veröffentlichte ein niederländisches
Forscherteam in Jama Otolaryngology, welche Risiko-
faktoren einen temporären Gehörverlust nach
einem Festivalbesuch wahrscheinlich machen: das
Nichtbenutzen von Ohrstöpseln, der Konsum von
Alkohol oder Drogen und ein Mann zu sein. In-
zwischen hat die Industrie den Gehörschutz für sich
entdeckt. Smartphones haben eine Lautstärke-
Begrenzung. Und Apple stellte dieser Tage mit dem
neuen Betriebssystem für seine Uhr eine App vor,
die automatisch Umgebungsgeräusche misst und
warnt, wenn es zu laut wird.
Das Gehör ist erstaunlich belastbar, aber das hat
seine Grenzen. Im Juli veröffentlichten amerika-
nische Wissenschaftler im Journal of Neuroscience
Studien, in denen sie Altersschwerhörigkeit mit
lärminduzierter Schwerhörigkeit verglichen. Sie
wollten wissen, wie gut der Hörnerv jeweils in der
Lage war, Signale zu verarbeiten. Zwar waren ihre
Testobjekte Chinchillas und keine Menschen, aber:
Bei ähnlichen Levels von Schwerhörigkeit fiel es den
durch Lärm geschädigten Tieren schwerer, Reize zu
verarbeiten, als der Gruppe der altersschwerhörigen
Tiere. Anscheinend kommt es darauf an, was die
Schwerhörigkeit ausgelöst hat. Für Clubbesucher
sind das keine guten Nachrichten – ebenso wenig
wie Studien, die zeigen, dass das Gehör in den
Nachtstunden besonders verletzlich ist.
Der Verlust von Hörfähigkeit hat weitreichende
Konsequenzen. Es gibt einen Zusammenhang
zwischen geistiger Fitness und Hören. Denn das
wichtigste Organ beim Hören ist nicht das Ohr. Es
ist das Gehirn. »Man kann tatsächlich das Hören
verlernen«, sagt Christoph Meinecke, »deswegen
ist es für Menschen mit einsetzender Schwerhörig-
keit sinnvoll, so früh wie möglich ein Hörgerät zu
benutzen.« Studien geben ihm recht: Wer eine Hör-
minderung hat und sie nicht durch ein Hörgerät
ausgleicht, hat ein bis zu fünffach erhöhtes Risiko,
dement zu werden. »Nichts ist wirksamer gegen
eine Demenz, als das Gehör zu pflegen«, schreiben
auch die Autoren Thomas Sünder und Andreas
Borta, Autoren des Sachbuchs Ganz Ohr – Alles über
unser Gehör und wie es uns geistig fit hält.
Wie genau aber funktioniert Hörprävention
- wenn man dabei nicht gleich dem Feiern mit
lauter Musik abschwören möchte? Meinecke rät
zunächst zu ein wenig Entspannung. »Es ist nicht
zu erwarten, dass man einen Lärmschaden be-
kommt, wenn man mal ein paar Stunden laut
Musik hört«, sagt er, und: »Es bringt wenig,
Tipps zu geben, die sowieso nicht angewendet
werden, weil sie unrealistisch sind.« Am wich-
tigsten sei es zunächst, dem Gehör regelmäßig
Pausen zu gönnen. In einer lauten Umgebung
»jede Stunde mal fünf Minuten vor die Tür ge-
hen, das entlastet schon sehr«, sagt er. Und man
solle auf seinen gesunden Menschenverstand
hören: »Wenn es in den Ohren wehtut, ist es mit
Sicherheit auch nicht gut fürs Gehör.«
In manchen Clubs, wie dem Berliner Berghain,
wo Partys länger als 30 Stunden gehen können,
werden Ohrstöpsel aus Schaumstoff verteilt. Sie
dämpfen den Schall – allerdings auch das Hörerleb-
nis, denn sie verändern den Klang. Eine Alternative
sind Ohrstöpsel aus Kunststoff und mit Filter. In
der Premiumvariante sind sie nach einem Abguss
des Gehörgangs maßgefertigt. So drücken sie nicht
beim Tragen und beeinträchtigen den Klang kaum.
Nach einigen Experimenten mit Stöpseln aus
Toilettenpapier, Schaumstoff und Wachs (in
dieser Reihenfolge) und einigen Haarzellen, die
ich in dieser Probierzeit wohl geopfert habe, habe
ich mich für diese Variante entschieden. Ich trage
sie mittlerweile in einer kleinen Metallbox an
meinem Schlüsselbund bei mir – das Piepen im
Ohr, der alte Bekannte, ist dafür verschwunden.
A http://www.zeit.de/audio
GESUNDHEIT
38 WISSEN 10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42
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