Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1
Fotos: Matt Furman; Amer Ghazzal/mauritius images/alamy (Ausschnitt)

Harvey Weinstein und ich


Wie es gelang, den Filmmogul des massenhaften


Missbrauchs zu überführen VON RONAN FARROW


Zu diesem Text


Vor Kurzem erst hat sich der Bundesgesund­
heitsminister im Kosovo aufgehalten, um dort
Pflegekräfte anzuwerben. Sodann ist seine
Staatssekretärin auf die Philippinen gereist, ihr
Ziel: Pflegekräfte gewinnen. Daraufhin ist
wiederum Jens Spahn nach Mexiko aufgebro­
chen, sein Anliegen: die Anwerbung von Pfle­
gekräften. Und nun war er gerade auf Reisen
in Äthiopien, Ruanda, Nigeria, im Kongo,
aber nicht etwa, um Pflegekräfte anzuwerben.
Das ist erwähnenswert.
»Gesundheit kennt keine Grenzen«, hat der
Minister in Addis Abeba gesagt, mit Recht, er
hat Geld zum Kampf gegen Ebola mitgebracht.
Die Epidemie soll lieber nicht nach Europa
gelangen. Darin gleicht sie den Bewohnern
Afrikas, und das unterscheidet sie von den
Pflegefachkräften, bei denen es nicht schnell
genug gehen kann mit dem Kommen, jeden­
falls wenn sie einigermaßen katholisch sind,
kulturell nicht himmelweit von Deutschland
entfernt, zudem jung und – kulturell bedingt


  • weiblich. Im jüngsten Pflegebericht steht,
    dass man im kinderarmen Deutschland, wo
    die Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahr
    2050 auf rund 4,5 Millionen steigen wird,
    »ausländischen Fachkräften eine Perspektive«
    bieten wolle. Deshalb wurde eine »Positivliste«
    erstellt, nach § 6, Abs. 2, Satz 1, Nr. 2 Beschäf­
    tigungsverordnung, auf der steht, welche Be­
    tätigung nach »Fachkräfteengpassanalyse«
    grundsätzlich möglich ist. Immerhin. Man will
    einen Schritt weiter sein, bevor das kinderarme
    China in Berlin um Pflegekräfte wirbt. Um
    ausgesuchte Menschen, die gut zu den Chine­
    sen passen. ELISABETH VON THADDEN


Was bedeutet es, wenn ein Banksy, der nicht
ansatzweise nach einem Banksy aussieht, für
rund 11 Millionen Euro erworben wird? Bei
Sotheby’s in London bedeutet es zunächst ein­
mal recht wenig, weil dort vor allem der Name
den Preis bestimmt. Und doch ist das, was dort
vorige Woche vor sich ging, als das gold­
gerahmte Bild des Streetartkünstlers Banksy
mit dem Titel Devolved Parliament (ungefähr
zu übersetzen mit »delegiertes Parlament«) ver­
steigert wurde, geradezu lächerlich.
Das Gemälde in altmeisterlichem Stil zeigt
einen dunklen Saal, gefüllt mit dunklen Ge­
stalten. Resignation wabert durch den Raum
wie eine ansteckende Krankheit. Banksy hat
das britische Parlament gemalt, darin eine
Horde Schimpansen, ermattet von der eigenen
Streitlust. Vielen gilt das Bild als Kunstwerk
der Stunde, als Kommentar zur Brexit­Krise.
Und alle, die immer fanden, dass die Demo­
kratie nur eine Affenbude sei, dürfen sich durch
Banksy bestätigt fühlen. Doch zu Unrecht.
Anders als vielfach kolportiert, hat das
Gemälde mit dem Brexit nichts zu tun. Es
ist zehn Jahre alt, und auch kleinere Verän­
derungen daran erfolgten bereits kurz nach
der ersten Ausstellung des Werks in Bristol


  1. Fraglich bleibt zudem, wie ernst es
    Banksy mit seiner Verachtung des Parla­
    ments meint. Denn eigentlich zählt er sich
    selbst zu den Affen, die er malt. Sein Spott
    schließt den Künstler mit ein. Wie sollte
    man es sonst verstehen, dass hier ein Street­
    Art­Künstler so tut, als sei er ein altväterli­
    cher Historienmaler?
    Banksy schlüpft in
    die Rolle eines Nach­
    äffers, in seinen
    künstlerischen Mit­
    teln so ausgelaugt wie
    die gezeigten Parla­
    mentarier in ihrem
    politischen Wollen.
    Trotzdem begrei­
    fen nun alle das Bild
    als Brexit­Kommen­
    tar. Geschickt hat der
    anonyme Verkäufer
    den richtigen Zeitpunkt abgepasst, ge­
    schickt hat ihn das Londoner Auktionshaus
    dabei unterstützt und den Preis in die Höhe
    getrieben.
    Banksy ist damit übrigens alles andere
    als glücklich, wie er per Instagram mitteilt.
    Vermutlich ahnt er, dass sein Werk nun in
    irgendeinem Herrenhaus über dem Kamin
    hängt und irgendein Neu­ oder Altreicher
    sich an seiner eigenen Demokratieverach­
    tung weidet, die so kunstreich und teuer
    geadelt worden ist. FRIEDERIKE QUANDER


Auf der Positivliste


London, Hauptstadt


der Kunstaffen


Jens Spahn sucht nach
Pflegekräften, aber nicht überall

Über den gewaltigen Erfolg
eines Banksy­Gemäldes

Fortsetzung auf S. 56


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42 FEUILLETON


Am 10. Oktober 2017 explodiert die
Bombe. Der Journalist Ronan Farrow
veröffentlicht im New Yorker einen
44.000 Zeichen umfassenden Artikel,
in dem er darlegt, wie der Film­
mogul Harvey Weinstein über Jahr­
zehnte Stars wie Gwyneth Paltrow,
Angelina Jolie und wohl Hunderte
weitere Frauen bedrängt, attackiert –
gar vergewaltigt haben soll. Auf
Twitter schreibt die Schauspielerin
Alyssa Milano als Reaktion auf die
Enthüllungen: »Wenn du sexuell
belästigt oder angegriffen wurdest,
schreibe ›Me too‹ als Antwort auf
diesen Tweet.« In den sozialen Netz­
werken wird der Hashtag allein am
ersten Tag über 5 Millionen Mal be­
nutzt. Von Los Angeles bis Paris
(#MoiAussi) bis Helsinki (#memyös)
diskutieren Menschen nun die Frage,
ob wir viel zu lange einen permanen­
ten Skandal beschwiegen haben –
sexualisierte Gewalt gegen Frauen.
Farrows J’accuse entwickelt auch
deshalb eine derartige Wucht, weil er
nicht irgendjemand ist, sondern der
Sohn des Regisseurs Woody Allen.
Ausgerechnet jenes Woody Allen,
dem seine Ex­Frau Mia Farrow,
Ronans Mutter, seit Jahrzehnten
vorwirft, Ronans Schwester Dylan
missbraucht zu haben.
Genau zwei Jahre nach seinem
Artikel veröffentlicht Farrow nun sein
Buch Durchbruch, in dem er die
Geschichte hinter der Enthüllung
erzählt. Die ZEIT veröffentlicht an
dieser Stelle einen Vorabdruck, der
jene Phasen der Recherche bündelt,
in denen Farrow tatsächlich kurz vor
dem Durchbruch steht. Er versucht,
David Remnick, den Star­Journalis­
ten des New Yorker, und Fabio Bertoni,
den Anwalt des Magazins, von seiner
Story zu überzeugen. Er prüft mit
seiner Kollegin Deirdre Foley­
Mendelssohn Fakt um Fakt – darum
bangend, ob sie die Geschichte jemals
juristisch wasserdicht bekommen.
Und schließlich – im großen Finale –
prallen die beiden Gegenspieler auf­
einander; einerseits Farrow, der sich
an skeptischen Kollegen und einer
»Armee von Spionen« vorbeirecher­
chieren konnte; und andererseits
Weinstein, Hunderte Millionen
Dollar schwer und abgeschirmt durch
ein Team aus Star­Anwälten, Aus­
putzern und Agenten. Der Rest ist
Geschichte. MARTIN EIMERMACHER


E


s war der 5. September und immer
noch heiß, als ich wieder zum New
Yorker ging. Im Aufzug bekreuzigte
ich mich flüchtig, fast unfreiwillig.
Remnick, der Anwalt Bertoni, Doro­
thy Wickenden, die Chefredakteurin
der Zeitschrift, und Natalie Raabe, die Kommunika­
tionschefin, saßen mir am Tisch in Remnicks Kon­
ferenzzimmer gegenüber. Ich hatte keine Vorstel­
lung, was Remnick sagen würde. »Ich denke, alle
wissen über die Story Bescheid«, sagte er. »Aber
bringen Sie uns doch am besten auf den aktuellen
Stand der Dinge.« Ich ging weitgehend dieselbe Zu­
sammenfassung vom Anfang meiner Niederschrift
durch, bis hin zur Entwicklung, an deren Ende das
Interview mit Canosa gestanden hatte. Ich erwähnte
den anhaltenden Druck auf meine Informantinnen,
die Anrufe, die sie bekamen.

»Ich weiß, dass hier ein Rechtsstreit anstehen könnte«,
sagte ich. »Ich weiß, dass es noch weiterer Über­
prüfungen, weiterer Faktenchecks bedarf, um die Ge­
schichte hier veröffentlichen zu können. Ich finde
einfach, wir haben so viel Material, dass die Sache eine
Chance verdient.«

Der New Yorker verschleppte gewiss nichts, aber Prä­
zision und Sorgfalt hatten für das Magazin oberste
Priorität. »Wir machen hier kein Wettrennen, um
schneller zu sein als andere«, sagte mir Remnick. Die
Story ist fertig, wenn sie fertig ist, nach einem inten­
siven Faktencheck. »Wir sind ein Ozeandampfer, kein
Schnellboot. Uns war immer klar, dass die Times uns
zuvorkommen könnte.«

Wenn ich gerade nicht mit Quellen persönlich sprach
oder telefonierte, verschanzte ich mich mit Foley­
Mendelssohn oder mit Remnick und feilte an den
sprachlichen Feinheiten der Geschichte. Wir diskutier­
ten, wann wir eine Stellungnahme von Weinstein ein­
holen sollten. »Je früher wir mit ihm sprechen, desto
besser«, schrieb ich den Redakteuren Ende September.
Remnick entschied, im Interesse der Fairness und um
Weinstein möglichst wenig Gelegenheit zu geben, den
Frauen auf die Pelle zu rücken, deren Namen im Ver­
lauf des Faktenchecks offengelegt würden, diesen Fak­
tencheck so weit als möglich abzuschließen, bevor wir
uns bei Weinstein meldeten.

Das Team des New Yorker stand hinter der Bericht­
erstattung mit allen Vorwürfen, die samt und sonders
dem Druck der Faktenprüfer standgehalten hatten.
Wir warteten dennoch ab, bis wirklich alle Vorwürfe

zweifelsfrei geprüft waren, dann baten wir Weinstein
um Stellungnahme. Mehrere Mittelsleute Weinsteins
hatten sich bereits gemeldet und reagierten auch im
Detail, in keineswegs kämpferischem, sondern viel­
mehr resigniertem Tonfall.

So beschaulich das wirken mag, es war uns klar, dass
es nur die Ruhe vor dem Sturm war. Schon früh in
der ersten Oktoberwoche brachte Kim Masters eine
Story für den Hollywood Reporter mit der Headline
»Harvey Weinsteins Anwälte kämpfen gegen N.Y. Times
und New Yorker wegen potenziell brisanter Geschich­
ten«. Variety brachte seine Version nur wenige Minu­
ten danach. Die Nachrichtenagenturen begannen,
auf Hochtouren zu laufen. Diese Entwicklung hatte
den Vorteil, den Quellen Mut zu machen. Am glei­
chen Tag meldete sich Jessica Barth bei mir, die
Schauspielerin, die zusammen mit Seth MacFarlane
in den Ted-Filmen gespielt hatte. Sie erzählte mir,
Weinstein hätte sie bei einem Treffen im Hotelzim­
mer sexuell belästigt – auch diese Geschichte erwies
sich als wahr. Aber die Überschriften in den Medien
gaben mir auch ein Gefühl von Ausgesetztsein. Was
auch immer als Nächstes kommen würde: Es würde
sich unter den grellen Scheinwerfern der medialen
Aufmerksamkeit abspielen.

Eine gute Meile weiter südlich setzte ich mich in
den Redaktionsräumen des New Yorker an einen
freien Schreibtisch, rief die Weinstein Company an
und bat um einen Kommentar. Der Mann am an­
deren Ende der Leitung erklärte nervös, er werde
sehen, ob Weinstein verfügbar sei. Dann hörte ich
Weinsteins rauen Bariton. »Wow!«, sagte er sarkas­
tisch. »Wie komme ich denn zu der Ehre?« Diese
Eigenschaft wurde in den unzähligen Artikeln, die
vor oder nach der Affäre über Weinstein erschie­
nen, selten erwähnt: Er konnte ziemlich witzig
sein. Aber der Eindruck verflog auch schnell wie­
der, wenn er sich in einen Wutanfall hineinsteiger­
te. Weinstein legte in jenem Herbst bei den Tele­
fongesprächen mit mir mehrmals einfach auf, auch
an diesem ersten Tag. Ich sagte ihm, dass ich fair
sein wolle, ich werde berücksichtigen, was er zu sa­
gen habe, und fragte dann, ob es okay sei, wenn ich
das Gespräch aufnehmen würde. Er schien Panik
zu bekommen – klick, weg war er. Am Nachmittag
noch einmal dasselbe. Doch nachdem ich ihn erst
einmal zum Reden gebracht hatte, schien er seine
anfängliche Vorsicht aufzugeben und wollte die
Aufzeichnung nicht abbrechen, war jedoch sehr ag­
gressiv. »Ich bin immer zu einem Gespräch bereit,
mit Ihnen oder mit jemandem aus Ihrem Team«,

sagte ich. Weinstein lachte. »Jemanden, den Sie
lieben, konnten Sie nicht beschützen, und jetzt
wollen Sie alle anderen retten.« Das sagte er wirk­
lich. Er hätte auch gleich Aquaman mit einer Bombe
bedrohen können.

Weinsteins Team war also in Auflösung begriffen,
daher beschlossen wir, uns direkt an ihn zu wenden.
Übers Wochenende und auch während der folgenden
Woche rief ich ihn immer wieder an und führte in­
offizielle Gespräche mit ihm, dann verabredeten wir
uns zu langen Telefonkonferenzen, bei denen ich von
Remnick, Foley­Mendelssohn und Bertoni unterstützt
wurde und Weinstein von seinen Anwälten und Kri­
senberatern.

Weite Teile der Gespräche mit Weinstein wurden ver­
traulich geführt. Doch dazwischen gab es auch Unter­
haltungen, für die keine Regeln festgelegt wurden oder
die Weinstein ausdrücklich als offiziell einstufte.
Manchmal klang er niedergeschlagen. Sein leises »Hi,
Ronan« zu Beginn jedes Telefongesprächs hatte einen
fast jungenhaften Charme. Doch viel häufiger trat der
alte Harvey Weinstein zutage, arrogant und wutent­
brannt. »Ich möchte Sie aufklären«, sagte er oft. »Ich
gebe Ihnen Einblick.« Weinstein wies wiederholt da­
rauf hin, dass man nicht von einer Vergewaltigung
sprechen könne, wenn sich die betroffene Frau später
wieder mit ihm traf. Dass das im Widerspruch zur
Realität sexueller Gewalt stand, die oft am Arbeitsplatz
oder in der Familie stattfindet – Situationen also,
denen man sich nicht entziehen kann –, und auch im
Widerspruch zur tatsächlichen Rechtslage, schien ihn
nicht zu interessieren.

Bei den ersten, weniger offiziellen Telefongesprächen
hatte ich das Gefühl, dass Weinstein immer noch in
einer Parallelwelt lebte. Er räumte Fehlverhalten ein
und erzählte in diesem Zusammenhang dann, dass er
ins Jahrbuch eines Mädchens einen beleidigenden
Kommentar geschrieben oder eine Kollegin falsch
angesehen habe. Wenn ich ihn daran erinnerte, dass
wir über mehrere Vergewaltigungsvorwürfe berichte­
ten, wirkte er jedes Mal erschrocken – er leugnete
nicht, aber er wirkte benommen. Das sei alles so viel,
sagte er dann, er habe sich die Unterlagen mit den
Faktenchecks nicht genau angesehen. Und das klang
durchaus echt. Später, als die Berater dazukamen,
stand die Reaktion Weinsteins im Vordergrund, die
wir schließlich in die Story aufnahmen: Er stritt ein­
fach ab, dass es je »nicht einvernehmlichen Sex« gege­

Ausschnitt aus
dem Gemälde
»Devolved
Parliament«

Vor 10 Jahren
begann Ronan
Farrow als
Obama-Berater.
Nun, mit 31, ist
er Pulitzer-
Preisträger

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