ben hatte; ein pauschales Dementi, ohne näher auf
die einzelnen Anschuldigungen einzugehen. Das
gab wohl wirklich Weinsteins Sichtweise wieder:
Er behauptete selten, die Vorfälle habe es nicht
gegeben, bestand jedoch darauf, alles sei in gegen-
seitigem Einvernehmen passiert und werde nun
Jahre später aus Opportunismus anders dargestellt.
Unverhältnismäßig ausführlich ließ er sich über den
Charakter der beteiligten Frauen aus. »Eine Frage,
Harvey«, unterbrach Remnick einmal ganz ernst-
haft. »Was hat das mit Ihrem Verhalten zu tun?« Bei
manchen Einzelheiten wirkte Weinstein relativ
unbeteiligt. Manchmal konnte er sich einfach nicht
erinnern. Einmal ließ er sich auf eine ausführliche
Diskussion über eine Anschuldigung ein, die in
unserer Berichterstattung gar nicht vorkam. Er
hatte einen Namen, den wir ihm genannt hatten,
mit einem ähnlich klingenden aus seiner Erinne-
rung verwechselt.
Er stieß aber auch Drohungen gegen den New
Yorker aus: Er werde das Magazin verklagen oder
unser Memorandum zur Überprüfung der Fakten
durchsickern lassen, bevor wir damit an die Öffent-
lichkeit gingen. »Vorsicht, Jungs«, sagte Weinstein
dann. »Immer schön aufpassen.«
Einmal, als Hofmeister und die anderen An-
wälte Weinstein nicht vom Reden abhalten konnten,
beendeten sie einfach das Gespräch. »Wir haben sie
verloren«, sagte Remnick, als die Verbindung abrupt
unterbrochen wurde. »Sie wollten nicht, dass er das
sagt«, meinte Foley-Mendelssohn. »Das sind ja super
Anwälte«, fügte Bertoni hinzu und schüttelte un-
gläubig den Kopf. »Und dafür zahlt er ihnen ein
Vermögen – damit sie am Telefon einfach auflegen.«
Als ich kam, war es in den Büros still, und durch
die Fenster fiel das Sonnenlicht wie durch ein Pris-
ma. Monica Racic, die Multimedia-Redakteurin
des Magazins, stand an ihrem Schreibtisch und
wartete darauf, dass der Artikel ins Netz gestellt
wurde. Foley-Mendelssohn und ein paar andere
stellten sich zu ihr, und ich nahm mein Handy, um
ein Foto davon zu machen. Eigentlich hatte uns
eine nüchterne Dokumentation vorgeschwebt,
Triumphgehabe wollten wir auf jeden Fall ver-
meiden. Entsprechend ging Remnick gleich da-
zwischen. »Das ist nicht unser Stil«, sagte er und
scheuchte alle zurück an die Arbeit.
Als der Artikel im Netz war, ging ich zu einem
der Bürofenster und blickte hinaus auf den Hud-
son. Ich fühlte mich wie betäubt und hatte Peggy
Lees Gesang im Ohr: »Is that all there is to a fire?«
(»Wenn das alles ist nach einem Feuer«). Hoffent-
lich hatten die Frauen das Gefühl, dass es das alles
wert gewesen war; dass sie damit andere schützen
konnten. Ich fragte mich, was aus mir werden
würde. Ich hatte über diesen ersten Artikel hinaus
keine Vereinbarung mit dem New Yorker getroffen,
und eine Karriere beim Fernsehen schien mir erst
einmal verbaut. In der Spiegelung der Scheibe sah
ich die dunklen Ringe unter meinen Augen, jenseits
der Scheibe erstreckte sich New York bis zum glit-
zernden Horizont. Über dem Hudson lauerten ein
Hubschrauber der Fernseh- und Nachrichtensender
und behielten alles im Auge.
Mein Telefon klingelte wieder und wieder. Ich
eilte zum nächsten Computer und öffnete einen
Browser. Mein E-Mail-Provider, mein Twitter- und
Facebook-Account, alle meldeten mit ping, ping,
ping immer weitere Nachrichten, die sich schon
bald zu einem Strom verdichteten.
Endlich meldeten sich andere Journalisten bei
mir, darunter Kantor und Twohey [Megan Twohey
und Jodi Kantor veröffentlichten kurz vor Farrow
eigene Recherchen zu Weinstein in der New York
Times, Anm. d. Red.], die lange und hart an ihren
eigenen Geschichten gearbeitet hatten. Mehrere
Reporter berichteten von Einschüchterungsver-
suchen, um sie von ihren Nachforschungen abzu-
halten. Ein Autor, der in einem Magazin einen
Artikel über Weinstein veröffentlicht hatte, zeigte
mir die Mails und spielte mir die Sprachnachrichten
vor, die mit der Zeit in ausdrückliche Drohungen
gegen ihn und seine Familie ausgeartet waren.
Schließlich war das FBI eingeschaltet worden, er
hatte den Artikel trotzdem veröffentlicht.
Doch die meisten Nachrichten kamen von völ-
lig Fremden, die verkündeten, dass auch sie eine
Story für mich hätten. Einige stammten von Frau-
en, andere von Männern. Bei manchen ging es um
sexuelle Gewalt, bei manchen um andere Verbre-
chen und um Korruption. Alle zeugten von Macht-
und Systemmissbrauch – in der Regierung, in den
Medien, im Justizsystem – und von Vertuschung.
An jenem ersten Tag nach der Veröffentlichung
schickte mir auch Melissa Lonner, die frühere Pro-
duzentin der Today Show, die sich mit mir getroffen
hatte, als sie für Radio Sirius XM gearbeitet hatte,
eine Nachricht, die ich zuerst gar nicht richtig wahr-
nahm: »Es gibt noch mehr Harveys unter uns.«
Harvey Weinstein und ich Fortsetzung von S. 55
Joaquin Phoenix spielt in »Joker« den Einzelgänger Arthur, der sich vom prekär beschäftigten Werbeclown hocharbeitet zu Batmans Erzfeind
Foto: Niko Tavernise/Warner Bros. Entertainment Inc.
Ein weißer
Clown
sieht rot
»Joker« erzählt die düstere Geschichte eines
Comic-Schurken. Es ist der meistdiskutierte Film
des Jahres. Aber ist er auch gut? VON LARS WEISBROD
W
as dieser Film alles sein soll:
ein Meisterwerk, na klar.
Eine blutige Revolutions-
fantasie. Das Manifest aller
einsamen, abgehängten,
weißen Männer, die sich
heute als Verlierer der Ge-
schichte fühlen. Darüber hinaus eine Gefahr für die
öffentliche Sicherheit: Journalisten und sogar die
New Yorker Polizei fürchten, die Kino-Vorführungen
könnten maskierte Gewalttäter anziehen. Als Ant-
wort darauf ein Witz, er geht so: Zwei Männer wollen
aus dem Irrenhaus ausbrechen. Sie klettern aufs
Dach, der erste Mann springt über den Abgrund auf
das Nachbarhaus. Der zweite Mann verharrt, er
fürchtet hinabzustürzen. »Ich habe meine Taschen-
lampe dabei«, sagt der erste schließlich, »ich leuchte
über den Abgrund, und du kannst auf dem Strahl zu
mir rüberlaufen.« Der andere Mann schüttelt den
Kopf: »Glaubst du, ich bin verrückt? Du machst doch
sicher die Lampe aus, sobald ich in der Mitte bin!«
Wer über den Film Joker spricht, und das tun ge-
rade viele, dem sollte nicht der gleiche Fehler unter-
laufen wie dem Irren aus dem Witz: Man darf einen
sowieso untauglichen Versuch nicht so kritisieren, als
hingen Menschenleben von seiner konkreten Aus-
führung ab. Der Regisseur Todd Phillips, wir müssen
gleich noch über ihn sprechen, lässt seine Adaption
eines viel bearbeiteten Comicstoffes so harmlos und
steif beginnen, als wolle er alle Erwartungen sogleich
zerstreuen: mit einer Radiostimme, die uns plau-
dernd verrät, was wir wissen müssen. Das Jahr heißt
1981, und es steht nicht gut um Gotham City. Der
Müll wird nicht mehr abgeholt und verstopft die
engen Gassen, die Bürger köcheln wütend vor sich
hin, und die Gewaltkriminalität gerät derart außer
Kontrolle, dass U-Bahn-Fahren lebensgefährlich
wird. Einen Vigilanten im Fledermauskostüm, den
Batman, kennt die Stadt noch nicht.
Neben dem Ich-erzähl-jetzt-mal-die-Exposition-
Radio aber sitzt, den Widrigkeiten trotzend, ein gut-
herziger Mann vor einem Schminkspiegel und übt
sein Grinsen. Er klemmt die Finger unter seine
Oberlippe und zieht die Mundwinkel mit Gewalt
hoch. Joaquin Phoenix (schon jetzt Oscar-Favorit)
spielt den einsamen Aushilfsclown Arthur Fleck, der
in dieser gelbstichigen Großstadt sein leeres Leben
bestreitet und gegen eine Geisteskrankheit ankämpft,
die ihn willkürlich auflachen lässt. Er wünscht sich
eine Freundin, aber die einzigen beiden Frauen in
seinem Leben sind seine Sozialarbeiterin und seine
Mutter, bei der er wohnt. Als ihm Jugendliche wäh-
rend der Arbeit ein Schild klauen, mit dem er fröh-
lich einen Insolvenzverkauf bewerben soll, muss
Arthur ihnen in seinen lustigen Clownsschuhen hin-
terherrennen. In einer der vielen back alleys, die dieser
Film uns so stolz präsentiert, als hätten wir noch nie
Mülltonnen und Feuerleitern gesehen, schlagen die
Kinder ihn zusammen. Dann verliert er auch noch
seinen Job bei der Clown-Leiharbeitsfirma. Der Nie-
dergang aber setzt in Arthur Fleck überraschende
Kräfte frei. Was in den folgenden zwei Stunden pas-
sieren wird, passt in eine Scherzfrage. »Was kriegt
man, wenn man einen psychisch kranken Einzel-
gänger kreuzt mit einer Gesellschaft, die ihn im Stich
lässt und wie Abfall behandelt?«, sagt Arthur Fleck
einmal. »Man kriegt, was man verdient hat.« Am
Ende des Films ist er ein anderer, na ja, Mensch. Das
Grinsen schminkt er sich mit Blut ins Gesicht, vom
arbeitslosen Muttersöhnchen wird er zum virilen
Terroristen des Irrsinns, zum Joker: Erzfeind Bat-
mans, Clown Prince of Crime, zweitbester Comic-
bösewicht aller Zeiten (gleich nach Magneto, siehe
»The Top 100 Comic Book Villains« auf ign.com).
Todd Phillips erzählt diese Metamorphose nicht
als Actionfilm, er macht aus ihr ein ernstelndes Sozial-
drama. Seine Motive hat er aus The Killing Joke,
einem der einflussreichsten Superheldencomics über-
haupt (der titelgebende tödliche Witz ist der über die
zwei Irren auf dem Dach). Auch Christopher Nolans
Joker-Film The Dark Knight ist ein Vorbild: Heath
Ledger hüpfte und trat und trampelte durch diese
Aufführung, er zuckte auf seine Gegner zu, als werde
er vorangetrieben von kleinen Bomben, die zeitver-
setzt in seinem schlanken Körper detonierten. Dieser
Joker war ein verführerischer Springteufel, der uns
zurief: Spaß macht’s nur, wenn gleich einer schreit.
Was für ein Joker ist Joaquin Phoenix? Als Arthur
Fleck in der U-Bahn von einem Rudel junger
Wall-Street-Boys malträtiert wird, schlägt er erst-
mals zurück: Einen nach dem anderen streckt er
nieder, und mit jedem Totschlag fällt Furcht von
ihm ab. Anschließend lässt er in einer öffentlichen
Toilette vor dem Spiegel seinen Körper kreisen, er
fällt in einen Ausdruckstanz, der nur noch ent-
fernt an Heath Ledgers Rausch erinnert. Arme
und Beine zeichnen berechenbare Formen in die
Luft. Aus dem Kriegstanz eines Anarchisten wird
die Performance eines Kreativarbeiters. Er muss
um die Aufmerksamkeit eines Publikums kämp-
fen, dem sein Aufbegehren längst im Programm-
heft angekündigt wurde. An diesem Missverhält-
nis scheitert der Film. Er ersetzt, was ihm an Pop-
kultur-Benzin fehlt, durch die Behauptung eines
Kunstanspruches, den er dann nicht einlöst: Ein
Linsenflackern, das den Moment des Mordes
durchblitzt, macht dich nicht zum sensiblen Au-
torenfilmer. Nur weil deinem Protagonisten am
Mundwinkel noch weiße Theaterschminke klebt,
bist du kein Intellektueller.
Aber das wäre Todd Phillips gern. Er spürt,
dass sich mit der Joker-Figur vieles erzählen lassen
müsste über die Gegenwart und darüber, warum
sie in einer eigentümlichen Mischung aus Lächer-
lichkeit und Brutalität zu ertrinken droht: Trump,
die Trolle im Internet, überall idiotisch lachende
Männer. Und Phillips würde, dieser Wunsch
spricht aus jeder Szene, so gern als präziser Dia-
gnostiker gelten, weil er ausgerechnet das Problem
analysiert, von dem der Multimillionär in seiner
bisherigen Karriere (Hangover, Hangover II, Hang-
over III) sehr gut gelebt hat: die Krise der Männ-
lichkeit. Bloß was soll seine Analyse sein? Erfriert
Arthur zum Joker in der ökonomischen Eiseskälte
eines deregulierten Sozialsystems, das ihm nicht
einmal mehr seine Medikamente zahlt? Oder ver-
formt ihn die sexuelle Frustration? Sein Hass auf
die Reichen wäre dann eigentlich einer auf die se-
xuell erfolgreichen Alphamänner, die den Fleisch-
markt kontrollieren, während er, als sei der Joker
auch nur eine Figur aus einem Houellebecq-
Roman, zu Hause im schimmeligen Bett liegt und
an sich herumspielen muss?
Der Film verfolgt mal diese Spur, mal jene, mal
gar keine, solange es nur irgendwie so aussieht, als
würde er sich Gedanken machen. Was diesem
Arthur Fleck tatsächlich passiert, dafür interessiert
Todd Phillips sich nicht. Und wäre man ein ein-
samer oder abgehängter weißer Mann, dann
müsste man diesem Regisseur, mit letztem Stolz,
antworten: Danke, aber den Sprung in den Ab-
grund schaffen wir allein. Mach deine Taschen-
lampe wieder aus.
A http://www.zeit.deeaudio
Ronan Farrow:
Durchbruch. Der Weinstein-
Skandal, Trump und die Folgen;
übersetzt aus dem Englischen von
einem zehnköpfigen Team.
Rowohlt, 528 S., 24,– €
56 FEUILLETON 10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42
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» Schule darf kein Ort
des Scheiterns sein«
Weshalb haben nicht alle Kinder die gleichen
Chancen?
Gleichheit ist ja im Grundgesetz festgeschrieben.
Doch Bildungsabschlüsse und beruflicher Status
der Eltern sowie die materiellen Ressourcen der
Familie wirken sich nach wie vor benachteiligend
auf die Bildungschancen der Kinder aus. Drastisch
formuliert: Bildungsarmut wird oft vererbt.
Was bedeutet das?
In Bezug auf Bildungserfolg bedeutet es konkret,
dass die Wahrscheinlichkeit, Abitur zu machen,
für Kinder aus sozial benachteiligten Familien
signi fikant geringer ist als für Akademikerkinder.
Wie äußert sich die Benachteiligung im
Schulalltag?
Viele Schülerinnen und Schüler haben aufgrund
ihrer sozialen Herkunft Stigmatisierung und Aus
grenzung erfahren. Diese Belastung kann man
nicht morgens wie die Jacke an der Garderobe
abgeben, sie ist Teil der Persönlichkeit und des
Schulalltags und äußert sich hier.
Das Interview in voller Länge finden Sie unter:
service.zeit.de/schule/gesellschaft/
schule-darf-kein-ort-des-scheiterns-sein
Alles über das Bildungsprogramm
von SOS-Kinderdorf Campus:
http://www.sos-kinderdorf-campus.de
Armut, Bildung, Perspektiven –
Jugend sozialarbeiterin Anne Luther
hat in ihrem Arbeitsalltag mit viel
Ungleichheit zu tun. Wie kann es
gelingen, einen Beitrag zu einer
gerechteren Zukunft zu leisten?
Haben Sie ein konkretes Beispiel, wie sich die
soziale Herkunft auf die Chancengleichheit
auswirkt?
Manchmal sind es vermeintliche Kleinigkeiten:
Streitereien zwischen den Jugendlichen, Ärger
über eine Note oder mit einem Lehrer, Stress mit
den Eltern. Doch es gibt auch akute Krisenfälle:
Vor Kurzem musste ich eine Jugendliche in eine
Kriseneinrichtung begleiten. Sie hat mit ihren
14 Jahren schon viele belastende Erfahrungen
machen müssen: Es gab nie eine Person, die sie
»Mutter« nennen konnte, keine stabilen Bezie
hungen, kein dauerhaftes Zuhause. Da beginnt
Benachteiligung ganz früh.
Wie hilft die Jugendsozialarbeit im
Schulalltag genau?
Ich bin als Ansprechpartnerin für die 400 Schü
lerinnen und Schüler der Mittelstufe da. Das ist
ein offenes und freiwilliges Angebot, mit dem
Ziel, jede und jeden gezielt und individuell zu
unterstützen. Mein Ansatz ist ein systemischer:
Auch wenn ich die Jugendlichen eigenständig
be trachte, kann ich das soziale Umfeld nicht aus
blenden. Hier hilft eine gute Vernetzung innerhalb
der Schule und der Angebote des SOSKinder
dorf Berlin. Zusammen müssen wir es schaffen,
dass Kinder und Jugendliche durch Erfolgserleb
nisse motiviert werden. Realistische Ziele, Lob,
Respekt und Wertschätzung – das alles stärkt
junge Menschen auf ihrem Weg. Schule darf kein
Ort des Scheiterns sein.
»Zusammen müssen wir
es schaffen, dass Kinder und
Jugendliche durch Erfolgs
erlebnisse motiviert werden.«
Anne Luther
In Zusammenarbeit mit
Ob ein Kind in der Schule Erfolg hat, hängt stark von seinem
familiären Hintergrund ab. © 123rf / Tatyana Tomsickova
Anne Luther ist Jugendsozialarbeiterin an der TheodorHeuss
Gemeinschaftsschule in BerlinMoabit. © Carsten Luther