Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

Das ewige Ommmmm


Vor der Landtagswahl in Thüringen möchte der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow vor allem eins ausstrahlen: Normalität VON MARTIN MACHOWECZ


W


enn aus Revolution
Routine wird und aus
Aufregung Normali­
tät – dann hat der
Revolutionär entwe­
der etwas grundle­
gend falsch gemacht.
Oder sehr vieles richtig.
Bodo Ramelow, 63 Jahre alt, Deutschlands
einziger Ministerpräsident der Linken, sitzt in
seinem Dienstwagen, es ist tiefe Nacht in Thü­
ringen, draußen rauscht das Land an ihm vorbei,
das er seit fünf Jahren regiert. Ramelow ist ruhig,
sehr ruhig. Man hat ihn gerade gefragt, wie
lange er sich an sein neues Leben gewöhnen
musste, an den Stress, die Verantwortung. Da
sagt er: Es sei nicht die Geschwindigkeit ge­
wesen, die ihn verblüfft habe – sondern die
Langsamkeit. »Anfangs«, sagt er, »kam mir vieles
an diesem Amt eher behäbig vor. Ich wollte
schnell Dinge verändern. Inzwischen habe ich
gelernt, damit umzugehen, dass alles Zeit
braucht. Dass die Beamten in einer Staatskanzlei
wissen, was sie tun. Dass du Vertrauen zu ihnen
aufbauen musst.«
Als Ramelow 2014 Ministerpräsident wurde,
war das eine Sensation: der Erste aus der Linken,
die einst PDS hieß und, noch früher, SED. Der
Erste, der in Deutschland ein Dreiparteienbünd­
nis aus Linken, SPD und Grünen führen wollte.
Dazu mit nur einer Stimme Mehrheit. Es gab
viele damals, die sagten: Niemals werde das halten,
niemals funktionieren!
Ramelows Mission kann deshalb, seit dem
ersten Tag, in einem Wort zusammengefasst
werden: Normalisierung. Die Normalisierung
seines Bündnisses. Die Normalisierung seiner
selbst. Als sei es nichts Besonderes, dass er da
ist. Als wäre es nur etwas Besonderes, wenn er
weg wäre.
Eine Politik des ewigen Ommmmm.
Jetzt, am 27. Oktober, wenn Thüringen wie­
der einen Landtag wählt, will Ramelow beweisen,
dass seine Wahl kein Ausrutscher war, sondern
ein Anfang. Genau wie der grüne Regierungschef
Winfried Kretschmann in Baden­Württemberg
möchte sich Ramelow nicht an seiner ersten Wahl
ins Amt messen lassen. Die entscheidende Frage
für ihn lautet, ob er sich etablieren kann. Er will
dazugehören: Zum politischen Establishment,
zum Kreis der Regierungschefs, zur deutschen
Selbstverständlichkeit.
Wer sich vergegenwärtigen möchte, wie
enorm das Parteiengefüge binnen weniger Jahre
umgegraben wurde, der muss die Umfragen


Foto: Felix Adler

Bodo Ramelow und Gregor Gysi (links) bei einer
Wanderung durch das Höllental nach Thüringen

ansehen, die derzeit für Thüringen erhoben
werden. Ramelows Linke würde auf 29 Prozent
der Stimmen kommen, die AfD auf 24 Prozent,
die CDU auf 23. Es ist jetzt Ramelow, auf dem
die Hoffnungen liegen, im dritten Ost­Wahlland
dieses Herbstes den Populismus, der in Thürin­
gen vom besonders radikalen Björn Höcke an­
geführt wird, in Schach zu halten. Menschen,
die sich vor fünf Jahren noch empörten, dass die
»SED­Nachfolger« eine Regierung anführen
wollen, würden jetzt aufatmen, wenn es den
Linken gelänge, stärkste Kraft zu werden.
Ist das nicht verrückt? »Ich glaube nicht«, sagt
Ramelow, »dass ein linker Ministerpräsident
heute noch etwas ist, über das man groß diskutie­
ren muss. Ich erlebte, dass das im Alltag über­
haupt keine Rolle spielt.« Die Frage ist, ob das
die Realität ist. Oder Taktik.
Es gibt ein politisches Grundrezept des Bodo
Ramelow, nennen wir es: der ewige Überra­
schungsangriff. Seine Methode ist die Über­
wältigung der Gegner von der Seite, die sie nicht
erwarten: Ramelow ist ein Gewerkschafter, der
immerzu davon erzählt, wie christlich er ist. Er
ist ein Meister der Sprache, der plötzlich be­
richtet, dass er als junger Mensch Legastheniker
war. Er ist ein erfolgreicher Mann, der oft betont,
in wie armen Verhältnissen er aufwuchs. Er ist
ein aufbrausender Charakter, der sich im Alltag
unendlich präsidial zu geben versucht. Und
schließlich: Er ist ein Wessi, der sich ostdeutscher
nicht präsentieren könnte.
Der größte Überraschungsangriff seiner
fünf bisherigen Regierungsjahre war aber: ein
Anti­Revolutionär zu werden. Ein absoluter
Stabilisator.
Es gibt zum Beispiel nichts, von dem Ramelow
mit größerem Stolz berichtet als von seiner liebe­
vollen Aufnahme in den Kreis der Ministerprä­
sidentenkonferenz Ost, die er derzeit leitet. Er
erzählt gerne, wie gut er mit Horst Seehofer, dem
CSU­Bundesinnenminister, über die Flüchtlings­
aufnahme verhandle. Und dass sich jeder CDU­
Abgeordnete, natürlich!, jederzeit bei ihm melden
könne mit allen Sorgen und
Problemen. Er ist doch Mi­
nisterpräsident für alle Thü­
ringer! Auf seinen Wahl­
plakaten steht groß »Bodo
Ramelow«, der Name seiner
Partei steht nicht mit drauf.
Seinem Erfolg liegt ein
Plan zugrunde, den sich Ra­
melow und seine Leute schon
lange vor ihrem Einzug in die
Staatskanzlei zurechtgelegt
haben: kein Verprellen der in 25 Jahren CDU­
Regierung angesammelten Spitzenbeamten, keine
Unruhe unter den Lehrern und Polizisten. Am
besten: niemanden merken lassen, dass sich etwas
verändert hat. Ramelows Regierung hat Lehrer
eingestellt – 3891, wie er exakt aufzählen kann,
womit er aber lediglich die Altersabgänge kom­
pensieren konnte, es gibt immer noch zu wenige.
Man hat Polizeistellen ausgebaut (aber weniger
stark als versprochen). Gegen den Willen seiner
Partei hat Ramelow den Verfassungsschutz am
Leben gehalten. Dass seine Landesregierung Ab­
schiebungen durchführt, auch wenn die Linke
im Bund strikt dagegen ist? Er sagt grundsätzlich:
»Ich sitze nicht für meine Partei im Bundesrat,
sondern für Thüringen.«
In gewisser Weise passt zu diesem Dauer­
Staatsmanntum, dass sich Ramelows Regierung
dann verhoben hat, wenn sie (linke) Reformen
versuchte: Eine Gebietsreform scheiterte krachend
am Widerstand der Landkreise und Kommunen.
Es hat ihm, offenbar, trotzdem kaum geschadet:
Wenn Ramelow auf einer Wahlkampfveranstal­
tung jetzt gefragt wird, was seine größten Erfolge
seien, sagt er, er würde gerne zunächst von seinem
größten Misserfolg erzählen, der Gebietsreform.
Stichwort: Überraschungsangriff. Er ist der fünft­
beliebteste Ministerpräsident der Republik, selbst
die Mehrheit der CDU­Wähler ist mit seiner Ar­
beit zufrieden. Dass im Lauf der Legislatur eine
SPD­Frau zur CDU wechselte; dass die Regierung
sich nur dank eines anderen Überwechslers von
der AfD zur SPD über Wasser halten konnte, der
seine neue Fraktion zudem wiederholt mit Ein­
ladungen an Thilo Sarrazin provozierte? Wen
stört’s. Ramelow überstrahlt alles.
Er überstrahlt allerdings auch seine Koalitions­
partner, die SPD und die Grünen, seine Beliebt­
heit frisst ihre geradezu auf: Beide stehen bei je­
weils neun Prozent. Sie schrumpfen von Umfrage
zu Umfrage. Die Mehrheit für das Bündnis steht
auf der Kippe. Ramelow könnte Wahlgewinner
werden – und ohne Amt dastehen.
Was Ramelow in seinem Wahlkampf ver­
sucht, ist nun: dem Rechtspopulismus eine
posi tive Erzählung des Ostens entgegenzustel­
len. Die Standardgeschichte in seinen Reden
handelt vom Rasierklingenwerk in Südthürin­
gen, das zu DDR­Zeiten für die Marke Croma
berühmt wurde und nach 1990 eine klägliche
Existenz fristete. Bis zwei »Freaks« aus New York
ein Start­up namens »Harrys« gegründet hätten,
das Rasierer vertreiben wollte. Sie entdeckten
Croma als Lieferanten. Denn, so Ramelow:
»Die Amis können Internet. Wir liefern denen
die Dinge, die sie verkaufen können.« Das
Rasierklingenwerk, so endet Ramelows Wahl­

kampfgeschichte, sei mit dem Auftrag der Ame­
rikaner gewachsen und gewachsen, bis Welt­
marktführer Wilkinson das ganze US­Start­up
inklusive des Thüringer Werks geschluckt habe.
»Für 1,28 Milliarden!«, sagt Ramelow.
Was er damit erzählen will, ist, erstens: Von
wegen, Thüringen sei nichts wert. Würde man
den Freistaat als eigene Nation begreifen, läge
es unter allen europäischen Ländern im Mittel­
feld. Und andererseits seien dem Wachstum
Grenzen gesetzt: Denn der Mechanismus der
Marktbereinigung, der sei derselbe wie nach


  1. Was im Osten wächst, wird vom Westen
    gekauft. Ramelow fordert, dass mehr Steuern
    dort gezahlt werden müssen, wo Westkonzerne
    im Osten produzieren. Wenn jeder dritte
    Daimler­Motor aus Kölleda in Thüringen
    komme, dann könne ja wohl nicht alles Geld in
    Stuttgart landen! Aber wenn man das anspre­
    che, heiße es nur: »Die Ossis jammern.«
    Dass Ramelow sich schon traute, der Kämpfer
    für den Osten zu sein, als viele Ostdeutsche das
    noch nicht wagten, hat einen Grund. Er, in Nie­
    dersachsen und Hessen aufgewachsen, ging 1990
    als Gewerkschafter nach Thüringen. Hier erlebte
    er die Abwicklung der DDR­Wirtschaft so heftig
    mit, dass es ihn völlig ossifizierte.
    Wenn er jetzt höre, sagt Ramelow, die AfD
    sei ein Ostproblem, dann könne er nur sagen:
    »Es gibt einen neuen Ekelfaktor im West­Ost­
    Verhältnis, den ich erschütternd finde. Man
    kann sich schön gruseln über die Ostdeut­
    schen, die so komisch wählen.« Dass Ramelow
    der ewige Kämpfer für die Belange der Ossis
    ist, ermöglicht ihm andererseits eine gewisse
    Abgeklärtheit im Umgang mit denen, die zur
    AfD neigen. Anders als seine Ministerpräsiden­
    tenkollegen in Sachsen und Brandenburg will
    er nicht zu viel Verständnis für deren Wähler
    aufbringen; vor allem nicht für die, die der
    Meinung seien, die Demokratie habe ihnen
    sämtliche Wünsche zu erfüllen. Er findet, dass
    Demokratie kein Dienstleistungsbetrieb sei.
    »Ich kämpfe leidenschaftlich mit denen, die
    kämpfen.« Er mache auch
    nichts anders, nur weil die
    AfD da sei. Er messe die
    Qualität seiner Arbeit nicht
    am Abstand zur AfD. Ra­
    melows Reibeisenstimme:
    laut jetzt. Wenn ihn etwas
    anfasst, merkt man, dass
    Ramelow durchaus von
    Temperament ist.
    Der Ort, an dem er das
    öfter nicht zügeln kann, ist
    Twitter: Er belegt dort Journalisten, Gegner,
    manchmal Freunde mit Vorwürfen aller Art. Ra­
    melow sagt: »Ich habe dort meine eigene Souve­
    ränität. Ich kann da mal Dampf ablassen, wenn
    wieder einer behauptet, am Himmel seien Chem­
    trails. Manchmal wird mir das übel genommen.«
    Aber die Leute spürten, ob einer kantig sei. Die
    Zeit der aalglatten Karrieristen sei vorbei. Man
    dürfe sich mal emotional angefasst fühlen.
    Wie neulich, als er mit Schiebermütze und
    Poloshirt im Thüringer Wald auftauchte und von
    einer Gruppe wütender Demonstranten emp­
    fangen wurde, die Ramelows grüner Umwelt­
    ministerin vorwarfen, den Wald nicht richtig zu
    schützen. Ein Video zeigt, wie Ramelow immer
    lauter wird. Am Ende brüllt er: »Der Wald ver­
    reckt, seht ihr das nicht? Anderthalb Jahre haben
    wir fast keinen Regen gehabt, und da sagt ihr,
    Rot­Rot­Grün ist dran schuld!« Der Oberkörper
    wippt, da kann sich ein Ministerpräsident kaum
    bremsen, er hüpft auf und ab: »Wir müssen die
    Sämlinge einbringen!« Das Video wurde tausend­
    fach geklickt.
    Genau diese gelegentliche Wut trägt dazu bei,
    dass Ramelow einer der besten Redner in der
    deutschen Politik ist. Seine Assoziationsketten
    sind endlos: Er kann binnen zwei Minuten vom
    gesellschaftlichen Kitt, der verloren geht, was
    auch an der Digitalisierung liegt, zu Eisenbahn­
    strecken kommen, die komplett digitalisiert sind,
    weshalb es kaum noch Bahnwärter gebe, was
    dazu führe, dass immer mehr Böschungsbrände
    ausbrächen, und dann ist es natürlich wieder
    nicht weit bis zum Zustand des Waldes. Rame­
    low ist zudem ein Detailfanatiker, er kennt die
    Wurzeltiefe der Fichte und die Zahl der Azubis,
    die das Waldkrankenhaus Eisenberg in Partner­
    schaft mit einer Klinik in Ho­Chi­Minh­Stadt
    ausbilden lässt.
    Sein Sinn für Details komme von seiner Legas­
    thenie, sagt er. Als er ein kleiner Junge war, wurde
    die Lese­Rechtschreib­Schwäche nicht diagnos­
    tiziert, es hagelte Sechsen. Damals war es eine
    Demütigung. »Um sie zu kompensieren, bin ich
    Klassenclown geworden«, sagt er, »ich habe mir
    eine Härte zugelegt, eine Schale, an der später
    auch Beziehungen zerbrochen sind. Ich musste
    als sehr erwachsener Mensch lernen, wie sehr
    Härte, dieses Abschotten, den eigenen Partner
    verzweifeln lässt.«
    Andererseits habe er sich damals auch ge­
    quält, um in der Schule besser zu werden, er
    habe ganze Schriftbilder auswendig gelernt.
    Heute könne er 40­seitige Diktate ohne Pause
    heruntersprechen. Diese Zeit, sagt Ramelow,
    sei eine gute Vorbereitung auf das Leben in der
    Politik gewesen.


Bei Twitter kann


der Staatsmann


auch mal mächtig


Dampf ablassen


ANZEIGE


6 POLITIK 10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42


Jetzt direkt bestellen unter:

http://www.zeit.de/3monate


040 /42 23 70 70


*

*Bitte die jeweilige Bestellnummer angeben: 1834827 H13/1834828 H13 Stud./1835005 H13 Digital/1835006 H13 Digital Stud.

38 % sparen und


Geschenk sichern!


Lesen Sie 3 Monate lang DIE ZEIT für nur 44,20 € statt 71,50 €, und erfahren
Sie jede Woche das Wichtigste aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.
Als Dankeschön erhalten Sie einen Amazon-Gutschein im Wert von 15 €.

Print oder
digital





107515_ANZ_10751500015366_24535202_X4_ONP26 1 02.10.19 11:
Free download pdf