Die Zeit - 10.10.2019

(Wang) #1

M


it trockenem Mund
und dem Kompass in
der Hand steige ich
über Wacholdersträu-
cher, immer der Nadel
nach. Es fühlt sich an, als
wäre ich einem fetten
Schatz auf der Spur, dabei suche ich nur Was-
ser. Irgendwo hier müsste aus einem Fels ein
Bächlein sickern. Das zumindest zeigt der
Kreis auf der Landkarte, die ich gerade erst zu
lesen gelernt habe. Tatsächlich – dahinten höre
ich etwas plätschern. Joachim, unser Guide,
tritt neben mich und gibt mit einem Nicken
sein Okay: Das Rinnsal ist klar genug, um da-
raus zu trinken. Ich komme mir vor wie der
Pfadfinder, der ich nie war, und lasse meine
Flaschen volltröpfeln. Zivilisation, nimm das!
Ich bin unterwegs im Osten Korsikas. Eine
Woche lang ziehe ich hier durchs Unterholz, zu-
sammen mit Guide und zwölf anderen, mit
denen ich bis zu dieser Reise kaum mehr gemein
hatte als die Sehnsucht nach Natur. Diese Sehn-
sucht wollen wir beim Wildniswandern stillen:
Wir laufen auf Trampelpfaden abseits der großen
Wanderrouten und auch mal querfeldein. Wir
lernen, uns in der Natur zurechtzufinden, und
übernachten unter freiem Himmel. Unsere
Wasserflaschen füllen wir an Quellen und Bä-
chen, weil wir Städte und Dörfer meiden. Eine
Tour, so einsam, als wären wir nach einer Zom-
bie-Apokalypse die einzigen Überlebenden.
Wildniswandern mag nach Aussteigertum
und into the wild-Verehrung klingen. Aber es
hat klare Grenzen: Von der Natur müssen wir
uns nicht ernähren – wir schleppen alle Nah-
rung mit und ergänzen sie nur durch frische
Kräuter. Auch Campingkocher, Schlafsack
und Isomatte haben wir dabei; Route und
Rastplätze stehen vorab fest. Wildniswandern
soll in die Sinne gehen, nicht an die Substanz.
Ich gehöre zu jenen Wanderern, die Angeber-
Wanderstiefel besitzen, sie aber viel zu selten
tragen. Durch die Sächsische Schweiz und die
rumänischen Karpaten bin ich schon darin ge-
laufen; auch Alpengipfel habe ich bestiegen.
Solider Outdoor-Mittelbau. Aber länger als bis
zur nächsten Berghütte samt Kaiserschmarrn
hielt ich es selten aus. Dabei sehne ich mich, je
länger ich in einer Großstadt lebe, umso mehr
danach, mal richtig Teil der Natur zu sein – ohne
sie mit meinen Komfort-Ansprüchen zu stören.
Der Komfort dieser Reise endet mit dem
Schließen der Beifahrertür. Von der Hafen-
stadt Bastia hat man uns nach Cervione ge-
fahren. Auf den Straßen des Bergdörfchens
ist kaum ein Mensch, am Himmel kreist ein
einsamer Stein adler. Auf einem staubigen
Pfad, an dessen Rändern nur ein paar Sträu-
cher im Wind zittern, geht es bergan. Bei den


ersten Schritten fühlt sich der 20 Kilo schwe-
re Rucksack an wie ein Felsbrocken.
Der erste Ausblick. Ein »Hach« geht durch
die Gruppe, für das je nach Fitness die Schönheit
der Landschaft oder die Anstrengung der Aus-
löser ist; oder wie bei mir: beides. Ringsum
breitet sich die grüne Vegetation Korsikas aus,
die sich dicht wie ein Rollrasen über die ge-
samte Insel zieht. Das Mittelmeer liegt milchig
in weiter Ferne, die Luft schmeckt trotzdem
salzig. Es duftet streng, nach Oregano und Pfef-
ferminze und dem Schweiß des Vordermanns.
Drei, vier Stunden laufen wir weiter, vor uns
der Weg aus Geröll, die meiste Zeit geht es berg-
auf. Als Joachim seinen Rucksack auf einem
Plateau in die Wiese wirft und die Isomatte aus-
rollt, wissen wir, dass die erste Etappe geschafft
ist. Zwischen Farnen und getrocknetem Kuh-
dung lassen wir uns fallen. In Sichtweite fließt
trinkbares Wasser in einem Verhau für Hirten.
Am Himmel keine Wolke, der Boden fluffig
weich. Joachim empfiehlt, den Dung zu essen:
»Ist gesund!« Ich winke ab, wie die anderen auch,
und zeige auf meinen Müsliriegel. Joachim greift
zu, um zu beweisen, dass es schmeckt.
Im Kreis sitzend unterhalten wir uns und
lernen uns besser kennen. Da ist Kathrin, eine
Hebamme Mitte 40 aus Baden-Württemberg,
die all ihre Outdoor-Kleidung von Müttern aus-
geliehen hat, denen sie bei der Geburt half. Da
ist Michael, der in der Schweiz mit Windrädern

handelt – wie ich mag er Joe Cocker und korsi-
sches Bier. Da bin ich, mit 29 Jahren der mit
Abstand Jüngste. Und da ist Joachim, ein ehe-
maliger Bundeswehrsoldat, der heute in einer
Kindertagesstätte bei Kassel arbeitet und sich,
sooft es geht, in die Wildnis verzieht.
Vom Lagerplatz aus zeigt er ins Tal auf unse-
ren Startpunkt – das Dörfchen Cervione ver-
schwimmt im aufziehenden Nebel. Unseren
geschlängelten Pfad sieht man nicht, der Ort
wirkt aber ziemlich weit entfernt. Und das stei-
gert das Gefühl, etwas geschafft zu haben. Ich
widerstehe dem Drang, meinen Standort auf
Google Maps zu prüfen. Langsam bekomme ich
eine Ahnung, dass Wildnis genau das bedeuten
könnte: nicht mehr Bescheid zu wissen, wo man
eigentlich ist. Und das zu akzeptieren.
Wir setzen Tee aus gesammelten Kräutern
auf. Ein paar Minzblätter sind in meiner Ho-
sentasche welk geworden. Also koche ich Nu-
deln und Tütentomatensoße, garniert mit ei-
nem schlaffen Minzblatt. Schmeckt trotzdem.
Im Schlafsack liegend stelle ich mir beim
Blick auf den Vollmond später vor, wie es wohl
wäre, dort oben eine Wanderung zu machen,
ganz schwerelos. Irgendwann schlafe ich ein.
Als ich aufwache, fühlt es sich an, als hätte
ein korsisches Hausschwein meine Wirbelsäule
als Isomatte benutzt. Immer wieder bin ich
wach geworden, weil der Vollmond so hell wie
eine Nachttischlampe leuchtete, die ich ver-
gessen habe auszuknipsen. Außerdem bin ich
von meiner Matte gerollt – in der Abenddäm-
merung hatte ich mich versehentlich am Rand
einer Mulde zum Schlafen gelegt. »Die erste
Nacht ist die schlimmste«, sagt Joachim, und
ich würde ihm diese Alles-wird-gut-Einstellung
gern abnehmen. Aber dann trete ich barfuß in
eine Distel.
Die einzigen Spuren, die wir nach dem Auf-
bruch hinterlassen, sind umgeknickte Gras-
halme und vierzehn weiß-bläuliche Kleckse vom
morgendlichen Zähneputzen. Die aufgehende
Sonne wärmt unsere Gesichter. Schon nach
kurzer Zeit bin ich wieder schweißgebadet. Die
Haare, für die ich vor dem Badezimmerspiegel
zu Hause ein wenig Gel verwende, hängen mir
nass ins Gesicht. Verdammte Zivilisationsfrisur.
Ich beneide Joachim um seine kurzen Haare.
Unter mir rollen Mistkäfer ein Vielfaches ihres
Körpergewichts in Kugelform über unsere
Pfade, und ich frage mich, wie die das machen.
»Eine Bergwanderung ist wie eine Geburt«, sagt
Kathrin, die Hebamme, hinter mir mit glühen-
dem Kopf. »Man glaubt, man kann nicht mehr.
Aber zum Schluss kommt etwas Gutes heraus.«
Wie viele Kilometer wir heute vor uns haben,
will Joachim uns nicht verraten – wie gestern
schon. Wenn ich zu Hause joggen gehe, messe
ich per GPS-Uhr jeden Meter und jede ver-

brauchte Kalorie. Doch auf dieser Wildnisreise
ist Erfolg keine Zahl, sondern ein Gefühl. Das
Gefühl, sich wieder ein Stück überwunden zu
haben, wieder ein Stück mehr in der Natur
angekommen zu sein. Ab dem zweiten Tag wan-
dern wir in einer Art Zwischenwelt: Die
schummrigen Lichter der Bergdörfer in weiter
Ferne und vereinzelte Motorenklänge sind die
einzige Erinnerung daran, dass es irgendwo
noch andere Menschen gibt – wir begegnen so
gut wie keinem.
Immer wieder laufen wir durch den Busch-
wald Korsikas, die Macchia, und ich fühle mich
wie Asterix und Obelix, die in dem Gestrüpp
einst den Römern entkamen. Vor einem Jahr
gab es in dieser Region einen großen Wald-
brand. Teile der Vegetation sehen deshalb aus,
als hätte man sie mit einem gigantischen Kamm
rabiat durchgebürstet. Unter den verkohlten
Ästen blühen schon wieder allerlei Blumen und
Kräuter. Die rußfarbenen Stacheln und Dornen
sind noch immer scharf.
»Mit der Macchia musst du tanzen«, sagt
Joachim, als wir ein längeres Stück vor uns ha-
ben. Doch als ich kurz darauf durchs Gestrüpp
laufe, komme ich mir vor wie nach dem sechsten
Bier beim Abi-Ball. Und schon nach wenigen
Schritten sind die Waden zerkratzt, die an den
Rucksack geklemmte Isomatte verfängt sich in
den Dornen. Michael, der heute besonders viel
Energie zu haben scheint, setzt sich an die Spit-
ze der Gruppe. Er funktioniert seine Trekking-
stäbe zu Macheten um und schlägt uns einen
Pfad frei. Dabei stimmt er Don’t Stop Me Now
von Queen an, und wie ein riesiges Insekt mit
26 Füßen trotten wir ihm konzentriert hinterher.
Normalerweise geht Joachim voran. Was
sich in den folgenden Tagen verändert, ist aber,
dass wir uns hinter ihm immer selbstbewusster
durch die Natur bewegen. Wir haben gelernt,
Brennnesseln zu pflücken, Wasserfilter zu be-
dienen und Karten zu lesen. Wir werden nicht
mehr hysterisch, wenn eine Quelle oder ein Pfad
so zugewuchert ist, dass selbst Joachim ein paar
Stunden suchen muss. Unsere persönlichen
Lieblingsschlafplätze finden wir so intuitiv wie
unser Bett zu Hause – Kathrin legt sich unter
Bäume, die den Boden vor Feuchtigkeit schüt-
zen. Ich habe meinen Frieden mit dem Mond
gemacht: In einem Bett aus Farn, das weicher
ist als jede Ikea-Matratze, schlafe ich mit Blick
auf die Sterne schnell ein.
Anstrengend ist unsere Tour wegen des
Gepäcks so gut wie immer. Brenzlig wird es
nie. Die Wildnis ist ein Spiel. Und Joachim
sorgt dafür, dass immer wir gewinnen. Mit
ihm erleben wir Möchtegern-Wilden den
kontrollierten Kontrollverlust. Puristen wür-
de vielleicht die existenzielle Verzweiflung
fehlen. Ich aber fühle mich ganz wohl bei

dem Gedanken, mich weder verlaufen zu
können, noch verdursten zu müssen.
»Wo gibt es hier Bier, wo gibt es Wein?«, ruft
Michael am Nachmittag des vierten Tages. Er
lacht dabei, aber es klingt auch nach einem
halben Promille ernster Verzweiflung. Uns wird
allmählich bewusst, was wir an der Zivilisation
vermissen. Ich sehne mich nach einer normalen
Sitzgelegenheit. Kathrin vermisst ein Kissen.
Dem Pärchen der Gruppe geht der Kaffee aus.
Und Michael hat eben Durst. Er zückt schließ-
lich sein Handy, schaut auf Google Maps nach
dem nächsten Dorf – und kehrt fast drei Stun-
den später zurück mit einem Rucksack, den wir
von Weitem klimpern hören: zwei Flaschen
Wein, ein Sixpack korsisches Bier. Wir sitzen
beisammen und stoßen auf die Vorzüge der
Zivilisation an, ohne darüber zu sprechen.
Schon nach wenigen Schlucken fühle ich
mich angetrunken. Allein hocke ich mich an
eine Felsklippe, fahre mit den Augen die Sil-
houette des korsischen Mittelgebirges auf und
ab, immer wieder. Und frage mich, ob wir da
oder dort nicht schon entlanggelaufen sind. Zu
Hause würde ich jetzt Netflix schauen. Hier
fühle ich mich plötzlich von Felsmassiven gut
unterhalten. Und käme die Zombie-Apoka lypse
tatsächlich, hier oben würden wir inzwischen
locker ein paar Tage länger überleben.
Irgendwann im Morgengrauen, als ich
noch im Schlafsack liege, stupst etwas gegen
meine Brust. Ich reiße meine verschlafenen
Augen auf. Es ist ein Fuchs. Ich stütze mich
auf, der Fuchs schleicht um mich herum. Für
ein paar Sekunden blicken wir uns neugierig
in die Augen. Bis wir begreifen, dass wir et-
was völlig Verschiedenes von ein an der wollen:
ich ein Selfie mit ihm, er einen Schuh von
mir. Mit dem Klicken und Geblinke meiner
Kamera verscheuche ich ihn unabsichtlich.
Kurz darauf sehe ich, wie er Michaels Stie-
fel durchs Unterholz schleppt. Mit meinen
Rufen wecke ich Michael. Er springt auf,
hastet dem Fuchs barfuß hinterher und wirft
Äste nach ihm. Erst dann lässt das Tier den
Schuh fallen und verschwindet im Gebüsch.
Füchse habe ich bisher nur gesehen, wenn
ich sie auf einer Landstraße fast überfahren
hätte. Später, als ich wieder zu Hause bin, be-
trachte ich daher gespannt die Bilder auf mei-
ner Kamera – und bin enttäuscht: Auf dem
Selfie ist nur mein Gesicht scharf zu sehen.
Vom Fuchs erkennt man kaum mehr als einen
verschwommenen orange far be nen Punkt.
Ja, ja, denke ich mir, ich hab’s schon ka-
piert: Wahre Wildnis lässt sich nicht messen
oder greifen – und schon gar nicht mit nach
Hause nehmen

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REISE


Wildnis bedeutet, nicht mehr Bescheid zu wissen, wo man eigentlich ist. Und das zu akzeptieren

Foto: Robert van Waarden/Plainpicture

KOR S I K A


In die Wildnis
Unser Autor war mit dem Anbieter
»Wildniswandern« unterwegs. Der
bietet ähnliche Touren zum Beispiel
in Norwegen, Tschechien und den
Vogesen an. Die Wanderung auf
Korsika findet immer im Juni statt –
Preis ohne Anreise ca. 500 Euro.
wildniswandern.de

In die Weite
Der bekannteste Fernwanderweg auf
Korsika ist der GR20, der auf
200 Kilometer Länge vor allem durch
das Hochgebirge von Norden nach
Süden führt. Kürzer und gemütlicher
ist der Mare a Mare Sud. Er zieht sich
von West nach Ost vor allem durchs
Mittelgebirge. korsika.com

Ich macchia


Korsika


Bei einer Wildniswanderung im


Osten der Insel lernt MARCEL LASKUS, wie


es sich anfühlt, auf jeglichen Komfort


zu verzichten


76 10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42

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