Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 06.10.2019

(Axel Boer) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40 leben 11


A


A ls Ralph


Fiennes zum Interview erscheint, hält er
den Blick gesenkt. Man kennt das; auf die-
se Art pflegen Prominente, denen der
Auflauf zu viel ist, durch Menschenmen-
gen zu gehen. Doch eine solche gibt es
hier jetzt gar nicht, an diesem Sommer-
tag, dessen Hitze durch die dicken Mau-
ern dieses Münchener Nobelhotels nur
unzureichend draußen gehalten wird; vor
der Konferenz-Suite, wo die Interviews
stattfinden sollen, wird nicht mal eine
Handvoll Journalisten Zeugen der An-
kunft des britischen Schauspielers. Aber
der vorenthaltene Blick, denke ich da,
passt zu der Zurückhaltung und Scheu,
die Fiennes privat nachgesagt werden.
Später, als ich nach einer originelleren Er-
klärung suche, fällt mir ein: Vielleicht
muss er mit der Intensität dieses Blicks,
den er schon vielen Gestalten auf Bühne
und Leinwand geliehen hat, haushalten.
Doch das hieße natürlich, den Mann hem-
mungslos zu romantisieren.
Andererseits, Ralph Fiennes zu roman-
tisieren ist eine lässliche Sünde, zumal
wenn man eine gewisse Disposition mit-
bringt. Sein Oeuvre ist erstaunlich weit
gespannt, sowohl was die Genres als
auch die Figuren betrifft; tatsächlich war
er nach München gekommen, um einen
Preis für sein Lebenswerk entgegenzu-
nehmen – mit gerade mal 56. Internatio-
nal zum ersten Mal auffällig wurde er
1993 als KZ-Kommandant Amon Göth
in „Schindlers Liste“; Millionen Zuschau-
er kennen ihn als den James-Bond-Gehil-
fen „M“ sowie, hinter Schichten von
Make-up und Spezialeffekten hervor-
blickend, als den Schurken Lord Volde-
mort aus mehreren Harry-Potter-Fil-
men. Beängstigend war er als Kannibale
in „Red Dragon“, überraschend komisch
in „Grand Budapest Hotel“.
Am Theater, in dem er nach einem
kurzen Flirt mit der Malerei seine Kar-
riere begann, ist die Liste seiner Rollen
länger als die von Boris Johnsons politi-
sche Pleiten: In einer Produktion des
„Lear“ spielte er die Rolle des jungen Ed-
mund, in einer anderen, Jahre später,
den alten Titelhelden; für seinen „Ham-
let“, 1995 aus London an den Broadway
verpflanzt, erhielt er einen Tony. Sogar
an einerromantic comedyhat er sich ver-
sucht, in „Manhattan Love Story“, sah
aber den ganzen Film hindurch aus, als
habe er sich an seinem Text den Magen
verdorben. (Oder war es Partnerin und
love interestJennifer Lopez?)
Doch bei aller breiten Großartigkeit
seiner künstlerischen Unternehmungen
gibt es da so etwas wie die Ralph-Fien-
nes-Figur, für die er in besonderem
Maße wie geschaffen scheint, ohne dar-
auf festgelegt zu sein (ein Schicksal, das
gerade viele seiner Kolleginnen kennen).
„Ich kann schon auch glücklich spielen“,
sagte er einem Journalisten des „Guar-
dian“. Dem Publikum am meisten im Ge-
dächtnis bleiben aber jene seiner Charak-
tere, deren Fiebrigkeit dicht unter der
Oberfläche ist, sich direkt aber nur selten
zeigt: der verlassene Liebhaber in „Das
Ende einer Affäre“, der gegen Gott den
Kürzeren zieht; der Diplomat in „Der
ewige Gärtner“, der den gewaltsamen
Tod seiner Frau recherchiert. „Verlust“,
schrieb der „Guardian“-Kollege. „Ah ja,
den Verlust kann Ralph Fiennes spielen.“
Dazu passt sein Gesicht, das immer
dann am meisten auszudrücken scheint,
wenn es sich kaum bewegt; seine Schwes-
ter Martha, die ihn als Regisseurin durch
die Puschkin-Adaption „Onegin“ führte,
wusste wohl, warum ihre Kamera so oft
darauf stillhält. „Wenn Sie zeigen wollen,
was in jemandes Kopf vor sich geht, ist
das Gesicht Ihre wichtigste Landschaft“,
hat Fiennes selbst der „Financial Times“
erklärt. Wer könnte das in einer Art Mas-
ke erstarrte Gesicht des „Englischen Pa-
tienten“ im gleichnamigen Film verges-
sen, die Apotheose dieser Fiennes-Rol-
len, wenn er auf einer Party in Gegen-
wart ihres Ehemannes mit seiner zukünf-
tigen Geliebten tanzt? Er ist ein Mann,
der von einer unmöglichen Liebe ver-
zehrt wird – und das später recht buch-
stäblich, als er einen Flugzeugabsturz
überlebt, aber so verbrannt ist, dass er
kaum identifiziert werden kann.
Von seinem Privatleben gibt Fiennes
nur widerwillig etwas her. Seine Ahnen-
reihe ist eindrucksvoll, sein voller Name
Ralph Nathaniel Twisleton-Wykeham-
Fiennes, und der „Ralph“ wird passend
auffällig ausgesprochen, etwa „Räif “; oft
berichtet er von seiner Familie, die von
Künstlern bevölkert ist, darunter auch
seine fünf Geschwister (Bruder Joseph
wurde als „Shakespeare in Love“ be-
rühmt). Einige Jahre lang war seine Be-
ziehung zu der Kollegin Francesca An-
nis immer wieder Medienthema, offen-
bar weil als sensationell betrachtet wur-
de, dass sie 15 Jahre älter war als er. (Ken-
nengelernt hatten sich die beiden wäh-
rend einer „Hamlet“-Produktion, in der
er den Prinzen und sie seine Mutter
spielte.) Seine dating choices nach der
Trennung 2006 – Stewardess, Sängerin



  • führten zu mancherlei gehobenen Au-
    genbrauen.
    Ohne dietabloidsverteidigen zu wol-
    len: Doch scheint Fiennes zu jener Art
    von prominenten Künstlern zu gehören,
    bei denen das Interesse der Öffentlichkeit
    über die schmuddelige Form der Neugier
    hinausgeht. Insbesondere bei Schauspie-
    lern und Musikern, in deren Schaffen wir
    uns selbst wiederzuerkennen glauben, hof-
    fen wir doch, das möge daran liegen, dass
    siemit unsfühlen – nicht nur daran, dass
    sie begnadete Handwerksmeister der Mi-
    mikry sind (was allerdings auch keine ge-
    ringe Leistung ist).
    Dazu gleich mehr; jetzt aber sitzt Fien-
    nes erst einmal auf einer Chaiselongue in
    der Hotel-Suite. Und er hat alles mitge-
    bracht: die tiefliegenden Augen, die so
    brennen können, den schmalen Mund,
    das Profil eines römischen Centurios. Er
    soll hier auch seinen Film „Nurejew –
    The White Crow“, bewerben (der, wäh-
    rend Sie das lesen, in den deutschen Ki-
    nos läuft), seine dritte Arbeit als Regis-
    seur, über den russischen Tänzer Rudolf
    Nurejew, der 1961 in den Westen flüchte-
    te; Fiennes spielt dessen Ballettlehrer. Er
    ist aufgeräumt, wenn auch ein bisschen
    müde, aufmerksam, auf der Hut, nach-
    denklich. Besonders lebhaft wird er wer-
    den, wenn er von seiner Arbeit spricht.
    Mr. Fiennes, in Ihrem neuen Film fal-
    len zwei Momente auf. In einem, ge-
    gen Ende, sitzt Nurejew am Pariser
    Flughafen und muss sich entscheiden:
    Zurück in die Sowjetunion – oder de-
    sertieren? Russische Offizielle haben
    ihm gedroht, seine Freunde haben
    ihn bestürmt. Tür A oder Tür B sozu-
    sagen. Er sitzt da so ganz allein mit
    dieser Entscheidung. War es diese
    Art Einsamkeit, was Sie an diesem
    Stoff interessiert hat?
    Ja, ein wenig schon. Er ist der Außen-
    seiter, nicht wahr.
    Ist diese innere Unabhängigkeit und
    die Fähigkeit zur Einsamkeit etwas,
    was man als Künstler braucht?
    Oftmals ja. Ich würde ungern sagen,
    immer, aber oft.
    Wo äußert sich das?
    Im Theater gehört man natürlich zu ei-
    nem Ensemble, und man muss täglich
    mit anderen umgehen. Und es gibt trotz-
    dem ein inneres Gefühl von Abgeschie-
    denheit. Ich weiß nicht. In Nurejew zu-
    mindest haben wir den Fall einer Persön-
    lichkeit, die ein wenig für sich stand. Oft
    hat das etwas mit Selbstschutz zu tun. Er
    war in Wahrheit sehr verletzbar, aber
    wenn er glaubte, sich verteidigen zu müs-
    sen, weil er sich nicht respektiert fühlte
    beispielsweise, äußerte sich das aggressiv.
    Diese Art Temperament: Darin habe ich
    etwas wiedererkannt. Ich glaube, ich hät-
    te ihn gemocht.
    Ein weiterer Moment kam in einer
    Szene, als die Vorstellung eben ge-
    endet hat, Nurejew noch auf der Büh-
    ne steht, der Vorhang öffnet sich –
    und man sieht aus seiner Perspektive
    diesen Innenraum, mit all den Bal-
    kons und Logen, und die Zuschauer
    klatschen sich die Seele aus dem
    Leib. Ist das ein Erlebnis, das man als
    Schauspieler genießt?
    Natürlich. Weil man alles gegeben und
    eine Verbindung zum Zuschauer gefun-
    den hat – der Applaus sagt einem, dass
    das passiert ist. Natürlich streichelt es ei-
    nem das Ego, wenn einem applaudiert
    wird. Aber wenn man eine anspruchsvol-
    le Rolle spielt, hat man alles von sich
    hergegeben, um das Publikum auf eine
    Reise mitzunehmen. Es ist wie der Ab-
    schluss einer Konversation. Das passiert
    auch nicht jedes Mal. Schauspieler sind
    sehr empfindlich, wenn der Beifall nur
    höflich ist(klatscht lahm in die Hände):
    „Danke für die Mühe.“ Aber wenn das
    Publikum begeistert reagiert – ein groß-
    artiges Gefühl.
    Man fragt Leute aus Ihrem Berufs-
    feld ja gerne nach ihrem ersten Ich-
    will-Schauspieler-werden-Moment.
    Ich habe gelesen, Ihrer kam, als Sie
    acht oder neun Jahre alt waren und
    Ihre Mutter Ihnen „Hamlet“ auf dem
    Plattenspieler vorspielte, gesprochen
    von der Schauspielerlegende Lau-
    rence Olivier. Was genau hat Sie da
    so fasziniert?
    Es hängt zusammen mit der Stimme
    und der Sprache und der Emotion. Mei-
    ne Mutter gab mir den Kontext, indem
    sie mir die Handlung in ihren eigenen
    Worten erzählte. Das ist ja eine sehr ver-
    störende Geschichte, und als sie von
    dem toten Vater und der wiederverheira-
    teten Mutter und dem Onkel sprach,
    der den Vater ermordet hat – ich konn-
    te ja nicht anders, als zu glauben, es
    gehe da um mich: Das bedeutet,
    Mummy geht jetzt zu meinem Onkel
    (lacht).
    Sie hatten einen so beängstigenden
    Onkel?
    Nein, er war ein guter Mann(lacht).
    Meine Mutter gab mir also den Kontext
    und sagte: Und jetzt spiele ich dir etwas
    vor. Ich habe eine Erinnerung, es war
    der berühmte Monolog, der anfängt:
    „Oh schmölze doch dies allzu feste
    Fleisch“. Da heißt es über Hamlets
    Mutter, die den Onkel so überstürzt
    zum Mann genommen hat: „In einem
    Mond... War sie vermählt!“ Und Oli-
    vier macht diese Betonung: „In einem


Mond.. .“!(spielt es nach, lacht). Auf ei-
nen Jungen macht so etwas Eindruck.
Hatten Sie jemals im Leben einen
Moment, wo Sie jemanden trafen,
den Sie wirklich beneidet haben? Bei
dem Sie gesagt hätten: Ich bin glück-
lich mit mir als Person, aber mit ihm
oder ihr würde ich tauschen?
Habe ich. Ich habe einen gutartigen
Neid für einen großartigen Schauspie-
ler, Rade Šerbedžija. Er ist ein großer
Star im ehemaligen Jugoslawien.
War auch schon in Mainstream-Fil-
men im Westen zu sehen.
Ich kenne ihn ein wenig. Er ist voller
Leben. Er nimmt es ohne Vorbehalte
an. Einer der besten Schauspieler, die
ich kenne, purer Ausdruck.
Na ja, ein exzellenter Schauspieler
sind Sie auch.
Ja, aber ich sehe das und denke:
Wunderbar.
* * *
Nun lassen sich auch diese speziellen
Fiennes-Augenblicke finden, die sich
nicht aus seinem Gesicht, sondern ganz
aus der Stimme ergeben – so beispiels-
weise in der Hörbuchfassung des „Engli-
schen Patienten“, die Fiennes (in gekürz-
ter Form) eingelesen hat. Dort gibt es
eine Passage, die als Teil der Notizen des
enigmatischen Wüstenabenteurers einge-
führt wird; in diesen liest die (ebenfalls
durch den Krieg versehrte) Kranken-
schwester herum, während er auf seinem
Lager morphiumunterstützt durch seine
Erinnerungen driftet.
„Es gibt einen Wirbelsturm in Süd-
marokko, denaajej,vor dem sich die Fel-
lachen mit Messern schützen“, liest Fien-
nes (im Original selbstredend auf Eng-
lisch). „Es gibt denafrico,der zuzeiten
bis in die Stadt Rom vorgedrungen ist.“
Von einem Wind namens „–“ ist die
Rede, dessen Namen von einem König
getilgt wurde, nachdem sein Sohn darin
umkam, und einem, den die Seeleute des
roten Staubes wegen „Meer der Dunkel-
heit“ nennen.
Man mag sich da denken: Winde?
Und doch liest Fiennes diese Zeilen mit
einer solchen zurückgenommenen Sehn-
sucht und Sinnlichkeit, vermählt diese so
ingeniös mit dem Lyrizismus der viel-
fach ausgezeichneten Romanvorlage von
Michael Ondaatje, dass sich diese drei
Minuten hören lassen, wie manch einer,
sagen wir, die Jupiter-Symphonie hört.
Sie taugen für Zeiten, in denen in unse-
rer Seele ein klammer November
herrscht, weil sie uns, wie ein Biograph
einst über Shakespeare schrieb, damit
versöhnen, Menschen zu sein.
Für die Filmversion wurde die Passage
in eine Szene transkribiert, in welcher
der „Patient“ und seine große Liebe
(Kristin Scott Thomas) während einer
Expedition viele Stunden lang einen
Sturm im selben Lastwagen aussitzen
müssen, nur diese beiden, zwischen de-
nen noch gar nichts vorgefallen ist. „Las-
sen Sie mich Ihnen etwas über die Win-
de erzählen“, beginnt er, und als er vom
ghibliaus Tunis berichtet, amüsiert sie
sich noch über den kuriosen Namen.
Doch während er weiterspricht, berührt
er sie zum ersten Mal, indem er ihr
übers Haar streicht, und ihr Ausdruck
wird ernst. Es ist ein Augenblick, der
den Zuschauer schmachtend zurücklässt.
Mr. Fiennes, wenn man so eine Szene
dreht – weiß man da schon, welche
Wirkung sie haben wird?
Wir wussten, als wir die Szene drehten,
dass es eine wichtige Szene war: dass
sich in dieser Beziehung plötzlich etwas
verschiebt. Dass da Intimität entsteht,
zweifelsohne eine sexuelle. Etwas in ihm
weiß, dass da eine Anziehung ist.
Deshalb hat er sie, die Verheiratete,
bisher immer auf Distanz gehalten.
Ja.
Aber denkt man da beim Drehen, das
wird ein MOMENT?
Ja, das kann man, aber das ist immer
ein bisschen gefährlich. Denn dann
spielt man es als einen MOMENT. Im
Drehbuch kann man natürlich ahnen:
Ah, das wird ein Kino-Moment. Ideal
ist es bei solchen Szenen, wenn man ge-
nug Zeit hat, eine bewusst zurückhalten-
de Version zu drehen – und eine voll-
ausgebildete Kino-Moment-Version. Ein
guter Regisseur wird sagen: Spielt es ein-
fach. Wenn der Moment in sich stark
ist, müsst Ihr mir das in Eurem Spiel
nicht extra zeigen.

* * *
Im „Englischen Patienten“, der Buch-
und Audiobuchversion, stößt man auch
auf einen Satz, der die verdichtete Verkör-
perung dessen scheint, was Fiennes mit
uns anstellt. Er findet sich nach etwa zwei
Dritteln, die Geschichte des „Patienten“
und seiner Geliebten ist da immer wieder
umkreist worden, aber eines steht im De-
tail noch aus, und es wird scheinbar un-
scheinbar angekündigt: „I promised to
tell you how one falls in love“, schreibt
Ondaatje und liest Fiennes vor: Ich habe
versprochen, Ihnen zu erzählen, wie man
sich verliebt. – Und ob wir das selbst le-
sen oder, noch besser, Fiennes es uns vor-
trägt: Wir warten fast atemlos, wie es wei-
tergeht. Ralph Fiennes ist der Name ei-
nes unserer Verführer.
„Nurejew – The Crow“ läuft im Kino.

Das Gesicht als Landschaft: Fiennes 2016 in London (großes Bild); in seinem neuesten Film „Nurejew – The White Crow“, bei dem er
auch Regie führte (unten links), und als „Der englische Patient“, 1996. Fotos Alamode, Getty, Ullstein

Über Einsamkeit, Applaus, den Plattenspieler seiner


Mutter, gutartigen Neid und einen Wüstenwind namens


„Ghibli“: Ein Treffen mit dem englischen Schauspieler.


Von Bertram Eisenhauer


Einen Moment


bitte, Mr. Fiennes

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