Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 06.10.2019

(Axel Boer) #1

48 reise FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40


Der letzte weiße Fleck


HMS ,Erebus‘, auf See,
8.Juni 1845, 22 Uhr
Ich beginne heute, denn ich bin bester
Stimmung. Mehr noch: Ein jeder an
Bord ist mit sich und der Welt zufrieden.
Der Wind weht frisch, wir machen sie-
ben Knoten Fahrt. Die See ist zwar ver-
gleichsweise ruhig, aber das Schiff rollt
dennoch ein wenig. Interessanterweise
macht sich das an Deck deutlicher be-
merkbar. Dort hat man den Eindruck,
dass es stark rollt und stampft, während
man unter Deck meinen könnte, dass es
stabil und aufrecht segelt.“
Mit der verspäteten Abfahrt begann
nun auch die eigentliche Arbeit der Expe-
dition. Sir John Franklin rief seine Offizie-
re zusammen, um die Anweisungen der
Admiralität an sie weiterzugeben, mit ih-
nen „die Notwendigkeit, alles, was uns be-
gegnet, einer eingehenden Betrachtung
zu unterziehen, sei es ein Floh, sei es ein
Wal“. Besonderen Wert legte er darauf,
dass jeder an Bord alles von Bedeutung
festhielt, entweder schriftlich in Tage-
buchform, als Zeichnung oder Gemälde.
Sein wissenschaftlicher Ehrgeiz wurde
nur von seinem religiösen Eifer übertrof-
fen. Bei jedem Wetter hielt er sonntags
eine Andacht ab, zu der auch eine Predigt
gehörte. Dabei kam ihm zugute, dass er
laut Fitzjames ein sehr eindrucksvoller
Redner war. „Sir John Franklin hat heute
eine Andacht abgehalten und dabei so
schön gepredigt, dass sich der Wirkung
seiner Worte wohl niemand entziehen
konnte“, notierte er an einem dieser
Sonntage. Mit seiner Offenheit, seiner
Gutmütigkeit und der Zuversicht, mit
der er den Dingen entgegensah, die vor
ihnen lagen, gewann Franklin die Offizie-
re und die Mannschaft gleichermaßen für
sich. Fairholme etwa bekannte freimütig:
„Seit wir losgefahren sind, ist Sir John ein
anderer Mensch. Er sieht zehn Jahre jün-
ger aus und zeigt für alles, was an Bord ge-
schieht, derart viel Interesse, dass man
meinen könnte, er sei seit seiner ersten
Reise nicht gealtert.“ Franklin selbst ge-
noss offensichtlich die Sympathie, die
ihm entgegenschlug. In einem Brief an
Sir Edward Parry schrieb er: „Es würde
Ihr Herz erfreuen, zu sehen, mit wel-
chem Eifer die Offiziere und Mannschaf-
ten auf beiden Schiffen zu Werke gehen
und wie freundschaftlich der Umgang
miteinander ist.“
Sir John war ein umgänglicher
Mensch, der die Gesellschaft anderer
nicht nur genoss, sondern sie auch such-
te. Die Tür zu seiner Kabine war selten
verschlossen, und häufig lud er die drei
höchsten Offiziere abends ein, mit ihm
zu essen. Zu den regelmäßig Geladenen
gehörte auch Captain Crozier, was den
jedoch nur bedingt freute. Immerhin
musste er sich für solche Anlässe mit ei-
nem kleinen Beiboot über den bewegten
Nordatlantik und wieder zurück fahren
lassen. Sein Unwille, an den Essen teilzu-
nehmen, mag auch Franklins Angewohn-
heit geschuldet gewesen sein, sich bei
Tisch lang und breit darüber auszulas-
sen, wie ungerecht er in Van-Diemens-
Land behandelt worden war, und anzu-
kündigen, zu seiner Rechtfertigung ein
Schriftstück verfassen zu wollen. Seinem
ehemaligen Kommandanten Sir James
Clark Ross gegenüber sprach Crozier
zwar von „der Ehre, die Sir John mir er-
weist, indem er mich an seinen Tisch bit-
tet“, aber er stellte auch klar: „Ich habe
nicht die geringste Lust, an Bord der
,Erebus‘ zu gehen.“ Im Zweifel schützte
er ein Unwohlsein vor.
Abgeschreckt haben mag Crozier
auch, dass er bei seinen Besuchen bei Sir
John zwangsläufig auf Fitzjames traf. Zwi-
schen beiden herrschte zwar keine offene
Feindschaft, aber dass die Admiralität
Fitzjames mit den Messungen des Magne-
tismus betraut hatte, gefiel Crozier ganz
und gar nicht. Was nachvollziehbar war.
Nach vier Jahren, die er mit James Clark
Ross unterwegs gewesen war, war er der
weitaus erfahrenere Seemann. Und seine
Arbeit über den Erdmagnetismus hatte
ihm die Mitgliedschaft in der Royal Socie-
ty eingetragen.
Während einer kurzen Wetterbes-
serung brachten sie ein Netz aus und
ließen es bis auf fünfhundert Meter Tiefe
absinken. Harry Goodsir zeigte sich von
dem Fang, den sie machten, begeistert,
denn mit dem Netz zogen sie Mollusken
und Plankton an Bord, und er brannte
darauf, die Rolle zu ergründen, die sie in
der Meeresökologie spielen. Fitzjames
war weniger angetan, er machte sich gar
über Goodsir lustig, weil der „über einen
Beutel mit einer schwabbeligen Masse in
Verzückung gerät, die er aus dem Wasser
gezogen hat und die sich bei näherem
Hinsehen als Nahrung für Wale und an-
dere Meerestiere erweist“.

Wir wissen nicht, wie es den Ochsen
auf der „Barretto Junior“ erging, als die
Schiffe wieder gegen einen Sturm anfuh-
ren, aber wenn man Fairholme Glauben
schenken darf, wuchsen den Menschen
auf der „Erebus“ allmählich „Seebeine“.
Und der Bordhund Neptun, den alle nur
Old Nep nannten, lief inzwischen mit
großer Selbstverständlichkeit den Nie-
dergang hoch und runter. „Er ist der lie-
benswürdigste Hund, den ich kenne“,
schrieb Fairholme, „und so oder ähnlich
denken alle an Bord.“ Der Affe Jacko war
„zum Leidwesen des ganzen Schiffes ein
notorischer Dieb, aber es findet sich nie-
mand, der ihm auch nur ein Haar krüm-
men würde“.
In den folgenden Tagen mussten sich
die Schiffe durch eine ungute Mischung
aus Nebel und Gischt kämpfen. Unter
Deck gingen derweil die Vorbereitungen
für die Tage, Monate und Jahre weiter,
die vor ihnen lagen. Die Bücher, die sie
mitgenommen hatten, wurden in die Re-
gale einsortiert. Reid, der rauhbeinige
schottische Eislotse, unterhielt die zu-
meist wesentlich jüngeren Offiziere mit
Anekdoten aus seinem langen Seefahrer-

leben, in die er zahlreiche praktische
Tipps einflocht – wie man einen versalze-
nen Fisch wieder genießbar macht oder
wie man Eisblink erkennt, jenes Phäno-
men, das durch die mehrfache Brechung
des Lichts über einer Eisfläche entsteht.
Mitunter bestand auch Anlass zum Fei-
ern. So wurde am 18. Juni der dreißigste
Jahrestag der Schlacht bei Waterloo be-
gangen, indem der Kapitän und seine Of-
fiziere auf das Wohl des Duke of Wel-
lington anstießen.
Dieser Tag war auch für James Fitz-
james nicht wie jeder andere, denn in
einem Brief an William Coningham
deutete er eine mögliche Beförderung
an. „Als wir England verließen, war
gerüchteweise davon die Rede, dass ich
an diesem Tag befördert werden könnte.
Wenn dem so ist, dann werde ich wohl
zum Captain ernannt. Mit diesem Ge-
danken habe ich mir um halb zehn ein
Glas Brandy eingeschenkt, etwas Wasser
hinzugegeben und auf Ihr Wohl getrun-
ken.“ Er fügte hinzu, dass seine Ange-
wohnheit, nächtelang Briefe zu schrei-
ben, nicht unbeobachtet geblieben war.
„Reid kam zu mir, kratzte sich am Kopf

und meinte: ‚Wann schlafen Sie eigent-
lich, Sir? Sie schreiben ja immer.‘ Ich
habe ihm erklärt, dass ich nur halb so
viel Schlaf brauche wie andere.“
Allmählich näherten sie sich Grön-
land. Fitzjames zeigte sich tief beein-
druckt davon, wie klar und rein das Was-
ser in diesen Breitengraden war. „Die See
ist von geradezu unheimlicher Transpa-
renz, sie schimmert in einem schönen,
zarten und kalten Grün bis Ultramarin.
Die Wellen sind lang, und wenn sie auf
uns zurollen, wirkt es, als wären sie aus ei-
nem Stück Glas herausgeschnitten. Man-
che ist mit einer schön anzusehenden
Schaumkrone versehen, die an die Blume
auf einem Bierkrug erinnert.“ Weil die
Gefahr, auf Eis zu stoßen, mit jedem Tag
stieg, wurde im Topp des Großmastes das
Krähennest montiert, eine Vorrichtung,
die der Kapitän eines Walfangschiffes
und spätere Polarforscher William
Scoresby 1807 erfunden hatte. Sie bestand
aus einer Plattform mit einer Wandung
aus Segeltuch, das zwischen zwei Metall-
ringe gespannt war. Hier oben, dreißig
Meter über dem Deck, war der Arbeits-
platz des Eislotsen Reid.

In der letzten Juniwoche drehte der
Wind auf Südwest und trieb sie durch
die grobe See rund um Cape Farewell an
der Südspitze Grönlands und in die Da-
visstraße. Franklin schien mit derartigem
Wetter gerechnet zu haben, denn er
schrieb in einem Brief nach Hause: „Es
hätte den Erfahrungen aller Seeleute wi-
dersprochen, die in Grönland waren,
wenn wir Cape Farewell ohne Starkwind
gerundet hätten.“
Als die Sonne am 25. Juni gegen drei-
undzwanzig Uhr unterging, verfasste Fitz-
james gerade einen Brief an Elizabeth Co-
ningham. „Ich bin müde und erschöpft,
wollte mich aber am ersten Tag, an dem
wir arktisches Land gesehen haben, nicht
schlafen legen, ohne Ihnen vorher noch
zu schreiben. Die Luft ist herrlich kühl
und erfrischend, die Stimmung an Bord
ist blendend, alle sind zu Scherzen aufge-
legt. Ich war den ganzen Tag an Deck und
habe Beobachtungen gemacht.“ Einige
Offiziere versuchten sich mit mehr oder
weniger Erfolg am Fischfang. „Goodsir
fängt in seinem Netz die eigentümlichs-
ten Lebewesen. (.. .) Gore und Des
Voeux hängen an der Reling und halten
Netze und Ruten ins Wasser, im Mund-
winkel eine Zigarre und begleitet vom
Gelächter Osmers.“ Er diagnostizierte
eine Art optimistischer Vorfreude. „Wir
kommen flott voran, sind guter Dinge,
stecken die Köpfe zusammen und denken
uns zum Spaß Wege aus, die uns durch
Amerika hindurch zum Pazifik führen.“
Selbst Captain Crozier schien von der
ausgelassenen Stimmung infiziert. Auf
dem Weg durch die Davisstraße schrieb
er einen Brief an seinen Neffen, in dem
er ihm versicherte: „Alles läuft so, wie ich
es mir nur wünschen kann. Die Offiziere
sind wild entschlossen und brennen vor
Eifer. (.. .) Wie schön wäre es, wir könn-
ten dem Land, das uns so großzügig aus-
gerüstet hat, etwas zurückgeben. Es wür-
de mich von Herzen freuen.“ Typischer-
weise hielt er es allerdings für nötig, eine
Einschränkung hinzuzufügen. „Es würde
mich für all meine Ängste reichlich ent-
lohnen. Und davon werde ich noch man-
che auszustehen haben.“
Das warme Wetter lag bald hinter ih-
nen. Nebel zog auf und ließ die Tempera-
turen selbst am Tag bis fast auf den Ge-
frierpunkt sinken. Als sie einer Brigg von
den Shetlandinseln begegneten, drehten
sie bei, damit der Kapitän an Bord kom-
men konnte. Er fischte an der Küste
Grönlands nach Kabeljau und in den
Fjorden nach Lachs – „in diesen Breiten
eher ungewöhnlich“, notierte Fitzjames.
Wie sich herausstellte, kannte der Kapi-
tän von früheren Fahrten Thomas Work,
jenen „kleinen alten Mann“, der seine
Frau vier Jahre nicht gesehen hatte. Nun
freute er sich, ihn unverhofft zu treffen.
Am nächsten Tag querten sie den Po-
larkreis und drangen in eine Welt voller
Eisberge ein, in der die Sonne nicht un-
terging. Wie viele andere an Bord hatte
Fitzjames noch nie etwas Vergleichbares
gesehen. „Ich dachte immer, Eisberge sei-
en große, durchsichtige Klumpen oder
Felsen aus Eis“, schrieb er, bevor er mit
erkennbarem Erstaunen fortfuhr: „Sie se-
hen aus wie eine riesige Ansammlung von
Schnee und sind von Höhlen und dunk-
len Schluchten durchzogen.“ Als sie die
Küste Grönlands erreichten, lag sie leider
unter einer dicken, tief hängenden Wol-
kendecke, die so dick war, dass sie auch
die Berggipfel verhüllte. Immerhin konn-
te er Gletscher und Fjorde erkennen. We-
nig später segelten sie mitten durch eine
Herde von einigen Hundert Walrossen,
„die beim Auftauchen mit ihren Flossen
und Schwänzen das Wasser aufspritzen
ließen und uns mit grimmiger, ernster
Miene ansahen. Ihre kleinen, bärtigen
Köpfe sind mit Stoßzähnen versehen.“
Nun, da sie nördlich des 65. Breiten-
grades waren, machte sich Franklin dar-
an, der Anweisung der Admiralität Folge
zu leisten und in regelmäßigen Abstän-
den Zylinder aus Blech mit der jeweili-
gen Positionsangabe ins Wasser zu wer-
fen. Crozier kannte das Verfahren schon
aus seiner Zeit in der Antarktis. Die Wer-
te wurden auf einem speziellen Formular
aus besonders festem Papier notiert. In
sechs Sprachen (Englisch, Französisch,
Spanisch, Holländisch, Dänisch und
Deutsch) wurden die Finder ersucht, das
Behältnis an das Sekretariat der Admirali-
tät in London weiterzuleiten. Vier Jahre
später wurde ein solcher Zylinder an der
Küste Grönlands angespült, weniger als
zweihundert Seemeilen von der Stelle
entfernt, an der seine Reise begonnen
hatte. Er sollte der Einzige bleiben, der
je gefunden wurde.
Michael Palin war Mitglied bei „Monty Python“ und ist
mittlerweile ein viel gelesener Reiseschriftsteller, den es
immer wieder aufs Meer zieht. Vergangenes Jahr hat
ihn die Queen zum Ritter geschlagen.

Michael Palins „Erebus:
Ein Schiff, zwei Fahrten und
das weltweit größte Rätsel
auf See“ erscheint am


  1. Oktober beim Mare-Verlag
    (übersetzt von Rudolf Mast,
    352 Seiten, 28 Euro).


1845 brach Sir John Franklin mit zwei Schiffen auf, die Nordwestpassage zu finden.


Drei Jahre später verschwand seine Expedition im Eis. Erst 2014 wurde die


HMS „Erebus“ gefunden. Vorabdruck einer Spurensuche.Von Michael Palin


Was von der Franklin-
Expedition übrig blieb:
John Rae konnte auf seinem
Marsch entlang der arktischen
Küste 1854 einige Hinter-
lassenschaften retten – vom
Essbesteck bis zu einem
von Franklins Orden.
Foto Bridgeman

Abb. Mare-Verlag
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