Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 06.10.2019

(Axel Boer) #1

54 wissenschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40 55


Nach jahrelangem Streit um die


Nährwert-Kennzeichnung auf


Lebensmitteln will Deutschland


nun den französischen Nutri-Score


einführen. Das hätte längst passieren


können.Von Johanna Kuroczik


W

enn die Kinder während
der Ernährungsberatung
keine Worte für ihr Überge-
wicht finden, greifen die
meisten zum Löwen. Sie streifen sich
die ramponierte Handpuppe über und
lassen ihren Gefühlen durch das Tier
freien Lauf. Beliebt ist auch der Drache,
die bunte Raupe Nimmersatt hingegen
scheint ungebraucht. „Ihnen gefällt der
große Löwe, weil der laut brüllen
kann“, sagt Jutta Kolletzki. Die Frank-
furter Pädagogin leitet die Facheinrich-
tung für Essstörungen und Überge-
wicht, „Balance“, im Osten der Stadt.
Sie weiß, hinter einem kräftigen Körper
versteckt sich oft ein kleines Selbstbe-
wusstsein. In ihrem Beratungszimmer
steht ein Flechtkorb voller Kuscheltiere
am Fenster, im Bücherregal reihen sich
Kochbücher. Eltern von gefährlich über-
gewichtigen Kindern finden hier auf hel-
len Korbstühlen Platz – und wissen oft
nicht weiter. Die Fragen, die sie quälen,
beschäftigen dann nicht nur Ernäh-
rungstherapeuten, sondern eigentlich
die ganze Republik: Wie konnte es so
weit kommen, und was kann man tun ge-
gen das Übergewicht?
Zum weltweiten Adipositas-Tag am


  1. Oktober werden zahlreiche aktuelle
    Statistiken, Studien und Analysen erwar-
    tet, die sich mühen, Antworten zu lie-
    fern. Die Zeit drängt. Womöglich zum
    ersten Mal in der Geschichte der
    Menschheit sind mehr Menschen zu
    dick als zu dünn. Rund vierzig Prozent
    der Menschheit bringen zu viel auf die
    Waage, in Europa ist jeder Zweite zu
    dick; die Zahl der Fettleibigen hat sich
    seit 1980 verdoppelt. Gerade bei Kin-
    dern ist der Anstieg dramatisch, waren
    1975 nur vier Prozent adipös, sind es
    2016 schon 18 Prozent. In Deutschland
    wog 2008 jedes 7. Kind zu viel, und man
    hoffte noch, es würden nicht mehr. Eine
    aktuelle Auswertung der Kaufmänni-
    schen Krankenkasse zeigt aber, dass der
    Anteil der fettleibigen Kinder seither
    um dreißig Prozent gestiegen ist.
    Adipös ist, wer einen Body-Mass-In-
    dex von über 30 hat, eine Achtjährige,
    die 125 cm groß ist, würde dann rund
    fünfzig Kilo wiegen. Ihr Schicksal
    scheint damit vorgezeichnet, denn über-


gewichtige Kinder wachsen meist zu di-
cken Erwachsenen heran. Die Weltge-
sundheitsorganisation WHO erklärt Adi-
positas zur zweitgrößten Gesundheitsbe-
drohung weltweit für das Jahr 2019. Ihr
zufolge sterben jährlich vier Millionen
Menschen an den unmittelbaren Folgen
ihres Körpergewichts. Wer zu dick ist,
trägt ein höheres Gesundheitsrisiko, von
Diabetes Typ 2 über Herzerkrankungen
bis zu Krebs und Gelenkschäden. „Wir
können es uns nicht leisten, nichts zu
tun!“, warnten deutsche Kinderärzte
Ende 2018 in einem offenen Brief.
Manche Menschen haben tatsächlich
eine genetische Veranlagung dazu, Speck
anzusetzen. Doch das erklärt noch lange
nicht die scheinbar epidemischen Zustän-
de. Gesundheitsorganisationen und Me-
dizinerverbände kritisieren vor allem die
Ernährungsgewohnheiten und das Kauf-
verhalten der Deutschen. In der Ernäh-
rungsberatungsstelle Balance klären die
Therapeuten darum erst einmal auf, was
eigentlich gesundes Essen ausmacht. Ziel
ist es nicht, den Eltern ein schlechtes Ge-
wissen zu machen. „Viele sind überfor-
dert“, sagt Kolletzki, „sie haben wenig
Zeit und meist selbst nie gelernt, mit fri-
schen Zutaten zu kochen.“ Menschen
mit niedrigem Einkommen sind gemäß
der bundesweiten KIGGS-Studie beson-
ders häufig übergewichtig. Gemeinsame
Mahlzeiten finden in den Familien selte-
ner statt. Wer wenig Geld habe, kaufe au-
ßerdem das Günstigste, nicht das Gesün-
deste, meint Kolletzki. Die Therapeuten
von Balance gehen deswegen mit den El-
tern dahin, wo die erste falsche Entschei-
dung getroffen wird: in den Supermarkt.
Dort nehmen sie auf Fertigprodukten
die Nährwerttabelle ins Visier, und dann
herrscht Ratlosigkeit: Viele wissen mit
den Angaben wenig anzufangen.
Neun von zehn Deutschen ist laut des
Ernährungsreports 2019 eine gesunde Er-
nährung wichtig, doch die Zahlen und
Prozente auf der Rückseite helfen dabei
wenig. Zahlreiche Studien haben ge-
zeigt, dass vereinfachte Nährwert-Kenn-
zeichnungen, wie der Nutri-Score, die
gesunde Wahl erleichtern, doch auch mit
den Farbnoten bleiben einige Fragen of-
fen. Beispielsweise, wie viel Energie der
Mensch eigentlich braucht. Auf den Ver-

packungen von Lebensmitteln wird der
Tagesbedarf stets mit 2000 Kalorien an-
gegeben: So viel benötigen zwar junge
Männer und sportliche Frauen, der Be-
darf ist aber immer von körperlicher Ak-
tivität, Gewicht und Größe abhängig,
eine pauschale Empfehlung ist schwie-
rig. Kinder brauchen deutlich weniger,
für ein normalgroßes Mädchen von acht
Jahren reichen gemäß der Deutschen Ge-
sellschaft für Ernährung 1500 Kalorien.
In den Nährwerttabellen finden sich
die Angaben für Fett, Zucker und Salz,
aber Fett ist nicht gleich Fett: Als gesund
gelten ungesättigte Fettsäuren, wie bei-
spielsweise in Fisch oder bestimmten
Ölen. Während tierische Produkte wie
Wurst vorwiegend gesättigte Fettsäuren
enthalten, die sich ungünstig auf den
Fettstoffwechsel auswirken und zu Abla-
gerungen in den Blutgefäßen führen kön-
nen. Gehärtete Pflanzenfette sind beson-
ders schädlich, und Fett sollte höchstens
ein Drittel der Kalorien decken. Auch
mit Salz sollte man sparsam haushalten.
Der Körper benötigt rund 1,5 Gramm
am Tag, um den Flüssigkeitshaushalt zu
regulieren. Kinder im Alter von acht Jah-
ren sollten nicht mehr als fünf Gramm
zu sich nehmen, Jungs im Teenageralter
an die zehn Gramm, tatsächlich wird
aber ein Vielfaches davon verspeist,. Die
meisten Lebensmittel wie Brot, Käse
und Gemüse liefern genug Salz, selbst
eine Banane enthält schon 0,5 Gramm.
Man müsste also gar nichts salzen. Das
größere Problem ist allerdings Zucker.
Eistee, Ketchup und Frühstücksflocken:
Gerade an Kinder gerichtete Produkte
sind besonders süß. Jedes fünfte Kind
schlürft mindestens einmal am Tag süße
Limonaden, aber auch Tiefkühlpizza
oder Dosensuppe wird Zucker beige-
mengt, was man nicht vermuten würde.
In Kochkursen bringt Jutta Kolletzki
den Kindern bei, wie sie ohne Fertigpro-
dukte eine gesunde Mahlzeit zubereiten
können. Die Kinder entscheiden, was auf
den Teller kommt: Welche Zutaten gehö-
ren auf eine gesunde Pizza? Wie wird
aus Fisch ein Filet? Was ist eine Vanille-
schote? Kolletzki ist sich bewusst, dass
niemand abnimmt, weil er an Vanille
schnuppert oder Tomaten schnippelt:
„Doch durch die Mitgestaltung können
Kinder Selbstwirksamkeit erfahren.“ Sie

lernen, dass sie weder auf ihre Eltern
noch auf eine Tüte Tiefkühlpommes an-
gewiesen sind, wenn sie hungrig sind.
Sie bekommen Anregungen, und davon
brauchten sie auch für ihre Freizeitgestal-
tung mehr, gerade Stadtkinder wüssten
oft wenig mit sich anzufangen.
Draußen dürfen sie nicht spielen, die
Schulfreunde wohnen nicht in der Nähe,
und so landen gerade Kinder aus sozial
schwachen Schichten am Nachmittag
vor dem Fernseher oder spielen mit dem
Handy. Schon jedes fünfte Kind unter
zehn Jahren verbringt mindestens drei
Stunden am Tag mit Medienkonsum,
achtzig Prozent der deutschen Kinder be-
wegen sich zu wenig. Die WHO emp-
fiehlt mindestens eine Stunde körperli-
che Aktivität am Tag, das erreicht nur
etwa ein Drittel der Jungs und weniger
als ein Fünftel der Mädchen. Besonders
müßig sind Teenager, und für die ist das
soziale Umfeld ausschlaggebend: Wer
sportliche Freunde hat, ist meist auch
selbst schlank. Aber für übergewichtige
Kinder gebe es kaum gezielte Sportange-
bote, bemängelt Kolletzki. Wenn Schu-
len Sport-AGs anbieten, fühlen sich
rundliche Kinder unter normalgewichti-
gen Teamkameraden oft unwohl.
In der Schule werden sie gemobbt,
der Kinderarzt sagt: „Mach mehr
Sport“, laut Kolletzki fühlen sich die Kin-
der vor allem unverstanden. Essstörun-
gen wurzeln in der Psyche, deshalb ge-
hört eine psychosoziale Beratung bei „Ba-
lance“ zum Programm. Adipöse Kindern
panzern sich mit ihrer Fettschicht gegen
familiäre Probleme, Vernachlässigung
oder Quälereien in der Schule. Essen
kann zu einer Ersatzbefriedigung wer-
den, und insbesondere Zucker aktiviert
das Belohnungssystem im Gehirn. Das
gewöhnt sich an diesen Kick, und um
noch Freude zu spüren, essen die Men-
schen dann immer mehr.
Die Kinder, denen erst ein Löwe aus
Plüsch Mut zum Sprechen gibt, haben
im Gegensatz zu ihren Eltern meist kei-
ne Fragen. Sie haben Angst, dass man ih-
nen das Liebste nimmt, das Essen. Die
Kochschule, Sport und Gespräche sol-
len ihnen aber zu einem stärkeren
Selbstbewusstsein verhelfen. Damit sie
sich von ihren Schutzpolstern lossagen
können. Johanna Kuroczik

V

or dem Müsliregal ist die
Stimmung gelassen, der ganz
normale Alltag. Die Menschen
telefonieren während des Ein-
kaufs, greifen eine der bunten Pa-
ckungen, vielleicht ihre Lieblingssorte.
Niemand grübelt lange vor der Wahl
oder studiert gar die Nährwertangaben.
Ein Müsli besteht aus Hafer- und ande-
ren Getreideflocken, zu denen Nüsse,
Saaten, Trockenfrüchte, manchmal Scho-
kostücke oder gepuffte Cerealien ge-
mischt werden. Keine große Sache, könn-
te man meinen.
Doch einige dieser Frühstückspakete
sind gut getarnte Zuckerbomben, andere
hingegen empfehlenswerter. Welche das
sind, soll von 2020 an nicht mehr zu über-
sehen sein. Auf der Verpackung prangt
dann ein Buchstaben wie die Note unter
einer Mathearbeit: Vom grünen A bis
zum roten E werden Lebensmittel dann
bewertet, von gesund bis ungesund. Als
die Ministerin für Ernährung und Land-
wirtschaft am vergangenen Montag in
Berlin diese Entscheidung bekanntgab,
schien Julia Klöckner erstaunt, wie viele
Pressevertreter sich zum Termin dräng-
ten. Es herrschte große Aufregung, denn
Journalisten, Verbraucherschützer und
Lebensmittelhersteller hatten seit Jahren
darauf gewartet und waren überrascht,
dass Deutschland nun plötzlich doch dem
französischen Vorbild folgen und den Nu-
tri-Score einführen will, um Lebensmit-
tel zu kennzeichnen.
Hinter dem Buchstaben-Code steckt
ein erbitterter Kampf, der über ein Jahr-
zehnt hinweg mit allen Mitteln ausge-
fochten wurde. Milliardensummen flos-
sen an Lobbyisten, Gerichtsverfahren
wurden angezettelt und Forschung in-
strumentalisiert. Auf der einen Seite ste-
hen die Verbraucherschutz-Organisatio-
nen und Ärzte, auf der anderen Vertreter
der Lebensmittelindustrie, die schlechte
Noten für ihre Produkte befürchteten.
Auf welche Seite sich Ministerin Klöck-
ner schlägt, war lange unklar. Zu lange,
sagen viele. Schließlich verlangte der Ko-
alitionsvertrag, dass bis zum Sommer die-
ses Jahres eine Nährwertkennzeichnung
beschlossen werden sollte. Ihr Ministeri-
um hatte sich lange gegen den Nutri-
Score gewehrt. Es wurde Herbst, bis die
Entscheidung fiel, endlich.
Deutschland ist damit ein Nachzügler.
Frankreich, Belgien, England, Schwe-
den, Norwegen, Dänemark nutzen
schon seit Jahren Nährwert-Lo-
gos. Die Weltgesundheitsorgani-
sation empfiehlt sie als Maß-
nahme gegen Übergewicht,

das als eines der größten Gesundheitspro-
bleme weltweit gilt (siehe „Kinder mit Lö-
wenhunger“). Die Logos sollen es den
Menschen erleichtern, beim Einkauf die
gesündere Wahl zu treffen, besonders bei
ähnlichen Fertigprodukten. Wie viel Ein-
fluss diese Logos haben, ist schwer zu er-
mitteln. Die französische Regierung ließ
den Nutri-Score jedoch über zehn Wo-
chen in sechzig Supermärkten testen, mit
klarem Ergebnis: Aufgrund der Kenn-
zeichnung landeten im Einkaufskorb ge-
sündere Lebensmittel. Menschen mit
niedrigem Bildungsstand profitieren be-
sonders, die Logos sind aber auch Appel-
le an die Industrie: Die Hersteller sollen
ihren Produkten weniger Zucker, Fett
und Salz beifügen, so können sie schlech-
te Noten vermeiden.
Art und Weise der Bewertung entschei-
det über ihren Erfolg: Ein guter Score
sollte leicht zu verstehen, farblich codiert
und auf 100 Gramm berechnet sein.
Wird nur der Nährwert einer Portion an-
gegeben, könnten Hersteller die Menge
variieren – und an eine erwünschte Kalo-
rienzahl anpassen. Auf Müslipackungen
wird eine Portion meist mit 30 Gramm
beziffert, in der Frühstücksschale landen
aber in der Regel mehr, somit mehr Kalo-
rien. Wer hantiert morgens schon mit
der Feinwaage? Außerdem sollten unab-
hängige Wissenschaftler die Kennzeich-
nung entwickeln, so empfehlen es Ver-
braucherschutz-Organisationen wie Food-
watch. Zu diesen darf sich Serge
Hercberg, Epidemiologe an der Universi-
tät Paris Nord, zählen. Er ist auf Ernäh-
rungswissenschaften spezialisiert, und
den Nutri-Score könnte man als sein Le-
benswerk bezeichnen. Die französische
Regierung hatte Hercberg vor sechs Jah-
ren beauftragt, eine Nährwertkennzeich-
nung für Frankreich zu entwickeln. Dar-
aufhin testete und modifizierte er mit sei-
nem Team verschiedene Modelle. Im
Jahr 2014 präsentierten die Forscher ihren
Nutri-Score. „Er funktioniert eigentlich
sehr einfach. Wir nutzen nur die Inhalts-
stoffe, die auf der Verpackung stehen“, er-
klärt Hercberg. Die werden mit Punkten
bewertet: Positiv fallen Proteine, Ballast-
stoffe, Obst, Gemüse und Nüsse ins Ge-
wicht; Punktabzug gibt es für Zucker,
Salz und gesättigte Fettsäuren. Daraus ad-
diert sich eine Gesamtnote, die mit den
Ampel-Farben betont wird: Grün steht
für gesunde Inhaltsstoffe, Rot für sehr Sü-
ßes oder Fettiges.
Auf diese Weise werde zu stark pau-
schalisiert, sagen Kritiker wie der Lebens-
mittelverband Deutschland. Typische
Streitobjekte sind Tiefkühl-Pommes,

Lachs und Olivenöl. Der Fisch enthält
zwar wertvolle Fettsäuren, wird vom Nu-
tri-Score aber mit einem dunkelorangefar-
benen D gebrandmarkt. „Das trifft nur
auf geräucherten Lachs zu“, sagt
Hercberg, denn dieser werde mit viel
Salz zubereitet. Ein frisches Lachsfilet
wiederum erhalte ein grünes A. Dass auf
Tiefkühlpommes ein grünes B prangt,
liegt daran, dass sich der Nutri-Score auf

die Ware im Supermarkt bezieht – und
nicht das frittierte Produkt auf dem Tel-
ler meint. Manche Öle sind gesund, kom-
men aber meist schlecht weg, und das be-
reitete auch Hercberg lange Kopfzerbre-
chen: „Wir haben den Score vor wenigen
Wochen angepasst, damit die meisten Oli-
venöle zumindest ein C erhalten.“
Auch die französische Industrie nahm
den Nutri-Score keineswegs freundlich
auf. „Es war sehr schwer, sich gegen de-
ren Lobbyisten und ihren politischen Ein-
fluss durchzusetzen“, erzählt Hercberg.
Die Medien, darunter die Fernsehsen-
dung „Cash Investigation“, berichteten

über Einflussnahme der Industrie, und
bis 2017 verzögerte sich die Einführung.
Seit April 2019 kann Nutri-Score den
Belgiern helfen, und auch Spanien hat
sich für das System entschieden. Doch
es kann lange dauern, bis der Buchsta-
ben-Code tatsächlich im Supermarkt an-
kommt. In Frankreich wird erst jedes
vierte Produkt bewertet, denn dort ist
die Kennzeichnung wie überall in Euro-
pa freiwillig. Die Industrie konnte ver-
hindern, dass Hersteller dazu gezwun-
gen sind. Wenn sich jetzt Ministerin
Klöckner zum Nutri-Score bekennt, ist
die Debatte noch nicht entschieden.
„Unsere Kampagne hat damit noch lan-
ge kein Ende“, sagt Luise Molling von
Foodwatch. Die Organisation kämpft
für den Nutri-Score. Bevor letztlich der
Bundesrat zustimmen kann, muss noch
die Europäische Union notifiziert wer-
den, und auch das Wirtschaftsministeri-
um den Nutri-Score unterstützen. Das
will aber die Wirtschaft ermuntern, dem
Verbrauchervotum zu folgen.
Niemand zwingt sie. Welche Lebens-
mittelhersteller sich freiwillig für den Nu-
tri-Score entscheiden, ist daher unklar
und wohl vor allem eine Image-Frage.
„Die Unternehmen halten sich erst mal
bedeckt und gucken, wie sie damit umge-
hen“, erklärt eine Sprecherin des Lebens-
mittelverbands. An der kritischen Hal-
tung gegenüber des Nutri-Score wolle
man jedoch festhalten. Branchenriese
Unilever, der zum Beispiel Speiseeis pro-
duziert, will lieber Portionen ausweisen,
während andere Konzerne wie Nestlé
oder Danone ihre Unterstützung für den
Nutri-Score bekundet hatten, noch bevor
die Ernährungsministerin damit vor die
Kameras trat. Welche Blüten das Geran-
gel um die Kennzeichnung treibt, zeigt
der Fall des Tiefkühlkostherstellers Iglo.
Ein Verein namens „Schutzverband ge-
gen Unwesen in der Wirtschaft“, hinter
dem die Konkurrenz vermutet wird, be-
wirkte vor dem Landgericht Hamburg
eine einstweilige Verfügung, die Iglo den
Nutri-Score untersagt: Iglo würde seine
Produkte ohne wissenschaftliche Grund-
lage als „gesund“ bewerben.
Verbraucherschützer hoffen nun, dass
Julia Klöckner die Initiative ergreift und
sich auch auf europäischer Ebene für den
Nutri-Score einsetzt. „Es ist sehr wichtig,
dass wir uns auf ein Logo einigen“, sagt
Serge Hercberg. Wie sehr ihr der Nutri-
Score tatsächlich am Herzen liegt, kann
die Ernährungsministerin jetzt während
der Ratspräsidentschaft Deutschlands un-
ter Beweis stellen.

A

ngefangen hatte alles mit einer
schlichten Ampel. Werte für Salz,
Zucker und Fett wurden in Ampel-
farben auf den Verpackungen ausgewie-
sen, so hatte man es seit 2006 in Großbri-
tannien erprobt. Als vor rund zehn Jah-
ren zur Debatte stand, eine solche Am-
pel-Kennzeichnung verpflichtend in der
Europäischen Union einzuführen, starte-
te die Lebensmittelindustrie eine Gegen-
kampagne. Nach Angaben der Organisati-
on LobbyControl wurde dafür eine Milli-
arde Euro ausgegeben, die Investition hat
sich gelohnt: 2010 lehnten die Parlamenta-
rier die Pflicht-Ampel ab, es entstand ein
Wirrwarr. Die Briten blieben der Ampel
treu, in Skandinavien wählte man das grü-
ne „Key-Hole“, um gesunde Lebensmit-
tel zu kennzeichnen, und die Franzosen
entwickelten ihren Nutri-Score.
In Deutschland wollte man nicht ein-
fach irgendwas, deshalb ließ Julia Klöck-
ner verschiedene Systeme prüfen. Den
Auftrag erhielt das ihrem Ministerium
zugeordnete Max-Rubner-Institut, MRI,
das im April 2019 seinen Bericht vorleg-
te. Da dieser großen Einfluss hatte, ist in-
teressant zu sehen, welche Kriterien aus-
schlaggebend waren. Herangezogen wur-
de unter anderen eine Studie, die den
Einfluss der britischen Nährwertampel
auf das Einkaufsverhalten bewerten soll-
te, sich aber offensichtlich mehr mit dem
Design von Saftflaschen beschäftige. Auf
Nachfrage derSonntagszeitungerklärte
das MRI, dies sei ein Fehler, die Studie
werde aus dem Bericht entfernt. Keine
Erwähnung findet hingegen eine Ein-
kaufsstudie, die ihm im Auftrag der fran-
zösischen Regierung über zehn Wochen
unter realen Bedingungen in Supermärk-
ten stattfand. Aber auch das schien für
die Bundesbürger nicht zu genügen, so
entwickelte das MRI ein neues Logo.
In Rekordzeit war der deutsche „Weg-
weiser Ernährung“ fertig, und das Minis-
terium ließ ihn in einer Umfrage antreten
gegen den Nutri-Score, das Keyhole und
ein Modell in Pastellfarben. Letzteres hat-
te der Lebensmittelverband erstellt, der
prompt eigene Umfragen in Auftrag gab,
was sich auch die Verbraucherorganisati-
on Foodwatch nicht nehmen ließ, mit ab-
weichenden Resultaten. Das Ernährungs-
ministerium wiederum musste wohl die
Vorteile des Nutri-Score anerkennen:
Von rund 1600 Befragten stimmte mehr
als die Hälfte dafür. kuro

Kinder mit Löwenhunger


Übergewicht ist in Deutschland von Jahr zu Jahr ein größeres Problem. Was läuft schief?


Das neue


ABCDE


des Essens


Gewissermaßen
derStreber unter
den Fruchtmüslis:
Ein glattes A
gibt es für wenig
Zucker, viele Beeren
und kaum Salz.

Das skandinavische
Keyhole gibt es seit
mehr als 25 Jahren
und kennzeichnet
besonders gesunde
Produkte.

Die britische Nährwert-Ampel zeigt Werte
für Kalorien, Fett, Zucker und Salz.

In Farbe bitte,


aber kein Pastell


Ein Kindheitstraum zum
Frühstück? Die bunten
Getreidekringel sollen nach
Frucht schmecken und
sind reich an Zucker.

Das MRI-Modell ist den Verbrauchern meist
zu komplex. Es fehlen auch Signalfarben.

Das Industrie-Logo setzt auf Prozente in
Pastell. Bei den Umfragen fiel es durch.

In Deutschland ist der
Nutri-Score noch nicht eingeführt.
Die daran angelehnten, hier
gezeigten Noten lieferte die App
„Open Food Facts“. Freiwillige
scannen Inhaltsstoffe für die
Online-Datenbank, ein Algorithmus
berechnet daraus den
jeweiligen Buchstaben-Code. Die
Angaben sind ohne Gewähr.
Alle Fotos Marina Pepaj

Keksstücke und Schokolade,
die sorgen links für deutlich
mehr Fett als etwa in der
schwarzen Schale. Salz ist
auch großzügig enthalten.

Anstelle von Rosinen
süßen Apfelstücke und
Cranberries. In 100 Gramm
Müsli sind 24 Gramm
Zucker enthalten, trotzdem
gibt es noch ein grünes B.
Die Banane macht dieses
Frühstück nicht gesünder.
Kombiniert mit den
Schokoladenstücken, wird
es zur Fett-Bombe.

Die Kakaoflakes kommen
mit wenig Fett aus, darum
erreichen sie ein C. Doch sie
enthalten viel Zucker: 27
Gramm je 100 Gramm.

Weiße Schokolade, Honig
und gefriergetrocknete
Himbeeren: Eine fettreiche
Dekadenz, die als rarer
Luxus zu genießen wäre.
Relativ süß, aber die
Beeren sind Bio. Woher
die Zutaten stammen,
spielt für den Nutri-Score
jedoch gar keine Rolle.

Ist der Nutri-Score
offiziell, dürfte der rosa
Beerentraum
gesünder abschneiden.
Hier sind Ballaststoffe
und Früchte noch
nicht berücksichtigt.

Mit Kürbiskernen,
Früchten und Urgetreide
macht dieses Müsli
vieles richtig. Es kommt
auch fast ohne Salz aus.
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