Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 06.10.2019

(Axel Boer) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40 politik 7


A


ls die Erde halb so alt war wie heu-
te, lebten die Blaualgen in einem
warmen Ozean. Man hätte sie
für die Krone der Schöpfung
halten können, wenn sie ihre Welt nicht
zerstört hätten. Doch sie wussten nicht,
was sie taten. Als feine Fädchen trieben
sie friedlich im sonnendurchschienenen
Wasser. Niemand fraß sie, denn das Fres-
sen war noch nicht erfunden.
Die Erde hatte damals schon harte
Zeiten durchgemacht. Einmal wäre es
beinahe aus gewesen mit ihr. Soweit wir
wissen, ist sie in ihren ganz jungen Jah-
ren von einem durchs All taumelnden
Himmelskörper namens Theia ge-
rammt worden – etwa so, wie manche
das aus Lars von Triers apokalypti-
schem Film „Melancholia“ kennen.
Theia war mehr als nur irgendeine
Sternschnuppe. Sie war vielleicht so
groß wie der Mars, also nur wenig klei-
ner als die Erde. Der Treffer war des-
halb ungeheuer wuchtig. Er drang wohl
bis in den Kern, und in der Hitze der
Kollision leuchteten die verschmelzen-
den Planeten auf wie eine Glühbirne.
Wellen aus verdampftem Gestein
schwappten in den Weltraum. Später
sammelten die Spritzer sich in der Um-
laufbahn, erstarrten und bildeten einen
schönen runden Tropfen: den Mond.
Dann vergingen Äonen. Nach dem
Einschlag war die Erde wahrscheinlich
erst mal ein heißer, basaltschwarzer
Ball. Als er dann abkühlte, zeigte sich,
dass die Katastrophe auch ihr Gutes hat-
te. Die Erde war vermutlich nicht mittig
getroffen worden, sondern etwas seit-
lich, so dass sie sich jetzt schnell um ihre
Achse drehte wie eine scharf angeschnit-
tene Billardkugel. So entstand die Folge
von Tag und Nacht. Der Vorteil davon
war, dass es nun nicht mehr nur die
Wahl zwischen einer Eis- und einer
Glutseite gab wie heute noch beim
Mond, sondern gemäßigtes Wetter über-
all. Außerdem hatte Theia möglicher-
weise zum Teil aus Eis bestanden. So
brachte sie einiges von dem Wasser auf
die Erde, in dem sich später die ersten
Organismen bildeten. Der Weltunter-
gang der Urzeit könnte damit am Ende
eine Voraussetzung für unser heutiges
Leben geworden sein.
Der Ozean der Blaualgen entstand
trotzdem erst viel später. In der Hitze
der großen Kollision war alles Wasser
verkocht, und so bestand die Atmosphä-
re der jungen Erde über lange Zeit größ-
tenteils aus Dampf. Erst als das Klima ab-
kühlte, begann es zu regnen. Es regnete
über unausdenkliche Zeit. Nicht vierzig
Tage wie in der Sintflut, sondern viel-
leicht vierzigtausend Jahre und mehr. In
den Senken sammelte sich das Meer. Hö-
her entwickelte Tiere und Pflanzen gab
es noch nicht, aber immerhin entstanden
erste Einzeller mit einfachen Bauplänen.
Einige dieser Arten gediehen beson-
ders gut: die Vorläufer der Blaualgen.
Eine Variante von ihnen hatte eine phä-
nomenale biotechnologische Neuerung
vollzogen. Es ging dabei um ein Pro-
blem, das bis heute jeder von uns jeden
Tag lösen muss: Alles Lebendige
braucht Energie. Menschen holen sie
sich aus Brot und Käse, Kühe aus Gras.
Gras braucht Wasser, fruchtbaren Bo-
den und Sonne. Auf die Sonne läuft da-
bei alles hinaus, und in den Blaualgen
hatte sich diesbezüglich ein völlig neuar-
tiges Verfahren entwickelt, durch das sie
mit Hilfe von Sonnenlicht Energie ge-
wannen: die Photosynthese. Die hatte es
zwar schon seit einiger Zeit gegeben,
und auch andere Bewohner des Ozeans
nutzten sie. Aber ihre Mechanik war al-
tertümlich und ineffizient. Die Blaual-
gen entwickelten die Technik nun so
spektakulär weiter, dass sie alle anderen
abhängten. Es war, als würde man einen
Eurofighter von heute gegen den Drei-
decker des Roten Barons antreten las-
sen. Dass dabei aus dem Triebwerk ein
auf der Erde damals fast unbekanntes
Gas namens Sauerstoff entwich, war an-
fangs kein Problem. Die Sonne schien,
und die fabelhaften Fortschritte in der
Photosynthese machten jedes der Fäd-
chen, aus denen die Völker der Blaual-


gen bestanden, zu einem kleinen Super-
kraftwerk. Die übrigen Wesen, die da-
mals den Urozean bevölkerten, meist ur-
tümliche, luftscheue Mikroben, mussten
sehen, wo sie blieben. Die Welt der Al-
gen war perfekt.
Dann aber ging alles schief – so schief,
dass wir, die Nachfahren, von Glück re-
den können, dass es uns überhaupt gibt.
Bei den Algen nämlich war alles bestens
organisiert – bis auf eines: die Müllwirt-
schaft. Die klitzekleinen Turbo-Solar-
triebwerke, welche jetzt das Leben auf
der Erde beherrschten, stießen Sauer-
stoff aus, der in der Balance der damali-
gen Stickstoffatmosphäre nicht vorgese-
hen war. Zunächst konnte der Ozean das
neue Gas binden. Dann aber war das
Meer eines Tages gesättigt. Das Wasser
hatte so viel Sauerstoff aufgenommen,
wie es eben ging. Das Abgas begann, in
die Atmosphäre zu steigen, aber weil es
mit dem Verstand auf unserem Planeten
damals noch nicht sehr weit her war, ver-
wendeten die Algen keinen einzigen Ge-
danken auf Luftreinhaltung. Weiter mit
Vollgas, Tag für Tag, und so lief also die
Kippe über.
Die Folge war eine echte Apokalypse:
die erste von lebenden Wesen verursach-
te Klimakatastrophe der Erde. Der Um-
sturz von damals war allerdings ganz an-
ders als der von heute. Er war das Gegen-
teil: Es wurde nicht immer wärmer, son-
dern immer kälter, und zum Schluss war
überall Sibirien. Der Sauerstoff nämlich,
den die Algen weiter unbekümmert blub-
bern ließen, richtete in der damaligen At-
mosphäre Verheerungen an. Vor allem
zerstörte er ein Gas, das neben dem heu-
te viel berühmteren Kohlendioxid schon
damals entscheidend dazu beitrug, die
Erde warm zu halten: Methan. Je mehr
Sauerstoff die Algen abließen, desto
mehr Methan zerfiel. Die Temperatur
sank unter null, und schließlich kam es
dazu, dass der schöne, laue Urozean, der
den Algen wie ein ewiges Paradies er-
schienen wäre, wenn sie Begriffe wie Pa-
radies und Ewigkeit schon besessen hät-
ten, die Algen still und ohne Gnade um-
brachte. Das Wasser gefror. Erst an den
Polen, dann in den mittleren Breiten, am
Ende wohl bis zum Äquator. Die Illustra-
toren von Wissenschaftszeitschriften
zeichnen den Planeten in der Epoche
des „Großen Sauerstoffereignisses“ vor
zweieinhalb Milliarden Jahren jedenfalls
strahlend weiß. An vielen Stellen reichte
das Eis bis zum Grund. Möglicherweise
folgten mehrere Eiszeiten kurz aufeinan-
der, und über einige Jahrmillionen kreis-
te eine „Schneeball-Erde“ um die Sonne.
Das Massensterben, das damals einsetz-
te, war wahrscheinlich das schwerste der
Erdgeschichte. Manche Wissenschaftler
nennen den Klimakollaps jener Zeit des-
halb auch die „Sauerstoffkatastrophe“
oder den „Sauerstoff-Holocaust“. Viele
Arten verschwanden völlig. Von den Blau-
algen, die alles verursacht hatten, überleb-
ten zwar einige, und ihre Nachfahren le-
ben bis heute, aber sie erlitten entsetzli-
che Verluste. Vermutlich hatten sich ein
paar Exemplare in irgendwelche Tümpel
gerettet, die am Äquator eisfrei geblieben
waren, oder in die Nähe vulkanischer
Quellen. Warum auch nicht, sie trugen
keine Schuld. Dieser Begriff existierte da-
mals nicht, ebenso wenig wie die Vorstel-
lungen von Zukunft oder Vorsorge. Das
alles erschien auf der Erde erst Milliarden
Jahre später im Zusammenhang mit ei-
nem neuen Durchbruch in der Entwick-
lung des Lebens, der Entstehung des Ge-
hirns. Die Algen hatten so etwas nicht.
Sie hatten kein Klimakabinett, und da es
noch keine Freitage gab, gab es auch kei-
ne „Fridays for Future“.
Nach ein paar Millionen Jahren
schmolz das Eis dann wieder. Es ist nicht
ganz klar, weshalb. Vielleicht schlug aber-
mals ein Asteroid ein. Vor allem aber
blieben die Vulkane aktiv. Die spien Koh-
lendioxid aus, und das macht die Erde ja
bekanntlich warm wie eine Pelzmütze
im Winter. Der Treibhauseffekt, die glo-
bale Gefahr der Gegenwart, brachte da-
mals möglicherweise die globale Erlö-
sung. Die paar kümmerlichen Exempla-
re, die nach der Katastrophe vom blühen-

den Algenleben des Urozeans noch üb-
rig waren, hätten ihn jedenfalls als Segen
empfunden, wenn es dieses Wort damals
gegeben hätte.
Seither haben wir uns perfektioniert.
Die Mikroorganismen des frühen Prote-
rozoikums (so nennen die Wissenschaft-
ler die Zeit der Schneeball-Erde) hat-

ten es nach dem Technologieschub der
verbesserten Photosynthese noch ver-
säumt, an nachhaltiges Abgasmanage-
ment zu denken. Nach dem großen Tau-
wetter holte das die Evolution nun
nach. Auf der Erde entwickelte sich die
atmende Tierwelt, deren Energiepro-
duktion einen Teil des überschüssigen

Sauerstoffs, den die Pflanzen immer
noch permanent ausstoßen, wieder bin-
det. Sauerstoff raus, Sauerstoff rein –
eine frühe Kreislaufwirtschaft, lange be-
vor dieses Wort ins Gesetzbuch kam.
Die Folge dieser biochemischen Neue-
rung war eine ungeheure Blüte des Tier-
reichs, von den Quastenflossern über

die Dinosaurier bis zum Menschen. Es
war also mit der Sauerstoffkatstrophe
so gewesen wie damals beim Planeten
Theia: Niemand konnte das Unglück
verhindern, und als es kam, war es un-
fasslich schlimm. Danach aber hatte es
auch sein Gutes.
Heute ist die Erde blau, und der
Mensch ist der unumschränkte Herr-
scher der lebenden Welt. Ganz wie da-
mals die Blaualge. Wenn es in tausend
Jahren noch Namen geben wird, wird
unsere Epoche seinen Namen tragen.
Und genau wie die Alge ist der Mensch
gerade im Begriff, ausgerechnet durch
seine phänomenalen Fortschritte das Kli-
ma zu kippen – diesmal nicht in Rich-
tung Schneeball, sondern in Richtung
Glühbirne. Seit etwa zehn Generatio-
nen nämlich verbrennt er in seinen Ma-
schinen, Kraftwerken und Industrieanla-
gen gewaltige Mengen von Kohle, Erdöl
und Erdgas. Kohlendioxid, an sich nur
ein Spurengas in der Luft wie damals
der Sauerstoff, quillt aus Schloten, Trieb-
werken, Auspuffrohren und reichert sich
in der Atmosphäre an.
Werden wir den Weg der Algen ge-
hen? Vielleicht nicht. Wir sind lange wie
sie gewesen, wir haben gefeiert, als gebe
es kein Morgen. Immer Vollgas. Trotz-
dem aber ist einiges heute anders. Vor al-
lem hat die Evolution neben immer neu-
en Durchbrüchen in der Energiewirt-
schaft der Organismen auch das Gehirn
hervorgebracht, und das Gehirn erdach-
te Regierungen, Bürgerinitiativen, Uni-
versitäten und Computer. Verantwor-
tung ist möglich geworden. Die dominie-
rende Gattung der Gegenwart besitzt
heute nicht nur einen Begriff von Zu-
kunft, sie entwickelt auch die Fähigkeit,
verlässliche Modelle von ihr zu schaffen.
In weltweiten Netzen verarbeitet sie fast
in Echtzeit einen ungeheuren Daten-
strom über die atmosphärischen Umwäl-
zungen, die sie gerade herbeiführt, und
ihre soziale Selbstorganisation bringt Kli-
makabinette hervor. Anders als die Algen
weiß sie, was eine Notbremsung ist. Sie
hat gelernt, dass man in die Eisen steigen
muss, wenn alle Sensoren einen Crash an-
kündigen. Jetzt flammen die Signallämp-
chen auf, und da die führende Gattung
mittlerweile auch den Begriff der Chan-
ce entwickelt hat, wird sie vielleicht ihre
Chance nutzen. Dann muss nicht wieder
erst die Welt untergehen, bevor alles
noch viel besser wird.

Foto Mauritius

Vor ein paar Milliarden Jahren bekam die


erfolgreichste Gattung der Erde ihre Abgase


nicht in den Griff. Die Folge: Weltuntergang.


Von Konrad Schuller


Leben und


Sterben


der Blaualge


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