Die Welt - 07.10.2019

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I

n J. G. Ballards Roman „Crash“
fahren Menschen mit ihrem Wagen
freiwillig in andere Autos hinein,
weil sie davon sexuell erregt wer-
den. Das Erscheinen des Buches
löste 1973 einen Skandal aus, die Verfil-
mung durch David Cronenberg dann
1996 noch mal einen. Heute gilt „Crash“
als Klassiker der postmodernen Litera-
tur. Für eine Neuauflage hat die briti-
sche Autorin Zadie Smith ein Vorwort
geschrieben. Smith ist sicher kein Pe-
trolhead, aber sie wuchs in dem London
auf, das „,Crash‘ beschreibt“: in der au-
togerechten Stadt der Siebziger, in der
man Fußgängerbrücken über vierspuri-
ge Straßen nehmen musste, um Freun-
de zu besuchen.

VON BORIS POFALLA

Das Verrückte ist nun, dass Ballards
bizarres Buch seit seinem Erscheinen
massiv gealtert ist, die Stadt aber noch
immer so funktioniert. Die Autobahn-
kinder von damals sind nun selbst Auto-
ren und Künstler. Der britische Künst-
ler und Turnerpreisgewinner Mark
Leckey hat gerade die Stadtautobahn
M58 in die „Tate“hineinverlängert, ge-
nauer gesagt eine Autobahnbrücke. Un-
ter der will er als Kind eine übernatürli-
che Begegnung erlebt haben. Was man
sieht, ist aber vor allem: Beton.
Die Realität ist halluzinatorisch genug.
AAAuch Ballard erfindet gar nicht, wie Za-uch Ballard erfindet gar nicht, wie Za-
die Smith schreibt, er seziert. Der eklige
Sex mit einer Unfallwunde, die seiten-
langen Orgien von Kühlflüssigkeit und
Sperma sind krasse Überzeichnungen,
die zur Kenntlichkeit entstellen. Schaut
her, so bizarr, so absurd ist der Alltag in
einem vom Auto unterworfenen Land.
Und das ist er ja. Wer nicht in einer
Großstadt lebt, der ist dazu gezwun-
gen, in seinem Auto zu leben. Und die
Großstädter? Ein falscher Schritt, eine
Sekunde Ablenkung, und es ist vorbei.
Jeder kennt jemanden, der jemanden
kennt, dem das passiert ist. Der Auto-
unfall ist unser Schützengraben, eine
nie versiegende Quelle von Drama und
sinnlosem Sterben. Tarik von dem
Berliner Raptrio K.I.Z. bewirbt sein
kommendes erstes Soloalbum gerade
mit einem Video, das viereinhalb Mi-
nuten lang eine inszenierte Unfallstel-
le abfilmt. „Kaputt wie ich“ heißt der
Song.
Geschmacklos? Dann ist Warhol auch
geschmacklos. Das teuerste Auto der
Welt ist nicht umsonst ein Unfallwrack:
Einhundertfünf Millionen Dollar be-
zahlte jemand 2013 für Andy Warhols
Siebdruck „Silver Car Crash (Double
Disaster)“von 1963, es ist bis heute der
Rekord für einen Warhol.
„Silver Car Crash“ ist ein makabres
und trauriges Bild, dessen rechte Hälfte
verheißungsvoll glänzt. In den achtzehn
Jahren, die zwischen dem Ende des
Zweiten Weltkriegs und der Entstehung
des Bildes vergangen waren, starben
sechshundertzwanzigtausend Amerika-

ner bei Autounfällen. Das waren fast
einhundert pro Tag und weit mehr, als
Amerika in beiden Weltkriegen an To-
ten zu beklagen hatte.

Warhol und Ballard erinnern an die
dunkle Seite einer Technologie, die
auch der Kultur Opfer abgefordert hat.
Was könnte man heute nicht alles sehen

und lesen, wenn es den Autounfall nicht
gegeben hätte! Weitere Bücher von Al-
bert Camus, W. G. Sebald, Roland Bar-
thes und Rolf-Dieter Brinkmann, nie ge-
drehte Filme von Friedrich-Wilhelm
Murnau, mit James Dean und Grace
Kelly, ungemalte Bilder von Jackson
Pollock, nie aufgenommeneAlben von
Falco, Fotos von Helmut Newton.
Viele Künstler sind dem Crash nur
knapp entronnen. Filippo Tommaso Ma-
rinettiwurde 1908 von einem Unfall mit
zwei Fahrradfahrern zum Futurismus
inspiriert (er fuhr einen Fiat). Vor hun-
dert Jahren hätte es Bertold Brecht dann
beinahe erwischt: Statt frontal in einen
überholenden Wagen zu fahren, gelang
es ihm auf dem Weg nach Fulda, ge-
schickt bremsend in einen Baum zu rau-
schen. Dass Brecht in der Zeitschrift
„Uhu“ über seinen Unfall geschrieben
hat („Ein Auto, in dem man überlebt“),
ist selten und einem Deal geschuldet: Er
bekam dafür vom Hersteller Steyr einen
neuen Wagen geschenkt.
Die meisten macht der Unfall sprach-
los. Das verrät einem schon das Wort:
Un-fall, Un-glück. Die Sprache wehrt
sich dagegen, für etwas so Sinnloses ei-
nen eigenen Begriff zu finden. Vielleicht
kann man von diesem grauenhaften De-
saster nur reden, indem man es ver-
neint. Nichts in der friedlichen Gegen-
wart produziert noch solche Verletzun-
gen. Die Helfer, heißt es dann immer,
werden psychologisch betreut. Genaue-
res erfährt man nicht, Fotos bleiben un-
ter Verschluss, Videos blenden ab. Aber
ist das richtig so?
Das Auto ist eine Traummaschine
und eine Traumamaschine, doch über
Letztere wird heute gern ein Schleier
aus Anstand und Zurückhaltung gebrei-
tet. Fotografen wie Mel Kilpatrick ha-
ben die zerfetzten Opfer des ersten Au-
tobooms in Kalifornien noch in ihren
Wracks fotografiert. Der Taschen-Ver-
lag hat daraus 2000 einen Bildbandge-
macht, was einem heute unglaublich
vorkommt.
Aber wieso eigentlich? Warum sollte
der moderne Mensch den Blick vom
modernen Tod abwenden? In dem Band
„Die Geschwindigkeitsfabrik – eine
fragmentarische Geschichte des Auto-
unfalls“findet sich eine Meldung der
Associated Press von 1962. Einhundert
kalifornische Verkehrssünder sollten ih-
re Strafe dadurch reduzieren können,
dass sie sich einen von der Polizei von
Ohio produzierten Film ansahen. „Er
zeigte verbogene Wrackteile und ver-
stümmelte Leichen, und die Bilder wa-
ren von Schreien der Opfer des Unfalls
begleitet.“
Zwei der Zuschauer erlitten einen
Schock, eine solche Aktion erscheint ei-
nem in der Gegenwart undenkbar. Viel-
leicht auch, weil der moderne Tod sich
ausdifferenziert hat. Beim Crash waren
lange alle gleich, egal wie berühmt.
James Dean hat der Porsche nichts ge-
nützt, Lady Di die S-Klasse ebenso we-
nig. Wenn nun aber Micro-Kleinwagen

neben Zweieinhalb-Tonnen-SUVs un-
terwegs sind und Fahrräder ernsthafte
Alternativen sind, dann verändert das
das emotionale Gefüge der Autorepu-
blik. Diesen Prozess beobachten wir im
Moment. Man kann sich rauskaufen aus
der Gemeinschaft der Gefährdeten und
einsteigen in die gepanzerte Sicherheit
eines SUV.
Was macht das mit uns? Was macht
das mit dem Bild vom Unfall? Das wird
man erst noch erleben. Eins ist klar: Wir
werden den Autowahnsinn und den An-
tiautowahnsinn nicht ohne die Kunst
verstehen. Kunst allein kann die Ambi-
valenz aushalten, die im Auto steckt. Sie
wird von Ambivalenzen ja regelrecht
aufgeladen, so wie der Taycan an der
Starkstromleitung.
Gerade kann man im MMK in Frank-
furteine grandiose neue Hängung der
Sammlung erleben. Die neue Direktorin
Susanne Pfeffer hat das Haus leerge-
räumt und gibt den Kunstwerken den
Raum, den sie zum Atmen brauchen. Ein
ganzer Saal ist reserviert für einen groß-
artigen Film von 1976, der einem sofort
das Adrenalin ins Blut und die Sorgen-

falten auf die Stirn treibt. Es heißt „C’
était un rendez-vous“ und zeigt, wie der
Filmemacher Claude Lelouch an einem
Augustmorgen mit viel zu hoher Ge-
schwindigkeit durch Paris rast. Zu hoch
im Sinne von: mit bis zu 200 Stundenki-
lometern. Man kann kaum hinsehen; ro-
te Ampeln werden ebenso ignoriert wie
so ziemlich jede andere Verkehrsregel,
und wenn so ein Film heute bei jeman-
dem gefunden würde, er wäre auf dem
Weg in den Knast.
Claude Lelouch kam nicht in den
Knast. Er verlor nur kurz den Führer-
schein, sein Film endete im Museum.
Soll man ihn überhaupt zeigen? Ja, un-
bedingt. Die acht ungeschnittenen Mi-
nuten sind ein ästhetisches Erlebnis.
Der Rausch der Geschwindigkeit, der
mit dem Auto ins moderne Leben kam,
wird aus diesem Leben nie mehr ganz
verschwinden, ebenso wenig wie Ko-
kain und Ecstacy daraus wieder ver-
schwinden werden. Man kann den Film
verwerflich finden, weil der Fahrer da-
für Menschen gefährdet hat, und trotz-
dem kann man ihn als Kunstwerk be-
wundern. Weil es einem den Wahnsinn,
den das Rasen ist, vermittelt, diesen

Wahnsinn zugleich überhöht und ver-
urteilt. Eine Ambivalenz, die man aus-
halten muss.
Unfall, Tod und Gefahr. Wird das
Fahren denn nicht immer sicherer? Gibt
es nicht viel weniger Tote als früher?
Doch, klar. Dieses Jahr feiern wir den
sechzigsten Geburtstag des Crashtests.
Man hat jahrzehntelang versucht, dem
Auto seine Tödlichkeit auszutreiben, in-
dem man es in eine rollende Gummizel-
le verwandelte, aber sterben kann man
darin natürlich trotzdem noch.
Es gibt eine biologische Konstante,
die man nicht verbessern kann: uns. Der
menschliche Körper verträgt einfach
die enormen Kräfte nicht, die bei einem
Aufprall mit hoher Geschwindigkeit auf
ihn einwirken. Im filigranen Porsche
Speedster war das für den Fahrer immer
schon klar, im SUV dagegen fühlt man
sich wie in einem Raumschiff.
Dieses Auto steht für die große, sinn-
lose Hoffnung der Gegenwart: sehr
schnell sein und doch den Tod abschaf-
fen, das Unglück einfach wegrechnen.
Das autonome Fahren, heißt es, wird
den Verkehr endlich sicher machen.
Doch wir sehen noch die aufgerissenen,
erschrockenen Augen der Testfahrerin
vor uns, die am 18. März 2018 in Arizona
einen Menschen überrollte und tötete,
während ihr Wagen doch ganz von
selbst fuhr.
Elaine Herzberg war der erste
Mensch, der von einem autonomen
Fahrzeug getötet wurde, was ihr einen
Wikipedia-Eintrageinbrachte und der
Welt eine philosophische Debatte: War
die Fahrerin schuld oder der Google-Al-
gorithmus? Kann ein Computer über-
haupt an irgendwas schuld sein? Lange
bevor autonome Autos serienreif sind,
debattieren wir, ob sie im Ernstfall die
Mutter mit Kinderwagen verschonen
und stattdessen lieber den alten Herrn
überfahren sollen, ob sie in die Men-
schenmenge ausweichen sollen oder in
den Gegenverkehr.
Warum diskutieren wir so was über-
haupt? Weil wir wissen, dass es passie-
ren wird. Die ganze Debatte über das
SUV und die Einführung des Tempoli-
mits dreht sich am Ende darum, dem
Auto seinen metaphysischen Kern zu
nehmen und es trotzdem weiter zur
Ikone zu machen, was nicht funktionie-
ren wird. „Der Todestrieb“, schreibt Za-
die Smith über J. G. Ballard, „ist nichts,
was Autofahrer heimlich spüren; er ist,
was Fahren ausdrücklich ist.“
Körperglück und Körperzerstörung
bleiben zwei Seiten derselben Medaille:
der Geschwindigkeit, mit der man im
Leben unterwegs sein möchte. Der Ver-
such der Ingenieure und Politiker, den
Tod aus der Gleichung des Straßenver-
kehrs herauszunehmen, wird nie ganz
gelingen, denn er steckt im Auto selbst.
Die Kunst weiß das. Vor allem Andy
Warhol wusste es. So viele Unfälle und
Autoikonen der Katholik in seinem Le-
ben auch auf die Leinwand brachte: Ei-
nen Führerschein hat er nie besessen.

Der große


Unfallbericht


Das Auto ist Traum- und Traumamaschine –


das wussten die Künste schon immer. Was


wir dem Temporausch zu verdanken haben


CLAUDE LELOUCH, „C‘ÉTAIT UM RENDEZ-VOUS“, 1976, MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST, FILM-STILL

DIE HOFFNUNG


DER GEGENWART:


SCHNELL SEIN


UND DEN TOD


ABSCHAFFEN


,,


Endstationen: oben das Cabrio, in dem Jackson Pollock 1956 verunglückte, mittig
der Porsche von James Dean (1955), unten der Wagen von Albert Camus (1961)

Claude Lelouch rast 1976 durch Paris:
Szenen aus „C’était un rendez-vous“,
zur Zeit im Frankfurter Museum für
moderne Kunst zu sehen

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07.10.19 Montag, 7. Oktober 2019DWBE-HP


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