Süddeutsche Zeitung - 07.10.2019

(Michael S) #1
von moritz baumstieger

München– Dievolle Dimension des Grau-
ens, das sich seit vergangenem Dienstag
auf den Straßen ihres Landes abgespielt
hat, werden die Iraker wohl erst in ein paar
Tagen überblicken können. In weiten Tei-
len des Landes ist kein Internet mehr ver-
fügbar, seit die Regierung die Leitungen
am Donnerstag kappen ließ. Nur wenige
der Videos, die von Demonstranten vor al-
lem in Bagdad und in den Großstädten im
Süden des Landes aufgenommen wurden,
haben deshalb den Weg in die Öffentlich-
keit gefunden. Doch schon sie lassen erah-
nen, mit welcher Brutalität die Sicherheits-
kräfte reagierten, als Menschen auf die
Straße gingen, um für mehr Arbeitsplätze
und weniger Korruption und Misswirt-
schaft zu demonstrieren: Verwackelte Han-
dybilder zeigen, wie Menschen hinter bren-
nenden Barrikaden Schutz suchen, um
dem Kugelhagel der Polizisten zu entge-
hen. Sie zeigen, wie angeschossene De-
monstranten auf der Straße verbluten, wie
manche plötzlich in sich zusammensa-
cken, wohl aus großer Entfernung von der
Kugel eines Scharfschützen getroffen.
Was am Dienstag letzter Woche als klei-
ne und wohl weitgehend spontane Manifes-
tation frustrierter Bürger in Bagdad be-
gann, hat sich längst zu einer Staatskrise
ausgewachsen: Von 104 toten und mehr als

4000 Verletzten bei den anhaltenden De-
monstrationen sprechen mittlerweile
selbst offizielle Stellen, die zunächst ver-
sucht hatten, die Ereignisse und die gewalt-
same Reaktion der Sicherheitskräfte eher
herunter zu spielen.
Als weder die Blockade des Internets,
noch eine am Donnerstag verhängte Aus-
gangssperre die Protestwelle verebben
ließ und international immer mehr Kritik
am Vorgehen der staatlichen Kräfte laut
wurde, suchte die Politik dann am Wochen-
ende die Nähe zu Protestierenden: Erst traf

sich eine Delegation des Parlaments mit 50
Abgesandten der Demonstranten, dann tat
Premierminister Adel Abdel Mahdi es ihr
nach. Die Forderungen, die sich die Berufs-
politiker anhören mussten, sind nicht neu,
schon oft haben sie versprochen, sie umzu-
setzen: Die Demonstranten verlangen eine
tief greifende Reform des Regierungssys-
tems, in dem nach wie vor Millionen Dollar
aus den Öleinnahmen des Landes versi-
ckern – die dann fehlen, um den Bürgern
grundlegende Dienstleistungen anzubie-
ten. Dass in einem der ölreichsten Staaten
der Welt immer wieder der Treibstoff aus-

geht und Strom oft nur stundenweise
fließt, ist nur eines von vielen Problemen.
Entzündet hatte sich der Protest auch
an der Wut vieler Menschen darüber, dass
ein Mann seinen Posten räumen musste,
der für einen anderen Irak stand: Bis vor
kurzem leitete General Abdul-Wahab al-
Saadi die „Golden Division“ genannte Elite-
einheit, die beim Kampf gegen den soge-
nannten Islamischen Staat eine zentrale
Rolle gespielt hatte. Al-Saadi galt als inte-
ger und unkorrumpierbar, vor allem aber
weigerte er sich, der sektiererischen Poli-
tik vieler Akteure zu folgen: Obwohl selbst
Schiit, stand er den schiitischen Volksmobi-
lisierungskräften sehr kritisch gegenüber


  • die Milizen waren für den Kampf gegen
    den IS gegründet worden und standen in
    Teilen unter iranischem Einfluss. Nach
    dem Sieg über die Terrormiliz sollten diese
    Einheiten in die Armee integriert werden,
    doch al-Saadi leistete Widerstand dage-
    gen, dass ihre Kommandeure zu einer
    noch stärkeren Macht im Staat werden.
    Das dürfte ihn den Job gekostet haben.
    Inzwischen ist auch die Stellung des Pre-
    miers gefährdet: Der Geistliche Muktada
    al-Sadr, dessen Partei bei der letzten Wahl
    stärkste Kraft wurde und dessen Anhän-
    ger zu den ersten gehörten, die nun de-
    monstrierten, forderte Mahdi zum Rück-
    tritt auf. Bislang hatte er dessen Regierung
    unterstützt, doch angesichts des „rück-
    sichtslosen Blutvergießens“ dürfe nie-
    mand schweigen, sagte er. Der einzige Aus-
    weg seien Neuwahlen unter Aufsicht der
    UN. In Bagdads Parlamentsbüros und Par-
    teizentralen wird seither hektisch getagt.
    Die Regierung versuchte in der Nacht zum
    Sonntag noch, die Lage mit einem sozialen
    Maßnahmenpaket zu beruhigen, sie will
    Wohnungen bauen und Arbeitslose fortbil-
    den. Doch solcherlei Ankündigungen ha-
    ben die Iraker schon oft gehört.


Madrid –Erwartungsgemäßhaben die re-
gierenden Sozialisten (PS) die Parlaments-
wahlen in Portugal mit großem Vorsprung
gewonnen. Somit dürfte Ministerpräsi-
dent António Costa im Amt bleiben. Ersten
Hochrechnungen zufolge erreichte die PS
38 Prozent der Stimmen, ein Plus von
knapp sechs Punkten gegenüber den Wah-
len von 2015. Sechs Punkte hinter der PS –
und damit wesentlich besser als erwartet –
lag die oppositionelle Sozialdemokrati-
sche Partei (PSD), die trotz ihres Namens li-
beralkonservativ ausgerichtet ist; auf euro-
päischer Ebene ist sie mit CDU und CSU
verbündet. Gegenüber 2015 hat sie fünf
Punkte eingebüßt.

Regierungschef Costa, der von Einwan-
derern aus der einstigen portugiesischen
Exklave Goa auf dem indischen Subkonti-
nent abstammt, bleibt somit in Europa der-
zeit der erfolgreichste Politiker aus der Par-
teienfamilie der Sozialisten und Sozialde-
mokraten. Allerdings lag die Wahlbeteili-
gung bei ganzen 52 Prozent.
Costa hatte bisher ein Minderheitskabi-
nett geführt, es stützte sich auf zwei linke
Fraktionen: den Linksblock (BE), der im
Nachbarland Spanien im Bündnis Unidas
Podemos seinen Partner hat, sowie die De-
mokratische Einheitsunion, ein Zusam-
menschluss von Kommunisten und Grü-
nen. Diese beiden Gruppierungen zogen

ebenfalls erneut ins Parlament ein, verlo-
ren aber beide an Stimmen: Der BE erreich-
te den Prognosen zufolge 7,5 Prozent, die
CDU knapp fünf Prozent. Wahlnachfragen
ergaben, dass ein Teil ihrer Wähler zur PS
Costas abgewandert ist.
Von der genauen Verteilung der Manda-
te, die erst für den Montagmorgen erwar-
tet wurde, hängt ab, auf wen Costa sein
künftiges Kabinett stützen kann. Die PS ist
zwar weit von der absoluten Mehrheit der
Mandate entfernt, doch kann keine Regie-
rung gegen sie gebildet werden, da ein Zu-
sammengehen der Linksgruppierungen
mit den konservativen Parteien ausge-
schlossen wird. Der konservative Oppositi-

onsführer Rui Rio bekundete zwar seine Be-
reitschaft, im Interesse der Stabilisierung
des Landes über eine große Koalition zu
verhandeln. Dies wäre ein Novum für Por-
tugal, doch gilt ein derartiges Kabinett als
unwahrscheinlich. Rechtspopulistische
Parteien spielen in Portugal keine Rolle.
Sozialistische Politiker sprachen am
Wahlabend von einem „großen Sieg“ und
kündigten eine „stabile Regierung“ an. In
Lissabon rechnen die meisten Kommenta-
toren mit einer Fortsetzung des bisherigen
Kurses, das würde bedeuten: Costas Min-
derheitskabinett macht ab und zu den
Linksextremen kleinere Zugeständnisse,
hält aber grundsätzlich am Kurs der wirt-

schaftlichen Sanierung fest. So hat Finanz-
minister Mário Centeno versucht, eine
schwarze Null im Haushalt einzuhalten, er
wird sie zum Jahresende mit einem zu er-
wartenden Defizit von 0,2 Prozent knapp
verfehlen. Allerdings fordern die linksex-
tremen Fraktionen ein milliardenschwe-
res Konjunkturprogramm. Dies jedoch
würde gegen die Vorgaben der EU versto-
ßen, die gemeinsam mit dem Internationa-
len Währungsfonds und der Europäischen
Zentralbank vor acht Jahren Portugal mit
einem Kreditpaket über 78 Milliarden Eu-
ro vor dem Staatsbankrott rettete. Deshalb
lehnt Centeno ein solches Programm ent-
schieden ab. thomas urban

DEFGH Nr. 231, Montag, 7. Oktober 2019 (^) POLITIK HMG 9
Staatskrise
im Irak
Nach mehr als hundert toten Demonstranten
verliert die Regierung in Bagdad an Rückhalt
Tel Aviv– 1,5 Milliarden Schekel, umge-
rechnet etwa 400 Millionen Euro, hat
das israelische Finanzministerium am
Sonntag an die palästinensische Autono-
miebehörde überwiesen. Diesen Betrag
hatte Israel in den vergangenen Mona-
ten an Steuern und Zöllen für die Paläs-
tinenser eingenommen. Weil der finan-
zielle Kollaps immer näher rückte, hatte
deren Präsident Mahmud Abbas seine
Weigerung aufgegeben, das Geld anzu-
nehmen. Auslöser des Streits war die
Ankündigung Israels, die Überweisun-
gen um etwa elf Millionen Euro pro
Monat zu kürzen. Das ist jene Summe,
die die Palästinenser nach israelischer
Darstellung an Familien von Attentä-
tern oder Gefangene überweisen, die in
Israel einsitzen. Die Israelis sehen in
dem sogenannten Märtyrerfonds einen
Anreiz, Attentate zu verüben. Die im
Gazastreifen regierende Hamas kriti-
sierte die Einigung vom Sonntag. afs
Pristina –Im Kosovo zeichnet sich ein
Regierungswechsel ab. Stärkste Kräfte
bei der Parlamentswahl am Sonntag
wurden Nachwahlbefragungen zufolge
mit je etwa 30 Prozent der Stimmen die
beiden Oppositionsparteien Vetevendos-
je und die Demokratische Liga des Koso-
vo. Beide waren mit dem Versprechen
angetreten, die Korruption zu bekämp-
fen. Die größte Partei des bisherigen
Drei-Parteien-Bündnisses, die Demo-
kratische Partei des Kosovo, landete
mit 22 Prozent auf Platz drei.reuters
Kiew– Mehrere Tausend Menschen
haben in Ukraines Hauptstadt gegen
die Einigung auf einen Sonderstatus für
die umkämpften Gebiete im Donbass
demonstriert. Dies sei eine Kapitulation
und ein zu großes Zugeständnis an
Russland, skandierten Protestierende
am Sonntag am zentralen Unabhängig-
keitsplatz. Zuvor hatten sich die Kon-
fliktparteien in Minsk auf die sogenann-
te „Steinmeier-Formel“ für die Gebiete
Donezk und Luhansk geeinigt. Die nach
dem deutschen Ex-Außenminister be-
nannte Formel regelt, ab wann die von
der Ukraine abtrünnigen Regionen
einen Sonderstatus erhalten. Zuerst
sollen dort Wahlen abgehalten werden.
Wenn dann die OSZE diese als gültig
einstuft, soll der Sonderstatus in Ukrai-
nes Verfassung verankert werden.dpa
Sozialisten gewinnen Parlamentswahl in Portugal
Ministerpräsident António Costa kann weiterregieren, wird laut Prognosen aber wieder die Unterstützung anderer Parteien brauchen
Auch am Samstag loderten in Bagdad noch die Feuer der Menschen, die gegen
Korruptionund Arbeitslosigkeit protestieren. FOTO: HADI MIZBAN/AP
Die stärkste Partei im Land
fordert den Premier zum Rücktritt
auf und verlangt Neuwahlen
Finanzstreit entschärft
Opposition vorn
Proteste in Kiew
AUSLAND
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hiervon sind händlereigene Mietfahrzeuge der Marke Audi, die in der Erstverwendung ü ber externe Mietwagengesellschaf-
ten wie bspw. Euromobil vermietet wurden. Detaillierte Hinweise finden Sie unter http://www.audi.de/jungegebrauchte
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Porsche, Bentley, Bugatti, Lamborghini) mit mindestens 4 Monaten ununterbrochener Zulassungsdauer auf Ihren Namen.
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