Handelsblatt - 07.10.2019

(Brent) #1

„ Sie werden mich nicht zerstören, und Sie


werden meine Familie nicht zerstören.“


Joe Biden, Präsidentschaftskandidat der Demokraten, kontert
die Angriffe von US-Präsident Donald Trump.

Worte des Tages


Migration


Seehofers


Einsicht


H


orst Seehofer ist kaum wie-
derzuerkennen, auch wenn
er versichert, ganz der Alte

zu sein. Ein neuer Mensch ist er


wahrscheinlich wirklich nicht ge-


worden – mit Sicherheit aber ein


besserer Minister: Er denkt jetzt


über den Alpenrand hinaus.


Im Sommer 2018 hätte Seehofer


mit seiner Forderung nach einseiti-


gen Zurückweisungen an der


deutsch-österreichischen Grenze


beinahe die Bundesregierung zu


Fall gebracht. Im Herbst 2019 übt


sich der frühere CSU-Chef in multi-


lateraler Krisenprävention. Statt na-


tionale Alleingänge zu verkünden,


verspricht er Hilfen für Partnerlän-


der, die „zu lange alleingelassen“


worden seien, vor allem Griechen-


land und die Türkei.


Sein ramponiertes Image wird


der Bundesinnenminister mit die-


ser Einsicht zwar kaum retten. Es


gilt die amerikanische Volksweis-


heit: „Man bekommt keine zweite


Chance, einen ersten Eindruck zu


machen.“ Womöglich aber kann der


selbstreformierte Seehofer einen


Beitrag dazu leisten, eine neue


Flüchtlingskrise zu verhindern.


Die Lage bleibt kritisch. Ja, in


Deutschland sinkt die Zahl der Asyl-


bewerber. Die von der Regierung


anvisierte Spanne von 180 000 bis


220 000 Menschen wird wohl deut-


lich unterschritten. Doch der Druck


auf die europäischen Außengren-


zen steigt wieder. Vor allem im öst-


lichen Mittelmeer. Die Türkei ächzt


unter den Lasten von mehr als vier


Millionen Flüchtlingen, die Regie-


rung gerät innenpolitisch immer


stärker unter Druck. Der Flücht-


lingspakt mit Ankara gerät ins Wan-


ken – und damit das zentrale Ele-


ment der europäischen Bemühun-


gen um Migrationssteuerung.


Es ist richtig, dass Seehofer nun


den Türken weitere Hilfen in Aus-


sicht stellt. Der Bürgerkrieg in Sy-


rien geht in eine neue Phase über.


Regimetruppen rücken auf die letz-


te Rebellenhochburg vor. Als sich


2015 der große Flüchtlingsstrom in


der Region abzeichnete, reagierten


die Europäer zu spät. Dieses Mal


sind sie gewarnt. Europa kann es


sich schon aus Eigennutz nicht leis-


ten, die Türkei im Stich zu lassen.


Der Bundesinnenminister hat
erkannt, dass Alleingänge in der
Flüchtlingspolitik ein Fehler sind,
sagt Moritz Koch.

Der Autor ist Senior


Correspondent.


Sie erreichen ihn unter:


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H


ast du einen Opa, schick ihn nach
Europa“: Der Spruch steht seit vierzig
Jahren symbolisch für den zweifelhaf-
ten Ruf der EU-Volksvertreter in
Deutschland. Inzwischen wird das
Europaparlament hierzulande zwar etwas ernster
genommen, was nicht zuletzt überzeugten Europä-
ern wie Martin Schulz oder Manfred Weber zu ver-
danken ist. Doch im Zentrum der medialen Aufmerk-
samkeit steht wie eh und je der Bundestag. Dabei
kann das deutsche Parlament schon lange nicht
mehr machen, was es will. Immer häufiger müssen
die Berliner Abgeordneten die Richtlinien umsetzen,
die in Straßburg verabschiedet wurden.
Das Europaparlament wird von seinen eigenen
Wählern sträflich unterschätzt. Im Zuge der diversen
EU-Vertragsreformen sind die 750 Abgeordneten aus
28 Staaten immer mächtiger geworden. Sie haben es
zum Beispiel in der Hand, ob die neue EU-Kommissi-
on fristgerecht am 1. November ihre Arbeit aufneh-
men kann. Ungeeignete Kommissarsanwärter darf
das Parlament aussortieren – und macht von diesem
Recht auch Gebrauch.
Mit den Befugnissen wächst die politische Verant-
wortung – und damit scheint das EU-Parlament der-
zeit überfordert zu sein. Ein Führungsvakuum kann
sich die EU gerade jetzt überhaupt nicht leisten.
Schließlich bleibt den Europäern nicht mehr viel
Zeit, um den Klimawandel und die digitale Revoluti-
on zu meistern und sich im Machtkampf mit den
Weltmächten USA und China zu behaupten. Wer
Kommissarsanwärter ablehnt und dabei womöglich
sogar den pünktlichen Start der neuen Kommission
gefährdet, muss dafür also sehr gute und für alle
nachvollziehbare Gründe haben.
Dieser Anforderung wird das Europaparlament
nicht gerecht. Was sich seit der letzten Europawahl
in Straßburg abspielt, ist sogar manchen Abgeordne-
ten peinlich. Die europäische Demokratie erlebt kei-
ne Sternstunden, sondern Schlammschlachten – so-
wohl zwischen den Parteien als auch zwischen den
europäischen Institutionen.
Es fing an mit dem unsäglichen Theater um die
Nachfolge von Jean-Claude Juncker. Das Europapar-
lament wollte unbedingt einen Spitzenkandidaten
als Kommissionspräsidenten durchsetzen, brachte
dann aber selber für keinen Kandidaten eine Mehr-
heit zustande. Womöglich würden sich die Fraktio-
nen heute noch streiten, wenn der Europäische Rat
nicht eingegriffen und Ursula von der Leyen nomi-
niert hätte.
Seitdem befindet sich ein Teil der EU-Volksvertre-
ter auf einem Rachefeldzug: gegen die Regierungs-

chefs und insbesondere gegen den französischen
Staatspräsidenten. Emmanuel Macron und seine Kol-
legen sollen dafür büßen, dass die Spitzenkandida-
ten scheiterten. Erst ließen die Abgeordneten ihren
Frust an Ursula von der Leyen aus: Bei der Wahl zur
Kommissionspräsidentin wäre die deutsche Christ-
demokratin beinahe durchgefallen. Nun ist die fran-
zösische Kommissarsanwärterin an der Reihe. Die
dreistündige Anhörung von Sylvie Goulard glich ei-
nem Spießrutenlauf, was keineswegs mit der fehlen-
den Qualifikation der Bewerberin zu tun hatte. Die
fachliche Eignung der viersprachigen Goulard für
das Amt bestreitet niemand. In Zweifel gezogen wur-
de ihre persönliche Integrität. Goulard musste sich
zum Beispiel vorhalten lassen, dass sie in ihrer Zeit
als Europaabgeordnete auf der Gehaltsliste des US-
Thinktanks Berggruen stand.
Dass eine Abgeordnete monatlich nebenbei
10 000 Euro kassiert, kann in der Tat verwundern.
Doch wer selbst im Glashaus sitzt, der sollte nicht
mit Steinen werfen. Lukrative Nebenjobs sind zwar
nicht die Regel im Europaparlament, doch sie kom-
men vor: Andreas Schwab und Angelika Niebler ver-
dienen als Anwälte nebenbei vierstellig, der Franzo-
se Geoffrey Didier sogar fünfstellig, um nur einige
Beispiele zu nennen. Bei Niebler kommen bezahlte
Aufsichtsratsposten hinzu. Das alles ist legal und
nachzulesen in den öffentlich zugänglichen finan-
ziellen Interessenerklärungen der Parlamentarier.
EVP-Mann Didier sitzt ausgerechnet in dem Gremi-
um, das sich in den vergangenen Wochen zur obers-
ten moralischen Instanz des Parlaments aufschwang:
Der Rechtsausschuss warf die Kommissarsanwärter
aus Ungarn und Rumänien wegen Korrumpierbar-
keit aus dem Rennen. Die hinter verschlossenen Tü-
ren und nach intransparenten Kriterien getroffene
Entscheidung sorgt im Parlament für erheblichen
Unfrieden. Manche vermuten, der Rechtsausschuss
habe seine Kompetenzen überschritten.
Insgesamt wirkt die EU-Volksvertretung orientie-
rungslos, zerstritten und erratisch. Starke Führungs-
persönlichkeiten, die für Fraktionsdisziplin sorgen
und parteiübergreifende Kompromisse schmieden,
fehlen. Ihr Machtbewusstsein hat die EU-Volksvertre-
tung allerdings nicht eingebüßt. Das Parlament müs-
se noch wichtiger werden und Vertrauen schaffen,
forderte der neue Parlamentspräsident David Sassoli
in seiner Antrittsrede. Wenn die Parlamentarier so
weitermachen, wird ihnen beides nicht gelingen.

Leitartikel


Keine Sternstunde


der Demokratie


Das Europäische
Parlament ist
mächtig wie nie,
wird der damit
verbundenen
Verantwortung
aber nicht immer
gerecht, findet
Ruth Berschens.

Dem Parla-


ment fehlen


eindeutige Kri-


terien für die


Bewertung der


Kandidaten


für die EU-


Kommission.


Die Autorin ist Büroleiterin in Brüssel.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]

Meinung

& Analyse

MONTAG, 7. OKTOBER 2019, NR. 192


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