Der Spiegel - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1
gangen, selbst zu verstehen, worin die An-
ziehungskraft der Gemeinschaft besteht.
Die Zeugen Jehovas wurden in beiden
deutschen Diktaturen verfolgt: In der
Nazizeit landeten 2000 Mitglieder in Kon-
zentrationslagern, 1500 wurden ermordet,
aber auch in der DDR waren die Zeugen
Jehovas seit 1950 verboten. Viele saßen
im Gefängnis, die verbliebenen Mitglieder
draußen mussten sich heimlich treffen.
Als Kind habe sie Briefe an die Brüder
und Schwestern im Osten geschrieben,
sagt de Velasco. Die Verfolgung schweißt
nach innen zusammen – und macht nach
außen immun gegen viele Angriffe. Kann
der, der Opfer ist, auch Täter sein?
Wer bei den Zeugen Jehovas aussteigen
will, kann dies tun, sieht sich aber fortan
meist damit konfrontiert, dass die anderen
ihn meiden. Als de Velasco ausstieg, mit
15, verlor sie ihre besten Freundinnen.
»Wenn ich heute von einer Party heim -
komme und ein bisschen einen im Tee
hab, google ich sie schon mal.« Schreibt
sie ihnen auch? »Das könnte ich nicht,
wenn ich mal einer begegne, fühlt sich
das an wie Täterkontakt.« Eine Retrau-
matisierung.
Es sei nicht leicht für ehemalige Zeugen
Jehovas, ihr Glaubenssystem zu verlassen
und in der Welt anzudocken, sagt de Ve-
lasco. Sie hat sich als Teenager an Punk-
rock und an Tierschutz geklammert, an
andere Glaubenssysteme gewissermaßen,
und als sie ein paar Jahre älter war, dann
an die Performances der Theatertruppe
Signa. Siebenmal hat sie mitgespielt. Die
Performer von Signa sind legendäre Wel-
tenbauer, ihre Performances begehbare
Filme, das Ziel: die totale Illusion.
Die Gruppe hat für eine Performance
schon mal eine Anstalt für Amnesiekranke
nachgebaut, in die sich Theaterbesucher
einweisen lassen konnten, auf Wunsch ta-
gelang. Alle privaten Dinge mussten sie
am Eingang abgeben, Uhren, Handys, Un-
terwäsche. Für eine andere Performance
richtete Signa ein Pflegeheim ein, in dem
angeblich tiefreligiöse Autisten wohnten
und den Theaterbesuchern den Weltunter-
gang prophezeiten.
Die Signa-Macher sind bekannt dafür,
ihre Arbeiten akribisch vorzubereiten. Je-
der Performer lebt am Ende des Proben-
prozesses seine Rolle, jeder weiß genau,
was er wann zu tun und zu sagen hat, wie
er am besten auf aufmüpfige Besucher der
Show reagiert, mit welcher Antwort er
welche Frage parieren kann. Besucher ge-
raten in ein fiktives System, in dem alles
unter Kontrolle ist, alles geskriptet. Ein ge-
schlossenes System. »Es ist wie bei den
Zeugen Jehovas«, sagt de Velasco.
Gleiches mit Gleichem bekämpfen – das
ist das Prinzip der Homöopathie. Für de
Velasco war es heilsam. Tobias Becker

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JÖRG REICHARDT

KEUNECKER / CARO / FOTOFINDER.COM

Autorin de Velasco, Versammlungsstätte in St. Ingbert 2006
Die totale Illusion

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