Der Spiegel - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1

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men, egal ob es fährt oder steht? Warum
werden Ampeln nach dem Bedarf der
Kraftfahrzeuge geschaltet und nicht nach
dem Bedarf derer, die zu Fuß oder mit dem
Rad unterwegs sind? Warum muss zu einer
Wohnung wie gottgegeben ein Stellplatz
gehören?
Es sind alte Gewohnheiten entstanden,
als die Stadtplanung das Ideal der »auto-
gerechten Stadt« erfand – für einen Men-
schen am Steuer, der es als sein Recht emp-
findet, ungehindert Stadt und Land zu
queren. »Niemand hat mir was zu sagen,
wie ich mein Leben führen soll«, schreibt
im Netz ein Mann, der einen kritischen
Zettel an seinem Auto fand. »Egal wie
groß mein Auto ist oder wie klein es ist,
es geht niemanden an.«
»Fridays for Hubraum« gibt dem Wider-
stand eine Adresse im Netz. Auf der Seite
geht es mal polemisch, mal brachial zu –
und schlimmer. Es gab Mordaufrufe gegen
Greta Thunberg und Vergewaltigungsfan -
tasien. Grau und seine Mitstreiter nahmen
die Gruppe deshalb zeitweilig vom Netz.
Ist es nur der übliche Verbalterror im
Internet? Oder droht da Schlimmeres?
Greta Thunberg und ihresgleichen lösen
heftige Gefühle aus in dieser Gesellschaft,
weil sie etwas verkünden, das wie eine
absolute Wahrheit klingt. Obwohl es ab-
solute Wahrheiten eigentlich nicht gibt.
Und wenn doch? Die Wissenschaft sagt,
dass bis 2030 die CO²-Emissionen deutlich
reduziert werden müssen, um eine globale
Klimaerwärmung von mehr als 1,5 Grad
zu verhindern. Die Wissenschaft sagt auch,
dass bis zum Jahr 2050 die Welt, die Men-
schen und ihre Industrien, überhaupt kein
CO²mehr freisetzen dürfen. Ansonsten
werde die Welt eine andere sein, eine ziem-
lich lebensfeindliche. Was sehr nach einer
absoluten Wahrheit klingt.
Eine Wahrheit, die die gesamte Art, wie
wir leben, infrage stellt. Den Kapitalismus,
das Wachstum, den Konsum. Diese Wahr-


heit besagt: Wir müssen eigentlich sofort
den Stecker ziehen, um die Welt zu retten.
Das Thema ist groß, es lässt sich nicht
verdrängen. Es geht nicht wieder weg.
Artensterben lässt sich nicht wegverhan-
deln. Einem Hochwasser sind Argumente
egal. Das Verdrängen hat jahrzehntelang
funktioniert, aber jetzt kommen Greta und
Konsorten und sagen: Ihr müsst! Ihr müsst
euer Leben ändern. Ihr müsst alles ändern!
Auf eine solche Wahrheit kann man auf
vielerlei Art reagieren. Man kann sagen,
Greta und ihresgleichen seien verrückt
und hysterisch. Halb so wild, der Klima-
wandel, es wird schon gut gehen.

Gretas Wahrheit dürfte füreinige eine
Bedrohung darstellen, die ihr Leben, ihre
Existenz infrage stellt, ihre tiefer gelegten,
getunten Autos genauso wie ihre Jobs.
Wer existenzielle Angst verspürt, neigt
vielleicht eher zur Empörung und Militanz
und Radikalität. Wer Angst hat, geht mög-
licherweise in Dresden auf Pegida-Demos
oder in gelben Westen auf die Champs-

Élysées. Wer Angst hat, sieht in einem
politischen Gegner eines Tages womöglich
einen Feind, der bekämpft, vielleicht sogar
vernichtet werden muss.
Eine andere Art von Reaktion, die Gre-
tas Botschaft bewirkt, zeigt sich in den libe -
ralen Milieus der Großstädte, sie zeigt sich
im tolerierenden Umgang vieler Schulen
mit den Freitagsdemos, in dem unterstüt-
zenden Verhalten von Eltern, in Medien-
berichten. Die fast alle sagen: Greta hat
recht. Alles müsse anders werden, sonst
habe dieser Planet keine Zukunft.
Es gibt kein Zurück mehr. Abstrakt ge-
sehen. Konkret gesehen, steht dann doch
der SUV vor dem Haus, oder die Flugreise
nach Florenz ist geplant.
Und dann sind da noch die Rigorosen,
diejenigen, die mit heiligem Ernst alles
richtig machen – einem Ernst, der bei man-
chem für besonderen Schrecken sorgt. Ist
da nicht der Boden bereitet für die Maß -
losigkeit, denken sie, für den Terror des
Guten, die Tugenddiktatur? Ist nicht zu
befürchten, dass gerade bei denen, die die
Menschheit retten wollen, auch die Bereit-
schaft wächst, den Weg ins Extremistische
zu gehen?
Ist es nicht, bisher jedenfalls nicht.
Schaut man derzeit auf die Jugendlichen
von »Extinction Rebellion« in Deutsch-
land beispielsweise (siehe Seite 46 ), dann
findet man engagierte, aber friedliche
Menschen vor.
Sie haben Konzepte, was nicht gesche-
hen darf. Und ihre Konzepte, was gesche-
hen müsste – radikal sind sie vielleicht,
aber gewaltfrei sind sie auch.
Die Wirtschaft geht unter, wenn wir auf
diese jungen Leute hören? Die Welt geht
unter, wenn wir es nicht tun, sagen sie.
Wer hört ihnen zu? Die Hälfte der Ge-
sellschaft? Der größere Teil? Wird der Kli-
mawandel den Riss vertiefen, der in den
westlichen Gesellschaften entstanden ist?
Christopher Grau von »Fridays for Hub-
raum« hat aktuell ein Problem. Denn viele
Mitglieder, berauscht von den Unterstüt-
zerzahlen, wollen nun auch den Methoden
ihrer Konkurrenten nacheifern – und de-
monstrieren. Auch in den Kommentarspal-
ten rufen Nutzer zu Aktionen auf: »Wir
müssen auf die Straße«, »auf nach Berlin«.
Grau hingegen will Demos unbedingt
vermeiden, selbst wenn seine Haltung Mit-
glieder kosten könnte. Das bringe nichts,
argumentiert er in seinem Video, und es
berge Gefahren. »Wir bieten Angriffs -
fläche«, sagt er. Erfahrungsgemäß würde
das »nicht ohne Stress und Schaden« ab-
laufen. »Wenn irgendeiner eine Demo ver-
anstaltet mit ›Fridays for Hubraum‹, bin
ich raus, dann hör ich auf.«
Lothar Gorris, Christoph Hickmann,
Marcel Rosenbach, Barbara Supp,
Gerald Traufetter, Severin Weiland

Was Deutschland umtreibt
»Machen Sie sich Sorgen, dass...?«

»...die gesellschaftlichen Gruppen immer weiter
auseinanderdriften?«

»...die Parteien auf drängende politische Fragen keine
gemeinsamen Antworten finden?«

an 100 fehlende Prozent: »weiß nicht«, keine Angabe
Quelle: Infratest dimap für ARD-Deutschlandtrend;
1014 Befragte am 3. und 4. September

»...der Klimawandel unsere Lebensgrundlage zerstört?«

83 % 16

76 23

74 23

wenig / gar keine Sorgen

sehr große /große Sorgen

LARS BERG / DER SPIEGEL
Facebook-Auftritt von »Fridays for Hubraum«: »Ich will keinen extremistischen Scheiß«
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