Der Spiegel - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1

Klima notstand ausrufen und die Wahrheit
über die ökologische Krise offenlegen, was
immer das heißt. Die Emissionen von
Treibhausgasen sollen, zweitens, bis 2025
auf null gesenkt werden. Die Regierung
muss, drittens, eine Bürgerversammlung
einberufen, die über Maßnahmen in Sa-
chen Klima entscheidet.
Das klingt utopisch, aber es geht um
ein Signal: dass man die Rettung der Erde
nicht mit Kompromissen erreichen kann.
Wie die Umsetzung einer Bürgerver-
sammlung im Detail aussehen soll, darü-
ber sind sich die Rebellen noch nicht einig,
es soll ein Anfang sein. Die Ausarbeitung
folge.
Inzwischen haben sich in einem offenen
Brief an die Bundesregierung auch deut-
sche Prominente zu den Forderungen und
dem geplanten Aufstand bekannt, darunter
Christian Ulmen, Bela B und Anna Loos.
Wenn ihr festgenommen werdet oder bei
einer Aktion eure Identität festgestellt wird,
macht keine Aussagen, die euch oder an-
dere belasten können. Am besten sagt ihr
gar nichts, bevor ihr nicht eine anwaltliche
Vertretung habt.
Die Rebellen in der Hamburger Altbau-
küche überlegen, wie sie zum Aufstand an-
reisen wollen: mit Flixbus, Bahn oder Mit-
fahrzentrale. Chrissy sagt, sie bringe ein
Viermannzelt mit. Jan sagt, das könne dann
ihr Basislager im Protestcamp werden. Ru-
heständlerin Anke sagt, die Zeiten, in denen
sie in Zelten übernachtet habe, seien wirk-
lich vorbei. »Ich schlafe bei einer Freundin.«
Mehrere Fragen stellen sich, wenn man
ihren Gesprächen folgt. Wie gelingt es ei-
ner jungen Bewegung, in so kurzer Zeit so
viele Menschen an sich zu binden, obwohl
sich ihre Aktionen am Rand der Illegalität
bewegen? Wann ist Rebellion eigentlich
gesellschaftsfähig geworden? Wie weit
darf, wie weit muss Protest gehen, wenn
alles auf eine globale Krise zuläuft?
Und wie wird man im Jahr 2019 eigent-
lich Rebell?


Mobilisierung,Kennenlern-Café,
20 Tage bis zum Protest

Der Einstieg in den Ungehorsam beginnt
manchmal ganz sanft, nach Feierabend, in
einem kleinen Galerieraum mit hohen De-
cken und Holzfußboden, bei leiser Musik
und Limonade. Der Raum füllt sich mit
einigen Studenten, Angestellten, Freibe-
ruflern, Mitte zwanzig bis Mitte fünfzig.
Jan Volkert-Ulrich, der 34-jährige Webent-
wickler aus der Oktopus-Gruppe, ist etwas
verspätet, er kommt gerade von der Arbeit
und sagt: »Ich muss auch gleich wieder an
den Schreibtisch.« Er beginnt sofort zu
mobilisieren: »Toll, dass ihr da seid«, sagt
er, schüttelt Hände, geht von Gespräch zu
Gespräch, »kommt alle nach Berlin.« Er
verteilt sogenannte Starterpacks, Rekru-


tierungsmaterialien, zusammengeheftet
unter einem grünen Deckblatt.
Darin erfährt man, dass »das Fortbeste-
hen dieser Zivilisation und das Leben un-
serer Kinder und Enkelkinder auf dem
Spiel steht«. Erste einfache Aktionen wer-
den vorgestellt, Flashmobs oder »urbane
Verschönerungen«. Und die zehn Prinzi-
pien der Bewegung sind aufgeführt, denen
sich jeder, der mitmacht, verpflichtet füh-
len soll: »4. Wir stellen uns selbst und un-
ser toxisches System infrage. 7. Wir über-
winden hierarchische Machtstrukturen.


  1. Wir sind ein gewaltfreies Netzwerk ...«
    »Jeder kann bei uns mitmachen«, sagt Jan,
    »auch ein SUV-Fahrer, sogar jemand, der
    gerne Steaks zum Frühstück isst – solange
    er oder sie sich an die Prinzipien hält.«
    Jan ist seit Februar dabei; in einer Orga -
    nisation, die in Deutschland erst seit An-
    fang dieses Jahres agiert, ist er eine Art
    Veteran. Er wirkt nicht besonders rebel-
    lisch, ist höflich, trägt bürotaugliche Stoff-
    hosen und einen sauber ausrasierten Bart.
    Gleichzeitig ist bei ihm eine innere Span-
    nung zu spüren, alles, was er sagt, hat eine
    Dringlichkeit. Für Extinction Rebellion
    verzichtet er auf Feierabende und Wochen-
    enden, seine Beziehung leide, sagt er. Er
    glaubt trotzdem, keine Wahl zu haben.
    Der Sommer 2018 habe etwas mit ihm
    gemacht, erzählt er. Als den zweiten Mo-
    nat in Folge der Regen ausblieb, als der
    Asphalt glühte und die Wälder brannten,
    da habe sich in ihm ein Gefühl ausgebrei-
    tet, dass etwas Grundlegendes nicht stim-
    me. Er fing an zu lesen, was Wissenschaft-
    ler über den Klimawandel schrieben: über
    die Veränderung des Jetstreams, über den
    Golfstrom, der sich verlangsamt. Er kam
    zu dem Schluss: »Wir sind auf dem Ab-
    marsch in eine beschissene Welt.«
    Diese Erkenntnis habe ihn deprimiert.
    »Ich habe konkrete Panik bekommen, zwei
    Wochen lang schlecht geschlafen und dann
    erst mal verdrängt.« Bis ihn ein Bekannter,
    der schon bei XR war, mit auf eine Demo
    von »Fridays for Future« nahm, die Straßen
    waren vereist. Zusammen mit tausend Schü-
    lern stand er vor dem Hamburger Rathaus
    und hielt ein XR-Schild hoch. »EUER PLA-
    NET STIRBT«, stand auf dem Schild. »Das
    fühlte sich wahnsinnig gut an«, sagt Jan.
    Wenig später entwarf er die ersten Pla-
    kate für XR, besetzte Straßen. Vergoss me-
    dienwirksam Blut, hergestellt aus Rote-
    Bete-Saft und Stärke. »Wir sind der Feuer -
    alarm, der dich nachts anplärrt: Raus hier,
    das Haus brennt!«, sagt er.
    Straße blockieren – Was du brauchst:
    Banner – breit wie die Straße; Menschen,
    die die Banner halten; Kuchen und Kekse
    für blockierte und verärgerte Fahrerinnen ...
    »Habt ihr schon den Mitmachzettel aus-
    gefüllt?«, fragt Jan zwei junge Frauen und
    reicht ihnen ein Formular, auf dem sie ihr
    individuelles Rebellenprofil erstellen sollen:


Könntest du dir vorstellen, an direkten,
gewaltfreien Aktionen von Extinction Re-
bellion teilzunehmen? Ja / Nein / Vielleicht.
Optional: Wäre das Risiko, bei Aktionen von
XR in Gewahrsam genommen zu werden,
für dich akzeptabel? Ja / Nein / Vielleicht.

Anheizen,Talk,
19 Tage bis zum Protest

Kurz vor der geplanten Großaktion am


  1. Oktober in Berlin verstärkt die Bewe-
    gung die Mobilisierung. XR bespielt Face-
    book, Instagram, YouTube und Twitter,
    sendet Newsletter, zeichnet Podcasts auf,
    stellt online Materialien zur Verfügung,
    Plakate, Sticker, Flyer zum Selbstausdru-
    cken, Onlineformulare zur Anmeldung für
    die Oktoberwoche. Ihre E-Mails unter-
    schreiben die Rebellen mit »Love & Rage«.
    Jeden Abend treffen sich Mitglieder, teil-
    weise an mehreren Orten gleichzeitig, sie la-
    den zu Vorträgen mit dem Titel »Aufstehen
    oder Aussterben« ein, »Talk« genannt, einer
    der wichtigsten Rekrutierungsmaßnahmen.
    Wer einmal den Talk gesehen habe, der
    könne nicht anders als mitzumachen, sa-
    gen die, die schon dabei sind. Der Talk soll
    so etwas wie das Streichholz sein, das die
    innere Rebellion entzündet.
    An diesem Abend hat ein Ingenieur aus
    Norderstedt zum Talk eingeladen. Etwa
    20 Zuhörer sind gekommen, die jüngsten
    Anfang zwanzig, die ältesten über siebzig.
    Es geht los mit einer Folge von Bildern
    und Fakten: In einer Powerpoint-Präsen-
    tation sind tote Korallenriffe zu sehen,
    landwirtschaftliche Monokulturen und das
    weltberühmte Foto vom Orang-Utan, der
    in einem ausgebrannten Urwald vor die
    Baggerschaufel gerät. »Der Rückgang der
    wild lebenden Wirbeltiere von 1970 bis
    2014 beträgt 60 Prozent«, tragen der Inge -
    nieur und seine Mitreferentin vor.
    Dann kommt Teil zwei. Titel: »Zeit zu
    handeln«.
    Aus der Packliste für Berlin: »Handtuch,
    Seife, Kohletabletten (helfen gegen Blähun-
    gen und Durchfall, gut bei langen Aktionen,
    wo keine Toilette in der Nähe ist), persön -
    liche Hygieneartikel, Menstruationsbinden
    (Vermeide die Verwendung von Tampons –
    bei einer Verhaftung gibt es möglicherweise
    keine Gelegenheit, sie zu wechseln.)
    Am nächsten Tag sitzt Jonas Dieckmann,
    der junge Vater aus der Oktopus-Gruppe,
    in seinem Wohnzimmer und erzählt, dass
    der Talk für ihn ein Wendepunkt gewesen
    sei. Bis dahin sei das Klima für ihn eines
    von vielen wichtigen Themen gewesen, ne-
    ben den Geflüchteten oder den Menschen-
    rechten. »Aber dann kristallisierte sich für
    mich heraus, dass letztlich all diese Dinge
    mit dem Klima zu sammenhängen«, sagt er.
    Dass Menschen wegen Dürren, schlechter
    Ernten und Naturkatastrophen auf der
    Flucht seien. Dass sich viele soziale Proble-


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Gesellschaft

DER SPIEGEL Nr. 41 / 5. 10. 2019
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