Der Spiegel - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1
UNABHÄNGIG. ÜBERPARTEILICH

2010 2013 2016 2019

1,6

1,3

3,2

2,5

1,0

1,8

0,8

1,4

Quelle: IVW

Q Bild am Sonntag
Q Bild (täglich Mo.–Sa.)

Bye-bye Print


Verkaufte Auflage
in Millionen,
jeweils 2. Quartal

SPIEGEL: Herr Reichelt, Sie haben gerade
ein Sparprogramm verkündet, 150 bis
200 Redakteure verlieren ihren Job. Nun
soll »Bild« zur TV-Marke werden. Dass
Fernsehen als Zukunftsmarkt galt, ist aber
schon eine Weile her.
Reichelt:Spekulative Zahlen kommentie-
ren wir nicht. Richtig ist, dass wir investie-
ren und »Bild« live auf die TV-Bildschirme
bringen wollen. 50 Millionen Deutsche se-
hen jeden Tag fern, das ist noch immer der
größte Massenmedienmarkt in Deutsch-
land. Da liegen Reichweiten und Erlöse,
die wir bisher unangetastet gelassen haben.
Die Realität unserer Branche ist doch: Die
Printerlöse schrumpfen rasant, im Digita-
len wachsen wir zwar mit Paid Content,
aber das ist weit entfernt von den Einnah-
men, die eine so große Redaktion wie
»Bild« braucht.
SPIEGEL: Der TV-Werbemarkt wächst seit
Jahren kaum mehr. Warum soll da noch
Platz für »Bild« sein?
Reichelt: Fernsehen ist ein Verdrängungs-
markt, aber mit 4,5 Milliarden Euro ein
extrem großer. Wir sind selbstbewusst ge-
nug zu glauben, dass es genug Menschen
gibt, die lieber das schauen, was »Bild«
zeigt, als etwas anderes.
SPIEGEL: Es gibt RTL, n-tv, Sat.1 und Hun-
derte andere Sender. Jede royale Hochzeit
wird bei ARD und ZDF übertragen. Was
kann Bild.tv, was andere nicht längst kön-
nen und machen?
Reichelt: Exklusive News zeigen und emo-
tionale Geschichten erzählen. Man kann
natürlich sagen, das bieten andere auch
schon. Die Wahrheit ist: Die meisten Fern-
sehsender machen das, was wir uns vor-
stellen, eben nicht. Aus dem brennenden
Amazonasgebiet, so wie wir zuletzt, sen-
det nicht jeder.
SPIEGEL: Vielleicht nicht mit acht Repor-
tern wie »Bild«, aber etliche Sender haben
durchaus direkt vor Ort berichtet.
Reichelt: Ja, aus dem Hotelzimmer. Aber
nicht mit mehreren Teams, die im bren-
nenden Regenwald stehen und mit Men-
schen reden, um die herum alles gerodet
wird. Ich habe nicht das Gefühl, dass es
diese menschliche Geschichte im Nachrich-
tenangebot gab. Was »Bild« einzigartig
macht: Wenn nötig, schicken wir zehn Leu-
te los, die innerhalb von 24 Stunden vor
Ort und sendefähig sind. Die brauchen
nicht erst Satellitenschüsseln, Übertra-
gungswagen, Maske und ewige Planungs-
konferenzen.


SPIEGEL: Wie soll Ihr Senderslogan lauten?
Reichelt: Vielleicht: Zeigen, was ist?
SPIEGEL: SPIEGEL TVgibt es aber schon.
Reichelt: Es ist ein Unterschied, ob man
es sich an die Wand schreibt oder ob man
es umsetzt. Ob das am Ende der Claim
wird, sei mal dahingestellt, aber wir wollen
das Land, die Welt, die Politik und den
Alltag der Menschen so zeigen, wie es die
Leute erleben, und nicht so steril und
weichgespült wie teilweise bei den Öffent-
lich-Rechtlichen.
SPIEGEL: Soll heißen: nicht so politisch
korrekt?
Reichelt: Ich glaube, dass es den Leuten
massiv auf die Nerven geht, wenn sie dau-
ernd erfahren, warum über manche Dinge

nicht berichtet wird, statt zu sehen, was
eigentlich passiert ist.
SPIEGEL: Haben Sie mal ein Beispiel?
Reichelt: Der Schwertmörder von Stutt-
gart.
SPIEGEL: Ein Migrant, der mit einem Sa-
murai-Schwert seinen Mitbewohner auf
der Straße erstach und mutmaßlich mit ge-
fälschten Papieren eingereist war.
Reichelt: Nachdem darüber in den über-
regionalen Nachrichten tagelang nicht
berichtet wurde, ist auch bei den Öffent-
lich-Rechtlichen angekommen, dass darin
poli tische Relevanz steckt. Aber es geht
nicht nur um Kriminalität und Migration.
Ich frage mich: Wo findet die Realität, die
wir auf der Seite 2 von »Bild« abbilden,
im Fernsehen statt? Etwa, dass Menschen,
die 40 Jahre gearbeitet haben, jetzt Fla-
schen sammeln müssen.
SPIEGEL: Bei RTL II. Oder bei Claus
Strunz im »Sat.1-Frühstücksfernsehen«.
Reichelt: Man kann den Erfolg des Früh-
stücksfernsehens ja auch als Bestätigung
sehen, dass dies funktioniert. Medien und
Politik haben das Gefühl für den Alltag
der großen Masse von Menschen in die-
sem Land verloren, von Mieten über Al-
tersarmut zu Kriminalität. Die Leute ha-
ben das Gefühl, sie werden nicht gehört.
Da sehe ich großes Potenzial.
SPIEGEL: Setzen Sie nicht eher auf Polari-
sierung, auf Krawall?
Reichelt: Ich würde sagen: auf Emotiona-
lisierung.
SPIEGEL:Tut die dem politischen und ge-
sellschaftlichen Diskurs gut?
Reichelt: Wer entscheidet denn das? Poli-
tiker? Gelehrte? Wir haben bei »Bild« in
den letzten Jahren Erfolg damit gehabt zu
zeigen, was in diesem Land los ist. Wir ha-
ben außen vor gelassen, welche erzieheri-
schen Botschaften das haben könnte. Da-
rauf erfahren wir eine gigantische Reso-
nanz. Das besonders emotionale Medium
Fernsehen passt dazu perfekt.
SPIEGEL: Was ist denn Ihr Ziel? Bild.tv
auf Platz 17 der Fernbedienung?
Reichelt: Platz 17 wäre schön. Wir gucken
uns verschiedene Szenarien an. Das Mini-
malszenario heißt Internetfernsehen. Oder
die große Version, also Kabel und Satellit
mit einer technischen Abdeckung von
90 Prozent der Haushalte. Wir wollen
aber, egal wo, kein klassisches lineares TV
machen, sondern eines mit der Optik und
Anmutung des YouTube-Zeitalters und
den technologischen Mitteln von 5G.
SPIEGEL: Für einen klassischen Sender
brauchten Sie eine Sendelizenz.
Reichelt: Ja, mit den technischen und
rechtlichen Fragen befassen wir uns gerade.
Aber die Marke »Bild« denkt nicht klein.
Wir sind ja auch nicht an jedem zehnten
Kiosk und auf jedem vierten Smartphone,
sondern wir sind an jedem Kiosk und auf
jedem Smartphone erreichbar.

68 DER SPIEGEL Nr. 41 / 5. 10. 2019

Medien

»Bitter, aber richtig«


Presse»Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt, 39, über das Spar -
programm des Springer-Verlags, TV-Pläne und die Zukunft der »BamS«

BERND VON JUTRCZENKA / PICTURE ALLIANCE / DPA

Journalist Reichelt
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