Der Spiegel - 05.10.2019

(Steven Felgate) #1

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Seid klug, macht Schluss


LeitartikelWarum die EU trotz allem zu einem Kompromiss mit Boris Johnson bereit sein muss


N


atürlich sträubt sich alles dagegen, natürlich will
man das nicht: das Brexit-Paket noch einmal auf-
schnüren, den Vertrag, der ein für alle Mal ausver-
handelt war. Noch einmal nach einem Kompro-
miss suchen, was ja heißt: zu Zugeständnissen bereit zu
sein, und das ausgerechnet jetzt, ausgerechnet mit diesem
britischen Premier, mit Boris Johnson, der Großbritannien
in eine Staatskrise gestürzt, die Gesetze verletzt, die
Queen hinters Licht geführt und das Parlament verhöhnt
hat. Natürlich will man ihm den Triumph nicht gönnen, die
Briten tatsächlich aus der EU zu führen.
Aber Trotz ist die falsche Haltung. Jetzt gilt es, kühl
abzuwägen, was für die EU das geringste Übel ist: ein
schwieriger Kompromiss oder eine weitere Verlängerung
der Brexit-Qualen, an deren
Ende immer noch ein Austritt
ohne Deal stehen könnte.
Boris Johnson hat der EU
einen Vorschlag gemacht, der
den entscheidenden Streit-
punkt mit der EU, die inneriri-
sche Grenzfrage, lösen soll.
Nach allem, was man darüber
weiß, ist es kein Vorschlag, den
Brüssel einfach so akzeptieren
könnte. Geschweige denn
Irland. Aber es ist ein Vor-
schlag, den die EU als Aus-
gangspunkt für ernsthafte
Gespräche akzeptieren sollte.
Johnson will den sogenannten
Backstop, die Notfallregelung,
die eine harte innerirische
Grenze verhindern soll, über-
flüssig machen, indem die Seiten sich schon jetzt einer
Lösung für das irische Problem nähern. Die EU würde, so
die Idee, auf den Backstop verzichten, dafür bliebe Nord -
irland vorläufig im EU-Binnenmarkt, nicht aber in der Zoll-
union. Für die Grenze müsste eine Lösung gefunden wer-
den, irgendwo zwischen freiem Warenverkehr und einer
harten EU-Außengrenze, vermutlich müsste man ein biss-
chen Grauzone zulassen.
Natürlich ist das keine gute Lösung. Aber was wäre denn
die Alternative? Wenn die EU hart bleibt, wird Johnson
um eine weitere Verlängerung der Austrittsfrist bitten müs-
sen, dazu hat das Parlament ihn verpflichtet. Und dann?
Ein weiterer Aufschub würde für die irische Frage gar
nichts bringen. Der irische Knoten ist schließlich kein Zeit-
problem, er ließe sich auch in drei Monaten oder drei Jah-
ren nicht besser lösen.
Ein Aufschub, so hoffen manche, könnte Großbritannien
Zeit geben für ein zweites Referendum. Die Briten würden
noch einmal abstimmen, dieses Mal aber mit dem richtigen
Ergebnis, und dann wäre alles wieder gut. Träumt weiter.

Es ist ja schon unklar, wie es überhaupt zu einem zweiten
Referendum kommen könnte. Wer da bisher auf die
Labour-Partei gehofft hatte, weiß es spätestens seit dem
Parteitag vor zwei Wochen besser. Und selbst wenn es ein
zweites Referendum gäbe und die Briten tatsächlich ihre
Entscheidung revidieren würden – das Land bliebe zutiefst
gespalten. Die Brexiteers würden sofort eine Dolchstoß -
legende verbreiten, Großbritannien in der EU – das bliebe
krisenhaft. Ein gespaltenes und gelähmtes Großbritannien
würde die Gemeinschaft auf Dauer blockieren.
Oder aber es käme zu Neuwahlen, und Johnson würde
mit einem Mandat ausgestattet, das Land in einen Brexit
ohne Deal zu steuern. Ausgerechnet jetzt, da in der EU das
Wirtschaftswachstum abflaut und Deutschland am Rande
einer Rezession steht. Ein Ende
im Streit würde das Verhältnis
zwischen den Briten und der
EU über die wirtschaftlichen
Folgen hinaus auf Dauer
beschädigen. Und nebenbei:
Ein No-Deal-Brexit wäre auch
für Irland die schlechteste
Lösung, er würde in jedem
Fall eine harte Grenze auf
der irischen Insel bedeuten.
Die EU sollte deshalb nicht
hart bleiben, sondern im eige-
nen Interesse noch einmal auf
die Briten zugehen. Angst
davor, dass der Brexit Nach -
ahmer findet, wenn sich Brüs-
sel zu nachgiebig zeigen sollte,
muss die Gemeinschaft schließ-
lich nicht mehr haben. Das
Bild, das Großbritannien in den vergangenen drei Jahren
abgegeben hat, die Krise von Staat und Parlament, inklusi-
ve der Gefahr eines Zerfalls des Vereinigten Königreichs,
dürfte eine ausreichend abschreckende Wirkung entfalten.
Nach mehr als zwei Jahren Verhandlungen und viel
Gewürge ist der Brexit unvermeidlich geworden. Es ist gut,
wenn er jetzt vollzogen wird. Eine Trennung im Guten bil-
det die Voraussetzung für ein vernünftiges Verhältnis in
der Zukunft. Die EU hat sich lange genug mit London und
seinen Eskapaden beschäftigt, der Brexit hat genug Auf-
merksamkeit, Ressourcen, Kraft gekostet, die Angst vor
dem Brexit hat die Union lange genug gelähmt. Die EU
braucht ihre Kraft für anderes: den beginnenden Wahl-
kampf in den USA, China, die Migrationsfrage, die Gefahr
einer Rezes sion, die Klimapolitik. Seid klug, macht
Schluss. Europa kann sich den Brexit-Wahnsinn nicht län-
ger leisten.Christiane Hoffmann

‣Lesen Sie auch auf Seite 54
Ein harter Brexit hätte viele Verlierer – und ein paar Gewinner.

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DER SPIEGEL Nr. 41 / 5. 10. 2019
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