Focus - 21.09.2019

(Joyce) #1
LEBEN

100 FOCUS 39/2019

P


lant man eine Südafrika-
Reise, steht Johannes-
burg meist auf dem un-
teren Teil der Wunsch-
liste, weit nach dem un-
schlagbar schönen Kap-
stadt, dem riesigen Kru-
ger-Nationalpark mit
seinen Wildtieren, der
zauberhaften Garden Route, dem pitto-
resken Städtchen Stellenbosch und dem
Strand von Durban. Die größte Stadt des
Landes gilt als unwirtlich, unübersicht-
lich und fürchterlich gefährlich. Sie hat
keinen Zugang zum Meer, die berühm-
ten Safari-Parks sind weit entfernt, und
sie kann sich nicht einmal Hauptstadt
nennen, denn die heißt Pretoria und liegt
direkt nebenan. Warum sollte man also
seine freien Tage an Johannesburg ver-
schwenden?
Viele Reisende betreten doch den Boden
der Stadt – aber meist nur am Flughafen,
ganz kurz, um dann schnellstmöglich an
einen der Bilderbuchorte zu gelangen.
Das ist ein Fehler. Planen Sie deshalb auf
dem Weg – wohin auch immer – einen
zweitägigen Aufenthalt in „Joburg“ ein.
Am Ende werden Sie wünschen, Sie hät-
ten mindestens vier Tage daraus gemacht.
Johannesburg leidet an einem veri-
tablen Imageproblem und ist dabei ganz
anders, als man gemeinhin denkt. Die
Menschen sind zuvorkommend und gast-
freundlich, und die Stadt ist überraschend
grün – derart grün, dass sich die Behaup-
tung hartnäckig hält, Johannesburg sei
der größte von Menschenhand angelegte
Wald. Je nachdem, wen man fragt und wo
man die Stadtgrenze zieht, wachsen zwi-
schen sechs und zehn Millionen Bäume
in Johannesburg, was angesichts all der
Gebäude und Straßen dazwischen zwar
noch keinen wirklichen Wald ausmacht,
aber für ein angenehmes Stadtbild sorgt.
Auch die Kriminalitätsrate ist niedriger
als befürchtet. Sie liegt deutlich unter der
von Kapstadt, was aber nicht bedeutet,
dass man sich nicht vorsehen sollte. Ach-
ten Sie einfach ein wenig mehr auf die
Umgebung, starren Sie nicht nachts allein
an einer unbelebten Straßenecke auf Ihr
Smartphone, und lassen Sie Ihre Wert-
gegenstände im Hotel, was in einer Stadt,

in der ein großer Teil der Bevölkerung in
Armut lebt, sowieso die Vernunft gebie-
tet. Und der Anstand vielleicht auch.

Erster Tag, Vormittag
Weil der Weg vom Flughafen zum Hotel
Sie noch nicht restlos von Johannesburgs
Vorzügen überzeugt haben dürfte, begin-
nen Sie Ihren Aufenthalt ganz klassisch
mit einer Stadtrundfahrt. In einem der
offenen roten Doppeldeckerbusse bekom-
men Sie schnell ein besseres Gefühl für
die Stadt, erkennen, dass die Gefahren
tatsächlich überschaubar sind, und haben
dabei den besten Blick auf Johannes-
burgs erstaunliche Architektur. Nach
dem Ende der Apartheid 1994 verließen
nämlich die meisten Unterneh-
men fluchtartig das Zentrum, sie
kehren erst seit einigen Jahren
langsam wieder zurück, was be-
deutet, dass in den vergange-
nen 25 Jahren nichts abgerissen,
instandgesetzt oder neu gebaut
wurde. Die Stadt hat sich archi-
tektonisch konserviert.
Man entdeckt alle möglichen
Baustile wie Neobarock, vikto-
rianischen Kolonialstil, Art déco,
Hochhäuser der 50er-, 60er- und
70er-Jahre sowie Postmodernes
aus den 80ern wie etwa das Haus
Nummer 11 in der Diagonal
Street, ein komplett verspiegel-
tes Gebäude, das aus jeder Perspektive an
einen geschliffenen Diamanten erinnert.
Die Bustouren von City Sightseeing
South Africa bieten zwei Routen an, die
man mit einer Tageskarte nach Lust und
Laune nutzen kann und die sich prakti-
scherweise kreuzen. Nehmen Sie die rote
Route, und legen Sie am Carlton Centre,
dem mit 223 Metern höchsten Wolkenkrat-
zer des Kontinents, einen Zwischenstopp
ein. Schauen Sie von unten nach oben.
Und dann von oben nach unten, wenn Sie
in den 50. Stock hinaufgefahren sind, um
den besten Blick über die gesamte Stadt
zu bekommen.
Nehmen Sie anschließend wieder den
Bus, der Sie an die Haltestelle Braamfon-
tein bringt, wo Sie sich vielleicht einen
Kaffee und eine Stärkung zur Mittagszeit
gönnen. Danach geht es wieder mit dem

Bus Richtung Constitution Hill, denn den
Nachmittag können Sie dort damit ver-
bringen, etwas über die Geschichte des
Landes zu erfahren.

Erster Nachmittag
Constitution Hill, der Verfassungs-Hügel,
wurde 1893 zunächst als Gefängnis eröff-
net, drei Jahre später in eine Militärba-
sis umgewandelt und 1902 dann wieder
„temporär“ zu einem Gefängnis erklärt –
die temporäre Phase währte allerdings
gut 80 Jahre. Mahatma Gandhi saß dort
1908 ein, weil er gegen das Passgesetz
protestierte, das allen Südafrikanern das
Wahlrecht nahm, die nicht europäischen
Ursprungs waren; Nelson Mandela saß

dort 1956 während des Treason Trial ein,
dem „Landesverratsprozess“, bei dem ihm
und anderen Aktivisten kommunistische
Umtriebe unterstellt wurden. Zwei Jah-
re später kam dort auch Winnie Madiki-
zela-Mandela nach Protesten gegen die
Passgesetze in Haft – und das ist nur ein
Bruchteil der prominenten Insassen. Wahr-
scheinlich gibt es auf der Welt kein zweites
Gefängnis, in dem so viele weltbekannte
Freiheitskämpfer weggesperrt wurden.
Inzwischen ist Constitution Hill der
Sitz des südafrikanischen Verfassungs-
gerichts, aus dem Ort der Unterdrückung
wurde einer der Befreiung. Die Gefäng-
nisse von damals sind heute Museen, auf
dem gesamten Gelände findet man zeit-
genössische südafrikanische Kunst, und
selbst den Sitzungssaal des Verfassungs-
gerichts können Besucher jederzeit betre-
ten. Nachdem Sie sich dort umgeschaut
und vielleicht eine Tour gebucht haben,
nehmen Sie erneut den Bus und lassen
sich am Apartheid Museum absetzen.
Rufen Sie sich dort kurz Ihre Hautfarbe
ins Gedächtnis, und nehmen Sie entwe-
der den Eingang für weiße oder den für
schwarze Menschen – und das ist erst der
Anfang, der einen mit der gebotenen

Wer zwei Tage in Johannesburg einplant, wird am


Ende wünschen, es wären vier gewesen


Sky-Line Der Telkom Joburg Tower ist mit
270 Metern das höchste Bauwerk Afrikas
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